Gabriel Fauré
(geb. Pamiers, 12. Mai 1845 – gest. Paris, 4. November 1924)

Shylock
Suite für Orchester op. 57
(1889/90)

Vorwort
In der französischen Shakespeare-Rezeption des 19. Jahrhunderts war die Texttreue – wie alle Berlioz-Liebhaber und alle Bewunderer von Marcel Carnés Film-Meisterwerk Kinder von Olymp nur allzu gut wissen – eine noch unbekannte Größe. So geschah es, als das Pariser Théâtre du l’Odéon 1889 eine Neuinszenierung des Kaufmann von Venedig in Angriff nahm, daß man anstelle des Shakespeare’schen Originals eine freie Bearbeitung vom wenig bedeutsamen Lyriker, Stückeschreiber und Romancier Edmond Haraucourt (1857-1941) erbat. Haraucourt schrieb das Original gründlich um, indem er es als Versdrama verfaßte und als französische Charakterkomödie anlegte. Das Ergebnis hieß Shylock, ein neues Stück in drei Akten und sieben Bildern, das am 17. Dezember 1889 am Odèon-Theater über die Bühne ging und 1890 in Paris auch in Druck erschien.

Bei der Neufassung Haraucourts lag ein besonderer Schwerpunkt auf den „Maskeraden und Ausgelassenheiten“ um die Entführung von Shylocks Tochter Jessica durch ihren Liebhaber Lorenzo, was auch eine erkleckliche Menge an Bühnenmusik für die neuen Einschübe sowie für die verschiedenen Szenenverwandlungen erforderlich machte. Zu diesem Zwecke wandte sich die Theaterleitung an den noch relativ unbekannten Komponisten Gabriel Fauré, der dem gleichen Theater bereits eine solche Musik für eine Neuinszenierung des Dramas Caligula von Alexandre Dumas dem Älteren (op. 52, 1888) geliefert hatte. Fauré, der noch wenig mit der Theaterwelt vertraut war und sich bei der Komposition von dramatischer Musik recht unwohl fühlte, war zunächst über das neue Projekt alles andere als begeistert: „Auf dem ersten Blick sieht es zwar verlockend genug aus, als ob daraus etwas zu holen wäre; wer jedoch bereits durch die Mangel des Odéon-Orchesters gedreht wurde, sieht das alles weniger zuversichtlich an!“ Schließlich gab er jedoch der „Verlockung“ nach und schrieb während der Herbstmonate in kurzer Zeit eine brauchbare Partitur, die auch bei der Premiere des Theaterstücks im Dezember 1889 ihre Uraufführung erlebte. Am Dirigentenpult vor dem „durchaus anständigen kleinen Theaterorchester“ stand der Komponist, der die Musik auch bei den 55 weiteren Aufführungen leitete. Restlos zufrieden mit den Ergebnissen war Fauré allerdings nicht: „Vom vierten Abend an beginnen die finanziellen Sparmaßnahmen des Odéon zu greifen: Einige der guten Musiker werden entlassen und durch all die unbrauchbaren, schwachen und veralteten Routiniers ersetzt, die man aus dem Quartier Luxembourg zusammentrommeln kann.“ Da die Kritiker von der Musik kaum Notiz nahmen, griff Fauré zur damals üblichen Maßnahme und arbeitete ausgewählte Nummern aus der Bühnenmusik in eine selbständige Orchestersuite um. Bei der neuen Fassung wurde nicht nur die Reihenfolge der Sätze umgestellt, sondern auch die Orchesterbesetzung erheblich erweitert, indem die Partien für Flöte, Oboe, Fagott, Trompete und Harfe zweifach besetzt und der einzige Hornpart in eine vierfache Hörnergruppe umgearbeitet wurde. Die Suite wurde am 17. Mai 1890 bei einem Konzert der Société Nationale unter der Leitung von Gabriel Marie uraufgeführt.

Bei der daraus resultierenden Shylock-Suite handelt es sich um sechs geschlossene Sätze – Chanson, Entr’acte, Madrigal, Épithalame, Nocturne und Finale -, die in der Bühnenfassung verschiedene dramaturgische Aufgaben erfüllten. Die beiden Vokalstücke Chanson und Madrigal ertönen in der ersten Hälfte der Komödie, das erste als Serenade, die ein unsichtbarer Tenor für Shylocks Tochter Jessica singt, das zweite als Morgenlied, die der Prinz von Aragon als Lobgesang auf Portia anstimmt. Beim Entr’acte handelt es sich – trotz des Titels – nicht etwa um eine Zwischenaktmusik, sondern vielmehr um eine musikalische Untermalung zur berühmten „Szene der drei Kästchen“, und zwar als Aufzugsmusik zum Eintritt der drei Nebenbuhler um die Hand Portias (daher die markante Marschrhythmik). Mitten in dieser Szene befindet sich auch ein wunderschöner Erguß lyrischer Melodik, die für die Suite als selbständiger Satz mit dem Titel Épithalame erweitert wurde. Die Nocturne ertönte ursprünglich im dritten Akt als Begleitmusik zur berühmten nächtlichen Liebesszene zwischen Jessica und Lorenzo im mondhellen Garten Portias. Fauré war sich der Schönheit dieser Melodie durchaus bewußt, griff er doch 1894 für die Romanze op. 69 für Violoncello und Klavier sowie für sein Klavierlied Soir op. 83 Nr. 2 wieder darauf zurück. Bereits Ende Oktober 1889 konnte er bezüglich der Nocturne an die Comtesse Greffulhe schreiben, daß er nach einer Inspiration gesucht habe für eine „musikalische Phrase mit einer gewissen Aussage, wie das venezianische Mondlicht“. „Und nun habe ich sie! Ich erhielt sie von der Luft, die ich in Ihrem Park einatmete – ein weiterer Grund, Ihnen meine Dankbarkeit bezeugen zu wollen!“ Das Finale befand sich ursprünglich in der Schlußszene der Komödie, und zwar als Hintergrund zum Dialog, der sich während der Wiedervereinigung aller Liebenden abspielt. Entsprechend verhält sich der Satz vorwiegend rhythmisch und beschwingt, wobei sich die Streicher einer passend lichtdurchfluteten Schwelgerei von pizzicato, staccato und spiccato ergeben.

Kaum war die Partitur zu Shylock aus der Taufe gehoben, als sich die Verlagswelt schon um die Verwertung bemühte. Bereits 1889 veröffentlichte der Pariser Verlag Hamelle einen Klavierauszug des Chanson und des Madrigal, die beide getrennt als Klavierlieder erschienen und 1897 auch in englischer Übersetzung bei Metzler in London verlegt wurden. Bald erschienen auch Klavierfassungen – jeweils für zwei und vier Hände – aus der Feder von Gustave Samazeuilh (1891). Dennoch dauerte es volle sieben Jahre, bis die Orchesterpartitur – wieder bei Hamelle – in Druck erschien. Anders als etwa die Bühnenmusik zu Pelléas et Mélisande oder das Requiem fand die Shylock-Suite nicht sofort Anklang beim Publikum, zumal der Einsatz eines Solotenors in lediglich zwei Sätzen eine regelmäßige Aufführung des Stücks erheblich erschwerte. Nichtsdestotrotz wurde die Nocturne zu einem beliebten Konzertstück, was sie bis zum heutigen Tage auch geblieben ist. Als Fauré nach seiner Ernennung zum Leiter des Conservatoire im Jahre 1905 an öffentlichem Prestige gewann, wuchs das Interesse für seine früheren Werke, darunter auch die Shylock-Suite, die 1909 in Barcelona und Monte Carlo und 1910 in St. Petersburg – alles unter der Leitung des Komponisten – erklang. In den zwanziger Jahren, als Fauré bereits als eine Art nationaler Institution galt, wurde bei seiner staatlichen Begräbnisfeier im Jahre 1924 (der auch der Präsident der französischen Republik beiwohnte) neben dem Requiem auch die Nocturne aufgeführt. Bald darauf wurde die Partitur der Suite 1927 und – als Zeichen ihrer andauernden Beliebtheit – 1962 erneut aufgelegt. Obwohl auf Tonträgern nicht gerade zahlreich vertreten (bis auf die immerwährende Nocturne) existieren denkwürdige Aufzeichnungen durch Michel Plasson mit dem Orchester des Théâtre du Capitole (1982) sowie durch den großen Interpreten des französischen Impressionismus Désiré-Émile Inghelbrecht (1955), der der Shylock-Suite einen ganz besonderen Platz in seinen Konzerten einräumte.

Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial ist von der Fleisher Collection of Orchestral Music, Philadelphia zu beziehen.
Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Gabriel Fauré
(b. Pamiers, 12 May 1845 - d. Paris, 4 November 1924)

Shylock
Suite for Orchestra, op. 57
(1889-90)

Preface
As all lovers of Berlioz and admirers of Marcel Carné’s film masterpiece Les enfants du paradis know too well, textual fidelity was an unknown quantity when it came to French productions of Shakespeare during the nineteenth century. Thus it happened that when the Théâtre du l’Odéon in Paris set out to stage The Merchant of Venice in 1889, they turned not to Shakespeare’s original comedy but to a free adaptation by the minor poet, playwright, and novelist Edmond Haraucourt (1857-1941). Haraucourt thoroughly rewrote the original, casting it into verse and bringing it into line with French comedy of manners. The result was Shylock, a new play in three acts and seven scenes that went on the boards at the Odéon on 17 December 1889 and was published in Paris in 1890.

Haraucourt’s version places particular emphasis on the «masques and revels» that attend Lorenzo’s abduction of Shylock’s daughter Jessica, and the new play thus required a good deal of incidental music for these interpolations and the several scene changes. A call went out to the still relatively unknown Gabriel Fauré, who had just supplied such music for a revival of Alexandre Dumas père’s Caligula at the same theater (op. 52, 1888). Fauré, a man unused to the ways of the theater and ill at ease in composing dramatic music, was initially anything but enthusiastic about the new commission: «At first sight it looks tempting enough and as though there might be something in it, but when you’ve been through the mill with the Odéon orchestra, then things don’t look so rosy!» In the end, however, he yielded to temptation and quickly turned out a usable score in the course of the autumn. It was given its first hearing at the play’s première in December, with Fauré himself conducting the «reasonable little theater orchestra,» and continued for a substantial run of fifty-six performances. Fauré was not wholly delighted with the outcome: «From the fourth night onwards the Odéon’s economic cutbacks begin to take effect: several of the good players are being dropped and instead they’re hiring all the useless, feeble, and superannuated hacks they can scrape together from the Luxembourg quarter.» The critics barely took notice of the music, and Fauré did what composers usually do in such cases: he extracted the best parts of the score to form an orchestral suite. This new version, with the order of the movements changed and the orchestration greatly enlarged (the flute, oboe, bassoon, trumpet, and harp parts were doubled and the single horn expanded to a chorus of four), received its first performance on 17 May 1890, when Gabriel Marie conducted the piece at the Société Nationale.

The resultant Shylock Suite consists of six numbers - Chanson, Entr’acte, Madrigal, Épithalame, Nocturne, and Finale – that served various functions in the stage version. Both the Chanson and the Madrigal occur early in the play, the former being a serenade delivered to Jessica by an unseen tenor (now with an expanded orchestral introduction), the latter an aubade sung by the Prince of Aragon in praise of Portia. The Entr’acte is in fact not entr’acte music at all, but a musical backdrop to the famous «scene of the caskets,» where it accompanies the grand entrances of Portia’s three competing suitors (hence the march rhythms). In the midst of this scene occurs a beautiful passage of melody that Fauré, for the suite, expanded into a self-contained movement entitled Épithalame. The Nocturne was originally heard in Act 3, where it accompanied the famous love scene between Jessica and Lorenzo in Portia’s moonlit garden. Fauré was fully aware of the beauty of this melody, reusing it in 1894 for his Romance for cello and piano (op. 69) and the song Soir (op. 83, no. 2). Writing to the Comtesse Greffulhe in late October 1889, he explained that he had needed «a musical phrase with a certain penetration, like Venetian moonlight, and now I’ve got it! It was the air I breathed in your park which gave it to me; yet another reason to express my gratitude!» The Finale originally occurred intact in the final scene of the play, where it was heard behind the dialogue during the reunion of all the lovers. Consequently, rhythm and lightness prevail, and the strings indulge in appropriately translucent effects of pizzicato, staccato, and spiccato.

Hardly had the ink on Fauré’s Shylock score had time to dry than publishers began to exploit it. The Parisian firm of Hamelle published a vocal score of the Chanson and Madrigal as early as 1889; both pieces also appeared separately as piano songs and were issued in English translation by Metzler in London (1897). Versions of the suite were soon issued for solo piano and piano duet, arranged by Gustave Samazeuilh (1891). However, the full score of the suite had to wait seven years before Hamelle published it in 1897. Unlike Fauré’s scores to Pelléas et Mélisande and the Requiem, the Shylock Suite did not immediately capture the fancy of the public and, with its use of a solo tenor in only two movements, proved difficult to program. Nevertheless the Nocturne became a familiar concert item on its own, and indeed has remained so to the present day. As Fauré’s fame increased with his appointment as head of the Conservatoire (1905), so did the interest in his earlier music, including Shylock. Fauré himself conducted the piece in Barcelona and Monte Carlo in 1909 and again in St. Petersburg in 1910. By the time of his death in 1924 Fauré had become a national celebrity, and the Nocturne was heard alongside the Requiem at his state funeral, attended by the President of the Republic. The Shylock score was soon reissued by Hamelle in 1927, and again, as evidence of its continuing popularity, in 1962. Although seldom recorded (apart from the perennial Nocturne), it exists on recordings by Michel Plasson and the Théâtre du Capitole (1982) and by the great Impressionist conductor Désiré-Émile Inghelbrecht (1955), who made a special point of favoring it in his programs.

Bradford Robinson, 2006

 

For performance material please contact Fleisher Collection of Orchestral Music, Philadelphia.
Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.