Albéric Magnard
(geb. Paris, 9. Juni 1865 — gest. Baron (Oise), 3. September 1914)

Hymne à la Justice
op. 14
(1901-02)

 

Vorwort
Von (Lucien Denis Gabriel) Albéric Magnard weiß der Musikliebhaber — zumindest derjenige, der nicht in Frankreich leben — wohl nur, dass er Komponist war, und wie er gestorben ist. Man fange gleich mit dem Ende an: Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, befand sich Magnard samt seiner Familie auf seinem Landsitz im südöstlichen Teil von Picardie. Nach dem Vorstoss deutscher Truppen in Frankreich liess Magnard seine Frau und zwei Töchter in Sicherheit bringen, er selbst erwartete allein die heranrückenden Deutschen. Als sie sein Landgut betraten , erschoss er einen Soldaten und verwundete er einen zweiten. Da er nicht der Aufforderung nachkam, sich zu ergeben, brannten die Deutschen sein Landhaus nieder. Zweifelsohne kam er im brennenden Haus um, obwohl seine Leiche nie gefunden wurde.

Es mag banal klingen, wenn nicht gar leichtsinnig, in den Details einer Anekdote die wichtigen Bestandteile eines Charakters finden zu wollen, aber im Fall Magnards hat es seine seltsame Richtigkeit. Dass er allein den Tod fand, sollte nicht überraschen: Obwohl gar nicht freundlos und mit einem glücklichen Familienleben gesegnet, war Magnard in vielerlei Hinsicht ein Einzelgänger — der Verkehr in guter Gesellschaft war ihm unangenehm (und der Verkehr in schlechter Gesellschaft schier undenkbar), am Beifall des Publikums hatte er kein Interesse, die meisten seiner Werke erschienen im Selbstverlag, und schon zehn Jahre vor seinem Tod hatte er Paris zugunsten seliger Abgeschiedenheit auf dem Lande verlassen. Obwohl er Zeit seines Lebens nur ein mäßig erfolgreicher Komponist war und nur wenige Jahre als Lehrer wirkte, hat er sich doch eine grosszügiges Landhaus leisten können — denn sein Vater Francis war wegen seiner publizistischen Tätigkeit (u.a. als Redakteur der Pariser Zeitung Le Figaro) ein wohlhabender, einflussreicher Mann geworden. Bis zu dessen Tode im Jahre 1894 lebte und kämpfte der Sohn mit widersprüchlichen Gefühlen seinem Vater gegenüber. Einerseits wollte er sein eigener Herr sein, nicht nur Sohn, und eine eigene Laufbahn ohne jegliche väterliche Begünstigung einschlagen; andererseits liess er sich vom Vater ausbilden, lehnte das Familienvermögen nicht ab (er finanzierte damit nicht nur seinen Landsitz, sondern mehrere Konzerte eigener Werke), und hat ihn tatsächlich richtig geliebt. Nach dem Tod seines Vaters schrieb er einen Chant funèbre (Op. 9, 1895) — ein Werk, das man zu seinen besten rechnen muss. In seiner letzten mutigen (wenn auch waghalsigen) Handlung erkennt man schliesslich einen Charakterzug, der für Magnard immer massgebend war: einen unerschütterlichen Sinn für das Richtige. Erst nach Wehrdienst und Abschluss einer juristischen Ausbildung (1877) fing er an, sich ernsthaft mit dem Musikstudium und der Komposition zu befassen; er war ein leidenschaftlicher Verfechter der Dritten Republik und ausgesprochener Dreyfusard (sein Hymne à la Justice, Op. 14, 1902, ist der künstlerische Ausdruck seiner Empörung über die Dreyfus-Affäre); und trotz seiner fortschreitenden Taubheit versuchte er 1914, sich freiwillig zum Wehrdienst zu melden. Magnard wird oft für einen Menschenfeind gehalten, aber es wäre wohl richtiger, in ihm einen frustrierten, enttäuschten Idealisten zu sehen.

Von Magnards Werken wird der Musikliebhaber vielleicht sogar eines gehört haben, nämlich seine Dritte Symphonie, dank der prächtigen, von Decca aufgenommenen Einspielung durch Ernest Ansermet und das Orchester der Suisse romande aus dem Jahr 1968. Wegen des erhaben-altmodischen Choralsatzes für Blechbläser, mit dem die Symphonie beginnt und endet, und der Leichtigkeit, die man bei allem Ernst des Ausdrucks empfindet, wird Magnard wohlwollend, aber irrtümlich für einen «französischen Bruckner» gehalten; richtiger wäre es jedoch, seine Leichtigkeit als künstlerische Verwirklichung seiner Verehrung für frühere französische Meistern zu betrachten, und ihn ansonsten den Franzosen zuzurechnen, deren Werke vom Einfluss Richard Wagners geprägt waren: César Franck, Ernest Chausson und Vincent d’Indy. (Mit Franck und Chausson war er zwar bekannt; d’Indy war sein wichtigster Lehrer.) Seine Formstrenge schützt ihn jedenfalls vor dem ausweglosen Chromatismus so manches Wagner-Nachfolgers, und auch in seinen ernsthaftesten Werken wird Grübelei durch diese Formstrenge und durch leidenschaftlichen Ausdruck in Grenzen gehalten.

In der zusammen mit Simon-Pierre Perret verfaßten Standardbiographie über den Komponisten (Alberic Magnard, Paris, 2001) macht Harry Halbreich auf die merkwürdige Tatsache aufmerksam, dass Magnards freimütiger Einsatz in der Dreyfus-Affäre ziemlich wenig mit dem Menschen Alfred Dreyfus zu tun hatte. Magnard hielt ihn für eine Person ohne besondere charakterliche Auszeichnung, und der antisemitische Aspekt der Affäre sprach ihn auch wenig an — war Magnard selbst doch zu antisemitischen Äußerungen fähig, wenn es um ihn unliebsame Juden ging. Was Magnards Empörung erregte, war die Ungerechtigkeit selbst, und diese Empörung fand kräftigen und unmittelbaren Ausdruck: Gleich am Tage nach der Veröffentlichung von Émile Zolas «J’accuse» am 13. Januar 1898 äusserte er schriftlich seine Anteilnahme, auch verliess er bald darauf die Armee, in der noch er als Reserveoffizier diente. Eine künstlerische Reaktion ließ jedoch vorerst auf sich warten, und als er irgendwann im September oder Oktober 1901 — fast vier Jahre nach Zolas berühmter Schrift — mit der Arbeit an der Hymne à la Justice, op. 14 begann, war nicht die ungerechte Verurteilung von Dreyfus sein Hauptanliegen, sondern die Ungerechtigkeit selbst, als deren Alterntive er nun die Gerechtigkeit pries. Halbreich zitiert billigend das von Gaston Carraud (in seinem Werk La Vie, l’œuvre et la mort d’Albéric Magnard (1865-1914), Paris, 1921) verfasste «Programm» des Werks: «Wir hören in der ersten Idee der Hymne á la Justice von der Unterdrückung, die auf Ungerechtigkeit beruht, gefolgt vom verzweifelten Anrufen der Gerechtigkeit. Brutal niedergeschlagen hebt das Opfer seine Augen dem unerreichbaren Ideal entgegen. Unter schmerzvollem Stöhnen, das die Verfolgung herbeiruft, sieht er den letzten, schwachen Hoffnungschimmer schwinden, aber just in jenem Moment, da die Gewalt mit allergrößter Unverschämtheit zurückkehrt, bricht plötzlich der unaufhaltsame Sieg der Gerechtigkeit in einer Apotheose hervor.»

Abgeschlossen hat Magnard die Arbeit am Hymne à la Justice, op. 14 am 30. März 1902. Gleich am Tage danach schrieb er an seinen Freund Émile Gallé, um ihm die Widmung des neuen Werks anzubieten. Gallé war selbst ein Anhänger von Dreyfus, außerdem auch ein berühmter Glasbläser in Nancy, der noch heute als führender Vertreter der französischen Art Nouveau in der Glaskunst gilt.

Die Uraufführung fand auch in Nancy statt, und zwar am 4. Januar 1903; es dirigierte Magnards großer Freund Joseph Guy Ropartz. Das Werk wurde mit Beifall begrüßt und zwei Tage später wiederholt. Die Kritiken in der Presse waren ebenfalls durchaus positiv, eine hat den Komponisten sogar amüsiert. In einem Brief an Ropartz nach der Uraufführung zitiert er den «Dithyrambus» in der Zeitung Le Libéral d’Est, der u.a. den «sich aufschwingenden C-Dur Schluss» pries — tatsächlich ist der Schluss in B-Dur.

Unter weiteren Aufführungen ist eine im Rahmen der Concerts Cortot im Dezember 1904 in Paris zu erwähnen, sowie zwei weitere, die von Ropartz geleitet wurden: im Sommer 1909 in Nancy, und am 5. November 1913 von der Société des Nouveaux Concerts in Paris. Eine «interprétation merveilleuse» durch das Orchester der Union des Femmes Proffesseurs et Compositeurs (1911, Paris) hatte Magnard derart begeistert, dass er ihm seine Quatrième Symphonie, op. 21 widmete und mit der Uraufführung des Werks anvertraute — wie sich herausstellte mit katastrophalen Folgen. Durchaus glücklicher war der Anlass einer Pariser Aufführung aus dem Jahre 1944, wo es als erstes Werk im ersten Konzert der Orchestre National nach der Befreiung von Paris erklang.

Die Partitur erschien 1904 im Selbstverlag, 1919 wurde sie vom Pariser Verleger Rouart, Lerolle & Cie. übernommen. Magnard hat selbst eine Klavierfassung erstellt, jedoch hat er sie — wie er René de Castéra schrieb — «so abscheulich gefunden, dass ich sie mit der Begeisterung eines Inquisitors ins Feuer warf.» Die 1917 von Rouart, Lerolle veröffentlichte vierhändige Klavierfassung wurde von Gustave Samazeuilh angefertigt.

Stephen Luttmann, 2007

 

Aufführungsmaterial ist von Kalmus, Boca Raton zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Phillip Brookes Collection, Market Drayton.

Albéric Magnard
(b. Paris, 9 June 1865 — d. Baron, Oise, 3 September 1914)

Hymne à la Justice
op. 14
(1901-02)

 

Preface
If the music lover — at least the music lover who does not live in France — knows anything about (Lucien Denis Gabriel) Albéric Magnard, he probably knows only that he was a composer, and he knows how that composer died. One might as well begin right at the end: When the First World War broke out in 1914, Magnard was with his family on his estate in southeastern Picardy. Once German troops had penetrated French territory, Magnard sent away his wife and two daughters to safety, and awaited alone the approaching Germans. As soon as they set foot on his land, he shot two of them, killing one and wounding the other. Because he did not respond to their demand that he surrender, the Germans burned his manor house down. No doubt he died in the fire, although his corpse was never found.

It may seem trite, if not just flippant, to want to find all of the important parts of a person’s character in the details of a single anecdote, but in the case of Magnard, doing so has its strange justification. It is no surprise that he died alone: Although hardly friendless and blessed with a happy family life, Magnard was in many respects a loner. He found traffic in good society unpleasant (and traffic in bad society unimaginable); he had no interest in public approval; he self-published most of his works; and fully ten years before his death he had left Paris for the blissful solitude of country life. Although he was never more than a moderately successful composer, and taught for only a few years, he was still able to afford a spacious country manor — for his father Francis had become a wealthy, powerful man on account of his jouralistic activities (among other things as editor of the Parisian newspaper Le Figaro). Up until the death of his father in 1894, he lived and fought with contradictory feelings toward him. On the one hand he wanted to be his own man, not the son of his father, and wanted to make his own career path without any favoritism from a well-meaning father; on the other hand, he let himself be educated at his father’s expense, certainly did not reject family money (he financed not only his country estate with it, but several concerts of his works as well), and in fact did truly love him. After his father’s death he wrote a Chant funèbre (op. 9, 1895) — a work that one must consider among his best. In his last brave (if reckless) action one recognizes a final decisive character trait: an unyielding sense of what is right. Only after military service and a law degree (1877) did he begin serious study of music and attempts at composition; he was a passionate supporter of the Third Republic and an outspoken Dreyfusard (his Hymne à la Justice, op. 14, 1902, is the artistic expression of his outrage over the Dreyfus affair); and despite his advancing deafness he tried to volunteer for military service in 1914. Magnard is often considered a misanthrope, but it is probably more correct to see in him a frustrated, disappointed idealist.

The music lover may have heard one of Magnard’s works as well, namely his Third Symphony, thanks to Ernest Ansermet’s fine recording of it with the Orchestre de la Suisse romande for Decca in 1968. Because of the sublime, ancient-sounding choral passages for woodwinds that begin and end the work, and the lightness one perceives despite the serious tone, Magnard is often benevolently but erroneously taken for a kind of «French Bruckner.» However, it would be more correct to consider the lightness to be an artistic realization of his admiration of earlier French masters, and otherwise to include him with those French composers whose works are characterized by the influence of Richard Wagner: César Franck, Ernest Chausson, and Vincent d’Indy. (In fact he knew Franck and Chausson, and d’Indy was his most important teacher.) His strictness in matters of form keeps his music from falling into the endless chromaticism of many a Wagner follower, and even in his most serious works, brooding is held in check by this strictness of form, as well as by passionate expression.

In the standard biography of Magnard he wrote with Simon-Pierre Perret (Albéric Magnard, Paris: Fayard, 2001), Harry Halbreich points out the rather curious fact that the composer’s outspoken efforts in the Dreyfus Affair had rather little to do with Alfred Dreyfus the person. Magnard considered him to be someone without much distinction of character, and the anti-Semitic nature of the affair meant little to him. (In fact, he was capable of anti-Semitic expression himself, when the subject of discussion was a Jew he didn’t care for.) What provoked Magnard’s outrage was injustice itself, and this outrage found forceful and immediate expression: On the very day after the publication of Émile Zola’s «J’accuse» on 13 January 1898, he sent a message of support, and soon thereafter he resigned his post as a reserve officer in the French army. However, an artistic reaction was not immediately forthcoming, and when he began work on the Hymne à la Justice, op. 14 sometime in September or October 1901 — almost four years after Zola’s famous article — his main concern was not specifically to condemn the unjust conviction of Dreyfus, but rather to condemn injustice itself, and instead to extol justice. Halbreich quotes approvingly the «program» formulated by Gaston Carraud in his work La Vie, l’œuvre et la mort d’Albéric Magnard (1865-1914) (Paris: Rouart, Lerolle, 1921): «We hear in the first idea of the Hymne à la Justice the oppression caused by injustice, followed by the painful appeal to justice. Brutally struck down, the victim raises his eyes toward the unreachable ideal. With a groan that awakens persecution, he sees the pale glimmer vanish, but in the very moment that violence returns with greatest insolence, the devastating of victory breaks forth in apotheosis.»

Magnard concluded work on the Hymne à la Justice, op. 14 on 30 March 1901. The very next day he wrote to his friend Émile Gallé to offer him the dedication of the new work. Gallé was a supporter of Dreyfus himself; he was also a famous glass blower in Nancy, and is considered a leading representative of the French Art Nouveau.
The premiere, on 4 January 1903, also took place in Nancy; the conductor was Magnard’s great friend Joseph Guy Ropartz. The work was greeted with applause and was repeated in concert two days later. The reviews were also thoroughly positive, and one of them provided the composer with some degree of amusement. In a letter to Ropartz after the premiere, he quoted the «dithyramb» in the newspaper Le Libéral d’Est, which praised, among other things, the «soaring conclusion in C major.» The work’s conclusion is actually in B major.

Among further performances are one that took place in the Concerts Cortot (Paris, 1904), as well as two others conducted by Ropartz (Nancy, summer of 1909; Paris, Société des Nouveaux Concerts, 5 November 1913). An «interprétation merveilleuse» by the orchestra of the Union des Femmes Proffesseurs et Compositeurs (Paris 1911) excited Magnard so much that he dedicated his Quatrième Symphonie, op. 21 to that entity and entrusted its premiere to it as well — with disastrous results, as it turned out. Much happier was the occasion of a Paris performance from the year 1944, namely as the first work in the first concert of the Orchestre National after the liberation of Paris.

The score was self-published in 1904; the Paris publisher Rouart, Lerolle & Cie added the work to its catalogue in 1919. Magnard made a piano arrangement of the work himself, but — as he wrote René de Castéra — «found it so execrable that I threw it into the fire with the enthusiasm of an inquisitor.» The arrangement for piano, four hands published by Rouart, Lerolle in 1917 was prepared by Gustave Samazeuilh.

 

Stephen Luttmann, 2007

 

For performance material please contact the publisher Kalmus, Boca Raton. Reprint o f a copy from the Phillip Brookes Collection, Market Drayton.