Hector Berlioz
(geb. La Côte-Saint-André, Isère, 11. Dezember 1803 - gest. Paris, 8. März 1869)

Rêverie et caprice op. 8
Romanze für Violine und Orchester oder Klavier (1841)

Vorwort

Im März 1839 schrieb der leidgeplagte Komponist Hector Berlioz einen eiligen Zettel an den allmächtigen Leiter der Pariser Opéra, Charles-Edmond Duponchel: «Sehr geehrter Herr, es ist mir eine Ehre, Ihnen mitteilen zu dürfen, daß ich meine Oper „Benvenuto“ hiermit zurückziehe. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie diese Nachricht mit Freude entgegennehmen werden. Ich verbleibe, sehr geehrter Herr, ergebenst Ihr H. Berlioz.»
In seiner Einschätzung der Situation lag Berlioz keineswegs falsch: Seit dem Anfang der Probenarbeiten im Mai 1838 erfuhr die Oper Benvenuto Cellini nichts als dumpfen Widerstand von Seiten der Orchestermusiker, der Sänger, des Verwaltungspersonals und schließlich des großen Theaterleiters, der fest daran glaubte, es handele sich dabei lediglich um ein totgeborenes Experiment. Nach vier Aufführungen weigerte sich der männliche Hauptdarsteller weiterzumachen, nachdem er seine Rolle bisher mit einem unübersehbaren Grinsen gesungen hatte, als ob sich das Ganze nur um einen herrlichen Witz handeln würde. So vollkommen war der Mißerfolg von Benvenuto Cellini, daß die Zukunftsperspektiven des Komponisten an der Opéra mit einem Schlag auf immer vernichtet wurden. Berlioz, der sein Herzensblut in die Partitur hatte hineinfließen lassen, war untröstlich. Dennoch wußten er und einige weitsichtige musikalische Mitstreiter genau, daß dabei ein Meisterwerk unerkannt und ungepriesen geblieben war. Heute hat sich das übereilte Urteil Duponchels in sein Gegenteil gekehrt.

Eine der ersten Stellen in Benvenuto Cellini, die der Kritik der Musiker zum Opfer fiel, war eine Kavatina im ersten Akt (“Ah, que l’amour une fois dans le cœur”), die das Mißfallen der Sängerin Julie Dorus-Gras erregt hatte und daher ersetzt werden mußte. Über die Vorzüge des Stücks war Berlioz jedoch anderer Meinung, und als sich eine Gelegenheit 1841 anbot, ein Orchesterkonzert gemeinsam mit einem jungen Freund, dem belgischen Geigenvirtuosen Alexandre-Joseph Artôt (1815-1845) zu bestreiten, schrieb der Komponist die ursprüngliche Kavatina in eine „Romance“ für Violine und Orchester (in Anlehnung an die Romanzen op. 40 und op. 50 von Beethoven) um. Die neue Fassung erschien sofort als Partitur und Klavierauszug beim Pariser Verlag Richault & Cie. unter dem Titel Rêverie et caprice ... Romance ... Oeuvre 8 (1841). Einige Monate darauf, am 1. Februar 1842, hoben Artôt und Berlioz das neue Stück im Pariser Salle Vivienne aus der Taufe. Obwohl die neue Romanze bei der Uraufführung nicht sonderlich auffiel, wurden bald einige der führenden Virtuosen der Zeit auf sie aufmerksam. Der spätere Geigenprofessor am Pariser Conservatoire Delphin Alard (1815-1888) spielte das Stück mit triumphalem Erfolg bei einem Konzert am Conservatoire im Jahre 1843. Noch wichtiger war wohl der Einsatz des großen Geigers Ferdinand David (1810-1873), der das Werk im gleichen Jahr bei einem Leipziger Konzert in Anwesenheit des Ehepaars Schumann zum besten gab. Jahre danach erinnerte sich Berlioz an dieses Ereignis in seinen Memoiren, wobei er auch nicht vergaß, das Orchester hervorzuheben: «David erklärte sich bereit, das Violinsolo zu spielen, das ich zwei Jahre zuvor für Artôt komponiert hatte und eine ziemlich anspruchsvolle Orchesterbegleitung ausweist; sein Vortrag war meisterhaft und wurde vom ganzen Publikum gelobt.»

Trotz der herzlichen zeitgenössischen Rezeption wird die Rêverie et caprice durch Berlioz‘ Biographen nicht gerade wohlwollend betrachtet. Jacques Barzun (1950) bezeichnet sie als „unbedeutend, mit der einzigen Einschränkung, daß sie als Zeichen dafür dient, daß Berlioz – mit etwas Übung – sein Glück mit gewinnbringender Tagesware hätte probieren können„.Dreißig Jahre später sah Hugh Macdonald keinen Grund dieses Urteil zu revidieren, indem der die „impulsiven Stimmungs- und Temposchwankungen“ des Werks bemängelte, die im Konzertsaal eher fehl am Platz wirken und dafür sorgen, daß die Anzahl der Bewunderer gering bleibt. Ein gänzlich anderes Bild wirft jedoch die Publikationsgeschichte der Romanze auf: Die Firma Richault legte 1865 die Partitur neu auf, eine weitere Partitur mit Stimmensatz erschien 1880 bei Costallato in Paris, und noch eine weitere – diesmal mit dem Titel Träumerei und Kaprice – Anfang des 20. Jahrhunderts beim Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel. Zu den zahlreichen Nachdrucken der Klavierfassung gehört zunächst ein Raubdruck der Richault-Ausgabe durch Pietro Mechetti (Wien 1841), gefolgt von weiteren Ausgaben beim Londoner Verlag Augener (hrsg. E. Heine 1900), Steingräber in Leipzig (hrsg. Henri Marteau 1926), Faber in London (hrsg. Neil Heyde 1995) und dem Kasseler Verlagshaus Bärenreiter (hrsg. Hugh Macdonald 2003), das auch 2003 eine Partitur mit Stimmensatz als Abfallprodukt der „New Berlioz Edition“ herausgab. Am beeindruckendsten ist jedoch die lange Liste der überragenden Violinisten, die die Rêverie et caprice auf Tonträger aufzeichnete, darunter Yehudi Menuhin (1967), Joseph Szigeti (1969), Arthur Grumiaux (1972), Joseph Suk (1978), Itzhak Perlman (1981) und noch weitere weniger große Vertreter ihrer Zunft. Die vorliegende Ausgabe vereint als erste die Orchester- und Klavierfassung in einem einzigen Heft.

Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial ist von der Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Hector Berlioz
(b. La Côte-Saint-André, Isère, 11 December 1803 - d. Paris, 8 March 1869)

Rêverie et caprice
Romance for violin and orchestra or piano, op. 8 (1841)

Preface
In March 1839 a distraught Hector Berlioz dashed off a quick note to Charles-Edmond Duponchel, the all-powerful director of the Paris Opéra: «Sir, I have the honor to inform you that I withdraw my opera Benvenuto. I am perfectly convinced that you will receive this news with pleasure. I have the honor to be, Sir, your devoted servant H. Berlioz.»

Berlioz was by no means mistaken in his appraisal of the situation: from the moment it went into rehearsal in May 1838 Benvenuto Cellini had encountered nothing but resistance from the musicians, singers, administrative personnel, and finally the great director himself, who was convinced that the work was little but a still-born experiment. After four performances the principal tenor quit altogether, having previously sung his part with a visible sneer as if the whole were a capital joke. The failure of Benvenuto Cellini was considered so absolute that the composer’s chances at the Opéra were ruined for the rest of his life. Berlioz, having poured his heart into the music, was disconsolate. Yet he, and a few knowledgeable musicians, realized that a masterpiece had passed unheralded and unrecognized. Today Duponchel’s summary verdict has been reversed.

One of the first items to be expunged from the score of Benvenuto Cellini in 1838 was an Act 1 cavatina, “Ah, que l’amour une fois dans le cœur,” which was replaced after the singer, Julie Dorus-Gras, had found it objectionable. Berlioz, however, had a different opinion of the piece’s merits, and when an opportunity arose in 1841 to mount an orchestral concert with his young Belgian friend, the virtuoso violinist Alexandre-Joseph Artôt (1815-1845), he turned to the original cavatina and rewrote it as a «romance» (in the sense of Beethoven’s opp. 40 and 50) for violin and orchestra. This new version was immediately issued in full score and piano reduction as Rêverie et caprice, op. 8, by Richault & Cie. in Paris (1841). A few months later, on 1 February 1842, Artôt and Berlioz gave the piece its première in Paris’s Salle Vivienne. Although not especially well-received at this first hearing, it quickly caught the attention of several leading virtuosos. The future head of the violin department at the Paris Conservatoire, Delphin Alard (1815-1888), played it with triumphant success at the Conservatoire in 1843. More importantly, it was given by the great Ferdinand David (1810-1873) that same year in Leipzig, at a concert with the Schumanns in attendance. Years later Berlioz recalled the event in his memoirs, at the same time singling out Leipzig’s famous orchestra for praise: «David agreed to play the violin solo that I wrote two years ago for Artôt, which has quite an elaborate orchestral part; he gave a masterly performance and was acclaimed by the whole audience.»
Oddly, despite its warm contemporary reception, Rêverie et caprice has not fared well at the hands of Berlioz’s biographers. Jacques Barzun, in 1950, called it «unimportant save as an indication that Berlioz could with little practice have turned his hand to ‘slick’ money-making stuff.» Hugh Macdonald, writing thirty years later, found no reason to reverse this verdict, objecting to its «impulsive changes of mood and speed,» which make it sound out of place in the concert hall and have kept it from finding many admirers. Yet the work’s publication history tells a different story. Richault reissued their full score in 1865, and another full score with parts was published of Costallato of Paris in 1880. In the early 1990s Breitkopf & Härtel issued yet another full score under the captivating title of Träumerei und Kaprice. Later editions of the piano reduction have been legion, beginning with pirated version of the Richault print by Pietro Mechetti (Vienna, 1841) and continuing with Augener (ed. E. Heine, 1900), Steingräber (ed. Henri Marteau, 1926), Faber (ed. Neil Heyde, 1995), and Bärenreiter (ed. Hugh Macdonald, 2003). The latter publisher also issued a full score with set of parts as a spin-off from the New Berlioz Edition in 2003. More impressive still is the list of supreme violinists who left behind interpretations of Rêverie et caprice on disc: Menuhin (1967), Szigeti (1969), Grumiaux (1972), Joseph Suk (1978), Perlman (1981), and a host of lesser lights. Our edition is the first to combine both the orchestral and piano versions in a single volume.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden.Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.