Michail Ivanovich Glinka
(geb. 20. Mai [1. Juni] 1804, Nowospasskoje/Smolensk — gest. 3. [15] Februar, Berlin)
Walzerfantasie
Vorwort
Mikhail Glinka, der heute gemeinhin als Vater der russischen Kunstmusik gilt, wurde 1805 als Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers auf dem elterlichen Landgut Novospasskoe im Gouvernement Smolensk geboren. Durch die geographische Entlegenheit seiner Kinderjahre lernte er zunächst nur wenige Musikrichtungen kennen, vor allem das dörfliche Glockengeläut und die Bauernlieder, die auf seine spätere musikalische Weltanschauung einen maßgebenden Einfluß ausüben sollten. Ab dem 13. Lebensjahr genoß er eine weitaus weltoffenere Schulbildung in St. Petersburg, wo er auch seinen ersten Musikunterricht erhielt. Daraufhin unternahm er 1830 zusammen mit dem Tenor Iwanow eine erste Italienreise und liess sich in Mailand nieder, wo er seine musikalische Ausbildung am dortigen Konservatorium fortsetzte. Auf die Nachricht über den Tod seines Vaters kehrte er 1836 nach Rußland zurück, wobei er weitere fünf Monate in Wien und Berlin verbrachte.
Vor der Rückkehr Glinkas wurde das Musikleben Rußlands vorwiegend durch italienische Komponisten wie Domenico Cimarosa und Giovanni Paisiello bestimmt und die sehr vitale Volksmusik eher mißachtet. Durch seine enttäuschenden Erfahrungen mit der italienischen Musikwelt wurde sich Glinka seines Ziels bewußt: das in Italien Erlernte mit seinen russischen Wurzeln zu verbinden. Mit seinem Opern-Erstling Iwan Sussanin (auch als Ein Leben für den Zaren bekannt) aus dem Jahr 1836 nahm er die westliche Gattung der Oper für ausschließlich russische Zwecke in Anspruch, mit einem betont russischen Sujet und unter Einbeziehung der russischen Folklore.
Wohl als Ergebnis seiner italienischen Wanderjahre, bei denen er auch die Freuden des Großstadtleben genoss, machte Glinka aus seinen Beziehungen zu attraktiven jungen Damen keinen Hehl. Folglich war es auch eine seiner jungen Gefährtinnen - Yekaterina Kern -, für die er 1839 die Walzerfantasie für Klavier komponierte (das Liebesverhältnis nahm bereits 1846 ein Ende). Die Orchesterbearbeitung des Klavierstückes wurde 1845 für einen Pariser Konzertabend angefertigt. Obwohl die betreffende Partitur mittler-weile verschollen ist, hat Glinka 1856 das Werk, das oft auch als Schwermut-Walzer oder Pawlowsk-Walzer (nach dem Entstehungsort) bezeichnet wird, erneut für Orchester bearbeitet. Zunächst genoß das Stück beim Publikum einen ausgesprochenen Erfolg, der sicherlich durch seine gekonnte Aneinanderreihung anziehender, melancholisch-empfindsamer Melodien begründet ist. Die Walzerfantasie schlägt einen charakteristischen Wiener Tonfall an und bietet zudem eine Reihe von Themen, die alle mit der sich ritornellartig wiederholenden Ausgangsmelodie in Verbindung stehen. Auf die kurze Einleitung, die einen Vorgeschmack des Grandiosen vermittelt, folgt das einprägsame Ausgangsthema, das trotz des Vortragszeichens dolce einen klagenden und gedanken-vollen Charakter beibehält. Dieser Anklang russischer Melancholie dürfte auch mit den Unruhen in Glinkas Privatleben zusammenhängen, als er sich 1839 von seiner Ehefrau endgültig trennte. Trotz der melancholischen Grundstimmung ist der Walzer jedoch alles andere als düster, denn er enthält eine Vielzahl tanzartiger Pizzicato-Effekte und kantiger, scherzoartiger Motive, die alsbald von schlichten, diatonisch aufgebauten Melodien im Gesangsstil gefolgt werden, die dem Werk zahlreiche Augenblicke spielerischer Abwechslung verleihen.
Im Verlauf des Werkes arbeitet Glinka gekonnt mit dem riesigen Orchesterapparat, indem er zwischen einer dichten, aufwendigen Orchestrierung und feinsinnigen, nachdenklich gestimmten, zugleich energischen und eindringlichen Klangmomenten hin und her pendelt. Die scheinbar widersprüchlich kontrastreiche Fantasie spiegelt Glinkas Hauptanliegen unmittelbar wider: die westlichen Kunstformen mit dem russischen Kulturverständnis in Einklang zu bringen. Indem er eine unverwechselbar russische Kunstform gründete, erreichte Glinka einen internationalen Ruhm, der dadurch entstand, daß er sowohl westliche als auch östliche Einflüsse symbolhaft miteinander verband. Um eine internationale Tragweite zu erzielen, brauchte Rußland schon seit langem eine Leitfigur von nationaler Bedeutung, die diese Lücke zu füllen verstand. Ein gewisser Kompromiß - oder wenigstens eine Auseinandersetzung - mit den westlichen Maßstäben war wohl notwendig, um eine solche Wirkungskraft zu erreichen. Glinka war als erster russischer Komponist mit den führenden Musikerpersönlichkeiten des westlichen Europas persönlich bekannt, was ihm nicht nur zu größerer Akzeptanz im internationalen Rampenlicht verhalf, sondern auch zum Vorbild für spätere Generationen russischer Komponisten kürte. Vierzig Jahre später sprach Tschaikowsky von der Orchesterfantasie Kamarinskaja (1848): «Die ganze russische symphonische Schule ist in der Kamarinskaja enthalten, ebenso wie der ganze Eichbaum auch in der Eichel enthalten ist.» Tatsächliche stellt die Walzerfantasie einen bedeutenden Meilenstein dar, der die Ansätze der russischen Kompositionsschule zu einem noch höheren Leistungsniveau trieb und vieles von der Tanzmusik Tschaikowskys vorwegnimmt. Das Werk begründete eine musikalische Ideologie, die schließlich auch von den fünf großen russischen Komponisten des «Mächtigen Häufleins» übernommen wurde und den verbreiteten, wenn auch unausgesprochenen Mythos der Minderwertigkeit des «Anderen» oder «Außenstehenden» zerschlagen sollte.
Übersetzung: Bradford Robinson, 2007
Aufführungsmaterial ist von der Breitkopf und Härtel,Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.
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Mikhail Ivanovich Glinka
(b. 20 May [1 June] 1804, Nowospasskoje/Smolensk — d. 3 [15] February, Berlin)
Waltz Fantasia
Preface
Mikhail Glinka was the son of a wealthy land owner, born on his father’s estate in the village of Novospasskoye, Smolensk, Guberniya in 1805 and is now principally regarded as the father of all Russian art music. The remote location of his childhood years exposed Glinka to limited musical sources, namely the village church bells and peasant songs, which were to have a profound effect upon his musical philosophy later in life. Following a more cosmopolitan education in St Petersburg from the age of thirteen, where Glinka’s musical instruction was first set in motion, he embarked on his first trip to Italy with tenor Ivanov in 1830, settling in Milan where his lessons were continued at the conservatory. It was the news of his father’s death that brought Glinka back to Russia in 1836 following a further five months in Vienna and Berlin. Until his return, Italian composers such as Domenico Cimarosa and Giovanni Paisiello had dominated Russian musical life, and the lively indigenous folk culture had been principally ignored. Disillusioned by his experience of the Italian music scene, Glinka became conscious of his objective to combine what he had learned in Italy with his Russian roots. His first opera A Life for the Tsar (1836), successfully appropriated the Western operatic genre for exclusively Russian means complete with a Russian subject and the inclusion of Russian folk idioms.
Perhaps due to his Italian years where he would frequent the social gatherings of the city, Glinka made no secret of his attraction younger women and it was a young companion of his – Yekaterina Kern – for whom he originally wrote Waltz Fantasia for piano in 1839 (although their affair only lasted until 1846). The piano work was orchestrated for a Parisian concert in 1845 and, although this score has been lost, it was reorchestrated by Glinka in 1856. Commonly known as the Melancholic Waltz or Pavlovsk Waltz (a result of the location of composition), it was initially very popular with the public. This widespread endorsement is almost certainly indebted to the succession of attractive melodies edged with a melancholic sensitivity. The Waltz Fantasia is characteristically Viennese in style, offering a series of themes, united by the opening melody, which is treated as a recurring refrain. The brief introduction provides a taste of the grandiose prior to the lingering first theme introduced by the violins, which – although marked dolce – retains a mournful and introspective character. This touch of Russian melancholy may well also convey the autobiographical tumult Glinka was experiencing as he permanently separated from his wife in 1839. Nonetheless, despite this air of melancholy, the waltz is far from gloomy as it is replete with dance-like pizzacato strings and quasi-scherzo angular subjects repeatedly answered by simple song-like melodies in stepwise movement, all providing copious moments of playful relief.
Throughout the entire Fantasia, Glinka manipulates the huge orchestra, oscillating between instants of dense, ostentatious orchestration and more refined, pensive moments, simultaneously both spirited and haunting. This seemingly oxymoronic Fantasia of bounteous contrasts directly mirrors Glinka’s greatest ambition – to coalesce Western art forms with Russian cultural consciousness. Through this establishing of a uniquely Russian art form, Glinka raised his eminence to that of international repute by emblematically integrating both Western and Eastern influences. In order to obtain an international significance, Russia had been in need of an iconic national figure to satisfy this vacuum and a certain compromise – or at least inclusion – of Western standards was necessary in order to accomplish such impact. Glinka was the first Russian composer who was personally acquainted with the major musical figures in Western Europe, aiding this acceptance onto the international stage as well as serving as a model for further generations of Russian composers. It was Tchaikovsky who, forty years later, said of Glinka’s fantasy for orchestra Kamarinskaya (1848): “All of the Russian Symphonic School is contained in Kamarinskaya, just as the whole oak is in the acorn.” Indeed, Glinka’s Waltz Fantasia surely is a significant landmark that undoubtedly demonstrates the beginnings of propelling the Russian compositional approach to a more inspirational height, prophesying much of Tchaikovsky’s dance music, establishing a musical ideology that would be assumed by the great ‘five’ Russian composers of the 19th-century and, ultimately, dispelling the familiar myth that the classification of the ‘Other’ or the ‘Outside’ is the tacit equivalent of inferior.
Rachel Foulds, 2007
For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.
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