Robert Schumann
(geb. Zwickau, 8. Juni 1810 – gest. Endenich, 29. Juli 1856)

Missa Sacra, Opus 147
für Solostimmen, Chor und Orchester (1852)

Vorwort
Ein weit verbreitetes Klischee sieht den romantischen Künstler als ein Gefäß göttlicher und weitgehend unkontrollierter Eingebungen. Doch Robert Schumann—ein Romantiker in vieler Hinsicht—entwickelte seine schöpferische Laufbahn mit einer beinahe ans Unheimliche grenzenden Systematik. In konzentrischen Zirkeln erarbeitete er sich die wichtigen Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik seiner Zeit. Ausgehend von Charakterstücken für Klavier (die er in in Zyklen zusammenschloss) in den 1830er Jahren, über Lieder (die er wiederum in Zyklen und Liedsammlungen geordnet veröffentlichte), Symphonien, Kammermusik und weltliches Oratorium in den frühen 1840er Jahren, drang er, indem er durch sein Vorgehen kompositorische Sicherheit gewann, in seinen letzten Jahren zu Oper und Kirchenmusik vor.

Schumanns Wendung zur geistlichen Musik im Frühjahr 1852 (in diesem Jahr entstanden die Missa sacra, Opus 147, und das Requiem, Opus 148) war in der Tat eine Überraschung. Er war eigentlich kein Kirchgänger, und sein Oeuvre war bis dahin weitgehend weltlicher Natur. Vielleicht sollte man die eben genannten Kompositionen in Zusammenhang mit Schumanns Streben nach großen Werken in seinen letzten Jahren bringen, wie es Arnfried Edler tut. Anfang der 1850er Jahre plante er ein Luther-Oratorium im populären Stil, das politische und geistige Fragen der Gegenwart, die durch die gescheiterte Revolution von 1848-49 ins Bewusstsein gedrungen waren, durch Rückgriff auf den großen Reformator zu thematisieren versuchte, dessen Leben und Schriften Revolutionären und Konservativen gleichermaßen ein Vorbild war. Das märchenhafte Oratorium Der Rose Pilgerfahrt (1851) ist vielleicht doch allzu sehr häuslichem Musizieren verhaftet, als dass es als “großes Werk” gelten kann. Doch die Szenen aus Goethes Faust (1844-53)—in mancher Hinsicht Schumanns Beitrag zur Goethe-Zentenarfeier des Jahres 1849 (ein sehr öffentliches Ereignis in deutschen Landen)—kommt einem monumentalen Oratorium sehr nahe: hier vereint Schumann individuelle Szenen aus Goethes Drama mit Blick auf das semi-religiöse Motiv der Erlösung. Während die Faust-Szenen trotz religiöser Aspekte der musikalischen Gattung des weltlichen Oratoriums zuzurechnen sind, unternahm Schumann eindeutig den Schritt in die geistliche Musik mit seiner Missa sacra und dem Requiem, und er tat dies, indem er lateinische Texte der katholischen Liturgie vertonte.

Schumanns Wendung zur Kirchenmusik ist natürlich auch biographisch bedingt, nämlich durch seinen Umzug vom vorwiegend lutherischen Sachsen ins vorwiegend katholische Rheinland. Im Jahre 1850 nahm er einen Ruf als Musikdirektor in Düsseldorf an, der ihn vertraglich unter anderem verpflichtete, zwei oder dreimal im Jahr mit großen Werken in katholischen Kirchen aufzutreten. Und vielleicht hofften die Stadtväter auch, dass ein Komponist von Schumanns Statur seinerseits einen Beitrag zur Kirchenmusik in ihrer Stadt leisten würde. Der spiritus loci des Rheinlandes wirkte sich positiv sowohl auf den Dirigenten als auch auf den Komponisten aus. Schumann probte und dirigierte Bach’s Johannespassion und H-moll-Messe mit den Düsseldorfer Kräften, und er schrieb seine dritte Sinfonie (die “Rheinische”), in der Jovialität und Ausgelassenheit mit Feierlichkeit abwechseln (der vierte Satz der Sinfonie ist vielleicht unter dem Eindruck einer Kardinals-erhebung im Kölner Dom entstanden). Die Schumanns wurden in Düsseldorf mit Freuden begrüßt—jedenfalls zu Anfang; dann aber stellten sich Unstimmigkeiten ein, die auf Kommunikationsschwierigkeiten Schumanns bei Proben und Konzerten zurückgingen (Vorboten der geistigen Erkrankung des Komponisten), und Schumann befand sich bald in einer persönlichen und beruflichen Krise. Es ist möglich, dass Schumann den Düsseldorfern mit Werken entgegenkommen wollte , die ganz spezifisch für katholische Hörer komponiert wurden, denn Missa und Requiem entstanden in der schwierigsten Zeit seiner Düsseldorfer Jahre. Zu einer vollständigen Aufführung beider Werke kam es zu Lebzeiten des Komponisten nicht. (Teile der Messe wurden allerdings von Schumann 1853 in einem Düsseldorfer Konzert aufgeführt.)

Es ist Clara Schumann zu verdanken, dass es wenige Jahre nach Schumanns Ableben zur Uraufführung und 1862 bzw. 1864 zur Veröffentlichung der Werke mit Opusnummern kam. Schumann würde kaum protestiert haben, wenn seine Stücke als Teil der gottesdienstlichen Liturgie aufgeführt worden wären, doch mit großer Wahrscheinlichkeit hielt er den Konzertsaal für den geeignetsten Ort zur Aufführung seiner geistlichen Kompositonen.

Schumanns Missa sacra erfordert einen vierstimmigen gemischten Chor (der in der Tat den Löwenanteil bei der Ausführung des Werkes hat), drei Solisten (Sopran, Tenor und Bass) und Orchester (Streicher, doppelte Holzbläser, doppelte Blechbläser, drei Posaunen, Pauken und Orgel). Schumann, der sehr viel Erfahrung im Umgang mit Chören hatte, zeigt ungewöhnliche Imagination und kompositionstechnische Kunstfertigkeit im Chorsatz: von homophonen Blöcken bis zum imitierenden Kontrapunkt reicht seine Palette. Besonders bemerkenswert sind die Fugen, mit denen er “Gloria” (Et cum sancto spirito), “Credo” (Et vitam venturi) und “Sanctus” (Amen) abschließt. Der intimste (und vielleicht schönste) Satz ist das “Offertorium” (im März 1853 komponiert) für Soprano-Solo und obligates Violoncello (Tota pulcra es, Maria), das er zwischen “Credo” und “Sanctus” einschiebt. Das “Sanctus” wird allgemein als Höhepunkt der Missa sacra angesehen. Schumann weicht hier von der liturgischen Norm ab, indem er ein Bass-Solo (O salutaris hostia) nach dem Benedictus einfügt und den Sanctus-Text statt des üblichen Osanna wiederholt. Dann folgt die schon erwähnte Amen-Fuge zum Schluss. Die Sätze stehen in eng verwandten, symmetrisch angeordneten Tonarten: C-moll und C-Dur (“Kyrie” und “Gloria”), Es-Dur (“Credo”), As-Dur (“Offertorium” und “Sanctus”) und C-moll (“Agnus dei”) mit Aufhellung nach C-Dur gegen Ende.

Jürgen Thym, Juni 2007

Aufführungsmaterial ist von der Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Robert Schumann
(b. Zwickau, 8 June 1810 – d. Endenich, 29 July 1856)

Missa Sacra, Opus 147
(1852)
for solo voices, chorus and orchestra

Preface
A widely held stereotype sees the Romantic artist as a vessel of divine and largely uncontrolled inspiration. But Robert Schumann—an ardent Romantic in so many other ways—pursued an almost eerily systematic path in channeling his creativity. One by one, he conquered the important genres of instrumental and vocal music of his day. These ranged from piano character pieces in the 1830s, often grouped in large cycles, to songs, again grouped into cycles and collections, to symphonies, chamber music, and secular oratorio during the early 1840s, all of which gave him confidence in his last years to try his hand at opera and sacred music.

Schumann’s turn to sacred music in the spring of 1852 (when both the Missa sacra, Opus 147, and the Requiem, Opus 148, were written) came indeed as a surprise. He was not a church-going Christian, and his compositional output until then had been largely secular. It is perhaps most plausible to see these works, as Arnfried Edler does, as part of Schumann’s striving toward larger musical forms in his later years. In the early 1850s he pondered the composition of a Luther oratorio, popular in nature, which would address contemporary issues, both political and spiritual—after the failed revolution of 1848-49—by way of the great Protestant reformer, whose biography and statements gave nourishment to both rebellious and conservative causes. The fairytale oratorio Der Rose Pilgerfahrt (The Pilgrimage of the Rose) of 1851 is perhaps too closely linked to domestic music-making to qualify as a large work, but the Scenes from Goethe’s Faust of 1844-53—in a way, Schumann’s contribution to the Goethe centennial of 1849 (a very public event throughout Germany)—come closest to a large-scale oratorio by gathering individual scenes from Goethe’s drama bound together by the quasi-religious motive of redemption. While the Faust Scenes, despite religious aspects, fall clearly into the musical genre of a secular oratorio, Schumann unequivocally passed the threshold into sacred music with the Missa and the Requiem, and he did so by composing Latin texts of the Catholic liturgy.

Schumann’s turn to church music also had something to do with his relocation from largely Lutheran Saxony to the predominantly Catholic Rhineland. In 1850 he had accepted a position as music director in Düsseldorf, and his contract required him to conduct two or three large works per year in Catholic churches; it is likely that civic authorities also hoped that a composer of Schumann’s stature would contribute some sacred works of his own to the repertory. The spiritus loci proved important for the conductor as well as the composer. He rehearsed and performed Bach’s St. John Passion and B minor Mass with the Düsseldorf orchestra and chorus, and he wrote his Symphony No. 3 (the “Rhenish”), in which joviality and exuberance alternate with solemn ceremonial music (inspired by the inauguration of a cardinal Schumann may have witnessed in the nearby Cologne Cathedral). The Schumanns were well received in the Rhineland, at least initially, but soon problems of communication developed in rehearsals and concerts, exacerbated also by the composer’s ensuing mental illness, that led to a personal and professional crisis. It is possible that Schumann hoped to win over his largely Catholic audiences with works specifically written for them, because the composition of the Missa and the Requiem took place during what must be considered the most difficult period of his Düsseldorf years. In any case, a complete performance of both works never materialized during the composer’s life time. (The “Kyrie” and “Credo” movements of the Mass, however, were presented in Düsseldorf in 1853 under Schumann’s direction.)

It was at Clara Schumann’s insistence that the works were premiered posthumously and published in 1862 and 1864, respectively, with Opus numbers. While Schumann would not have objected to see his Missa sacra and Requiem performed as part of the liturgy, he most likely thought of the concert hall as the ideal venue for his only truly sacred compositions.

Schumann’s Missa sacra is scored for mixed chorus in four parts (the choir is indeed the protagonist of the entire work), three soloists (soprano, tenor, and bass), and orchestra (strings, double woodwinds, double brass, three trombones, timpani, and organ). Well versed in writing for choir, Schumann displays considerable imagination and technical artistry in using choral textures to structure his movements and achieve the effect of lofty simplicity and dignity appropriate to church music. His palette ranges from homophonic blocks to imitative polyphony. Especially noteworthy are the fugues that conclude the “Gloria” (Et cum sancto spirito), “Credo” (Et vitam venturi), and “Sanctus” (Amen). The most intimate and perhaps most beautiful movement (added to the Missa in March 1853) is the “Offertorium” (Tota pulcra es, Maria) inserted between “Credo” and “Sanctus” for solo soprano and violoncello obligato. The “Sanctus” is generally considered the high point of the entire Mass. Here Schumann digressed from the liturgical norm by adding a bass solo (O salutaris hostia) after the Benedictus and by repeating the Sanctus-text rather than the usual Osanna in excelsis and concluding the movement with the Amen-fugue. The movements stand in closely related keys arranged in a symmetrical arch: C minor and C major (“Kyrie” and “Gloria”), E flat major (“Credo”), A flat major (“Offertorium” and “Sanctus”) and C minor moving to C major (“Agnus dei”).

Jürgen Thym, June 2007

 

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden.Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.