Carl Reinecke
(geb. Altona bei Hamburg, 23. Juni 1824 - gest. Leipzig, 10. März 1910)
Konzert e-Moll für Harfe und Orchester
op. 182 (1884)
Vorwort
Das „Zeitalter des Virtuosen“ – d.h. das „lange“ 19. Jahrhundert von Beethoven bis Richard Strauss – war der Harfe nicht wohlgesinnt. Nicht, daß es dem Jahrhundert an Harfenvirtuosen fehlte: Das Instrument besaß sogar einen eigenen Liszt in der Gestalt des englischen Harfenisten Elias Parish Alvars (1808-1849), der nicht nur die Spieltechnik der Harfe revolutionierte, sondern auch etliche Dutzend Harfenkompositionen zustande brachte, die noch heute zu den technisch anspruchsvollsten gehören, die je für das Instrument geschrieben wurden. Auch mangelt es nicht an wunderschönen Harfenstimmen in den großen Orchesterwerken des Jahrhunderts: Man denke nur an das markante Harfensolo in der Symphonie fantastique von Berlioz (1830), an die feinfühlige Behandlung der Harfe im Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy (1892-94) oder die brillanten Solokadenzen in den drei großen Ballettpartituren von Tschaikowsky. Und dennoch: Trotz ihrer vielfach erwiesenen Tragfähigkeit als Soloinstrument weigerten sich die großen Meister des romantischen Instrumentalkonzerts – Chopin, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Brahms, Dvorák, Grieg, Tschaikowsky -, der Harfe ein Orchesterwerk zu widmen, das ihren Gegenstücken für Violine, Violoncello oder Klavier ebenbürtig gewesen wäre. Diese Aufgabe blieb den Komponisten der „zweiten Garnitur“ überlassen, eine Tatsache, der wir die Harfenkonzerte von Boieldieu, Lachner, Saint-Saëns und anderen zu verdanken haben.
Auf diesem Hintergrund ragt das Harfenkonzert e-Moll von Carl Reinecke als kühner und gewichtiger Beitrag zu einer sonst eher vernachlässigten Gattung hervor. Entstanden ist das Konzert im gleichen Jahre 1884, in dem der damals 60jährige Komponist die Ehrendoktorwürde der Berliner Kunstakademie erhielt. Dem Werk sind das Feuer und der handwerkliche Schliff zueigen, die von einem bewährten Komponisten der Mendelssohn-Nachfolge am Zenit seiner Kräfte zu erwarten ist. Beim ersten Blick scheint das Werk jedoch eher gegen als für das Instrument komponiert worden zu sein: Die Orchesterbesetzung sieht zwei Trompete, doppeltes Holz und nicht weniger als vier Hörner vor, die insgesamt das Ensemble zu einem wahrhaft ernst zu nehmenden Gegner der sonst eher süßlich veranlagten Harfe werden lässt. Auch scheint die Wahl der Haupttonart e-Moll die Harfe in die sonst ungewohnte Rolle des tragischen Protagonisten hineinzuversetzen. Reineckes Verdienst war es, das Soloinstrument triumphierend aus dem orchestralen Schlachtgetümmel hervorgehen zu lassen.
Wie bei so vielen virtuosen Instrumentalkonzerten des 19. Jahrhunderts fällt der Schwerpunkt des Harfenkonzerts e-Moll auf den ersten Satz, der beinahe so viel Raum wie die beiden anderen Sätze zusammen einnimmt. In einer dunklen und noch gestaltlosen Einleitung wird eine kurze, jedoch einprägsam punktierte Spielfigur eingeführt, die dem ganzen Werk als allgegenwärtiges rhythmisches Hauptmotiv dienen soll (eine Technik, die vorwiegend mit Robert Schumann in Verbindung gebracht wird). Dieses rhythmische Motiv dominiert auch im dramatischen Hauptthema, das zunächst vom Orchester vorgestellt und dann vom Solisten mit den quasi modalen Harmonien weitergeführt wird, die Brahms und Schumann im sogenannten „Balladen-Ton“ gerne einsetzten. Nach einem dramatischen Innehalten auf einem verminderten Septakkord (ein Kunstgriff, die im weiteren Verlauf des Werks mehrfach erscheint, um den Anfang eines größeren neuen Abschnitts anzukündigen) ertönt das liedhafte Seitenthema, das sich mit großer Wärme in der versöhnlichen Paralleltonart G-Dur ausbreitet, wobei das punktierte rhythmische Motiv jedoch nie ganz verschwindet. Nach einer weiteren Pause auf einem verminderten Septakkord führt eine kurze abschließende Apotheose von der Exposition in den Durchführungsteil hinüber.
Im Durchführungsteil sieht sich die Harfe zunächst vom aufgewühlten Orchestersatz beinahe verschüttet, bis sie langsam aber unaufhaltsam aufsteigt und eine Passage von maximaler Kontrastwirkung erreicht – eine durchsichtige, feenartige Musik für zwei Flöten und Harfe im besten Mendelssohn-Manier. In der Reprise kehrt das Hauptthema in einem noch dramatischerem Gewand mit kühnen zusätzlichen Modulationen zurück. Abermals nach einem Innehalten auf einem verminderten Septakkord erreichen wir das lyrische Seitenthema, das nun in der kontrastierenden Submediante C-Dur gehalten wird. Darauf folgt der wohl gewagteste Kunstgriff des ganzen Werkes: eine lange, spieltechnisch anspruchsvolle Solokadenz, die ein Drittel der Gesamtlänge des Satzes einnimmt. Diese Kadenz, die eine Paraphrase über alle bisher gehörten Themen und Motive darstellt, gliedert sich etwa in fünf Teile: (1) eine freie Phantasie über das thematische Rhythmusmotiv, (2) eine vollständige Wiederholung und Weiterführung des Seitenthemas, (3) eine auffallende Passage in kahlen Oktavparallelen, (4) ein ausgedehnter Abschnitt von virtuosen Arpeggi, die durch das rhythmische Hauptmotiv mehrfach vermischt wird und (5) eine üppige Begleitfiguration, die den klagenden Einsatz der Oboe und die Rückkehr des Orchesters untermalt – eine hinreißende Geste, die Mendelssohns Violinkonzert in der gleichen Tonart durchaus würdig wäre. Danach wird der erste Satz vom Orchester rasch zu einem befriedigenden Schluß geführt.
Der langsame Satz erscheint überraschend in der Tonart der Dominante H-Dur, die jedoch einer modernen Doppelpedalharfe mit Ces-Dur als Fundament sehr entgegenkommt. Der Satz besteht aus einer schlichten kirchenliedartigen, von einem entrückten Horn/Harfen-Duett eingeführten Melodie, die dann - von der Harfe mit kontrapunktischen Begleitfiguren liebevoll umschmeichelt - vom ganzen Orchester übernommen wird. Im kontrastierenden „Trio“-Teil wird mit sanfter Triolenbewegung die Haupttonart nach es-Moll versetzt, einer Tonart, die von der Haupttonart des Konzerts e-Moll denkbar weit entfernt ist. In der verkürzten Reprise des Anfangsthemas wird die Hymnenmelodie mit der Triolenfiguren aus dem Trio-Teil kunstvoll vereint, um dem Satz einen ruhig-gedankenvollen Schluß zu geben.
Beim Finale handelt es sich um ein pfiffiges Sonaten-Rondo, in dem die Solotrompete – oft in einem einprägsamen übermäßigen Sekundakkord auf der sechsten Tonstufe eingebettet – mit militärischem Beigeschmack eine wichtige Rolle übernimmt. Nach einer bewegten Einleitung, die die Hauptonart, die Grundstimmung und das thematische Rhythmusmotiv des Anfangssatzes wieder aufgreift, breitet sich das Hauptthema in den Violoncelli mit Mendelssohnscher Gewandtheit aus. In der ersten Episode besticht ein tänzerisches G-Dur-Duett für Harfe und Flöte als weiteres Beispiel dafür, wie Reinecke ein Soloinstrument aus dem Orchester durch die Harfe mit kammermusikalischem Zartgefühl begleiten läßt. Nach einer kraftvollen Wiederkehr des Hauptthemas erscheint eine zweite kontrastierende Episode, in der eine knappe vierstimmige Fuge in Staccati belustigend ertönt. In der weiträumigen Reprise werden die Themen des Finales miteinander verschränkt und in eine strahlende E-Dur-Apotheose verwandelt, gefolgt von einer Koda, die das Werk mit einer Fülle von Harfenarpeggi – einschließlich eines letzten absteigenden Glissandos mit frecher Sixte ajoutée – wohlklingend abschließen.
Gleich im Entstehungsjahr 1884 wurde das Harfenkonzert e-Moll vom Leipziger Verlag Bartholf Senff als Partitur veröffentlicht. In den darauf folgenden Jahrzehnten hat das Werk wiederholt das Interesse der großen Harfenvirtuosen geweckt, die nach einem gewichtigen Solostück als passendem Vehikel für ihre Spielkultur bei Orchesterkonzerten suchten. Die erste bedeutende Platteneinspielung lieferte 1962 der große baskische Harfenist Nicanor Zabaleta, gefolgt von weiteren Aufnahmen u.a. von Lily Laskine (1968), Catherine Michel (1978), Elsie Bedleem (2001) und Fabrice Pierre (2004). Eine maßgebende, von J. B. Weidensaul spieltechnisch hergerichteten Fassung der Solostimme erschien 1978 bei einem New Yorker Verlag.
Bradford Robinson, 2007
Aufführungsmaterial ist von der Fleisher Orchestral Library, Philadelphia zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München
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Carl Reinecke
(b. Altona nr. Hamburg, 23 June 1824 - d. Leipzig, 10 March 1910)
Concerto for Harp and Orchestra
in E minor op. 182 (1884)
Preface
The Age of the Virtuoso - meaning the ‘long’ nineteenth century from Beethoven to Richard Strauss - was not kind to the harp. Not that the period lacked for harp virtuosos: the instrument even had its very own Liszt in the person of Elias Parish Alvars (1808-1849), an English musician who revolutionised the technique of the harp and contributed dozens of compositions that still number among the most demanding things ever written for it. Nor is there any shortage of beautiful harp parts hidden away in the century’s great orchestral works, whether the striking solo in Berlioz’s Symphonie fantastique (1830), the sensitive writing throughout Debussy’s Prélude à l’après-midi d’un faune (1892-4) or the brilliant solo cadenzas in Tchaikovsky’s three great ballets. But despite its proven qualities as a solo vehicle, the romantic masters of the instrumental concerto – Chopin, Mendelssohn, Schumann, Liszt, Brahms, Dvorák, Grieg, Tchaikovsky - declined to favour the instrument with a work worthy of its counterparts for violin, cello or piano. This task was left to the compositional second rank, in consequence of which we have harp concertos by Boieldieu, Lachner, Saint-Saëns and lesser lights.
In this context, Carl Reinecke’s Harp Concerto in E minor by stands out as a bold and substantial contribution to an under-represented genre. Composed in 1884, the same year that the sixty-year-old composer received an honorary doctorate from the Berlin Academy of the Arts, it has all the fire and fluency to be expected of a fine composer in the Mendelssohn mould writing at the height of his powers. At first glance it seems almost to have been composed against rather than for the instrument: the orchestra calls for two trumpets, double woodwind and no fewer than four horns (making it a substantial adversary for the normally dulcet harp), and the choice of the dramatic key of E minor seems to cast the harp in a unwonted tragic role. It is to Reinecke’s great credit that the solo instrument manages to emerge victorious and magnified from the mêlée.
’ment in Reinecke’s Harp Concerto falls on the first movement, which is almost as long as the other two movements combined. It opens with a dark and inchoate introduction that presents, as it unfolds, a curt but striking dotted figure that will function throughout the piece as a persistent thematic rhythm (a device most notably associated with Schumann). This motif dominates the dramatic first theme, which is initially stated by the orchestra and then taken up by the harp with those quasi-modal harmonies favoured by Brahms and Schumann in what they called the ‘Balladen-Ton’. After a dramatic pause on a diminished-seventh chord (a device used several times throughout the work to foreshadow a large sectional division), we enter the song-like second theme, which is elaborated with great warmth in a conciliatory G major (note, however, the continued presence of the dotted rhythm!). Another pause on a diminished seventh ushers in a brief concluding apotheosis before we leave the exposition and enter the development section.
Here the harp finds itself almost engulfed in turbulent orchestral counterpoint, only to rise slowly but ineluctably to a passage of maximum contrast: diaphanous, elfin-like music for two flutes and harp in the best Mendelssohnian vein. The recapitulation restores the first theme in an even more dramatic guise, enriched with bold modulations. Again after a pause on a diminished-seventh chord we are led to the lyrical second theme, now set in the submediant key of C major. There then ensues what is perhaps Reinecke’s boldest stroke - a long virtuoso cadenza that occupies a full third of the movement’s length. This cadenza, an extended peroration on the movement’s themes and motifs, falls roughly into five sections: 1) a free fantasy on the thematic dotted rhythm, 2) a full statement and developmental continuation of the second theme, 3) a striking passage in stark parallel octaves, 4) an extended section of virtuoso arpeggiated chords interspersed with statements of the dotted motif, and 5) a luscious figurative texture to accompany the plaintive entrance of the oboe and the return of the orchestra - an exquisite gesture worthy of Mendelssohn’s Violin Concerto in the same key. The movement is then brought swiftly to a satisfying close by the orchestra.
The slow movement is set, surprisingly, in the dominant B major, a key highly accommodating to the modern double-action harp with C-flat as its open key. The movement consists of a straightforward hymn-like theme wonderfully introduced as a harp-horn duet before passing to the full orchestra, garlanded with elaborate counter-melodies from the soloist. A contrasting ‘trio’ section in triplet motion transports us to E-flat minor, a key remarkably remote from the concerto’s tonic key of E-minor. In the truncated reprise of the hymn theme the opening melody is artfully combined with the triplet figures from the trio section to form a ruminative close.
The final movement is a snappy sonata-rondo in which an important role (with military overtones) is given to the solo trumpet, often couched parenthetically in a distinctive third-inversion augmented-sixth chord. After an agitated introduction that restores the key, mood and thematic rhythm of the opening movement, the first theme luxuriates in the cellos with Mendelssohnian suavity. The first contrasting episode features a lilting harp-and-flute duet in G major - another instance in which Reinecke has the harp accompany a solo orchestral instrument with chamber-like delicacy. The main theme returns in force, after which a second contrasting episode treats us to a comically terse fugue in four staccato voices. In the spacious recapitulation the movement’s themes are combined and transformed in a glowing E-major apotheosis, and the piece ends in a rich profusion of arpeggios from the harp, including a final descending one with an insouciant added sixth.
In 1884, the year of its origin, Reinecke’s Harp Concerto was published in full score by the Leipzig firm of Bartholf Senff. Since then it has repeatedly attracted great harpists looking for a substantial solo piece with which to showcase their art in orchestral concerts. The first major recording was by the great Basque harpist Nicanor Zabaleta (1962), since which time it has been recorded inter alia by Lily Laskine (1968), Catherine Michel (1978), Elsie Bedleem (2001) and Fabrice Pierre (2004). A standard version of the solo part, edited by J. B. Weidensaul, was published in New York in 1978.
Bradford Robinson, 2007
For performance material please contact the publisher Fleisher Orchestral Library, Philadelphia. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.
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