Sergej Iwanowitsch Tanejew
(b. Wladimir a.d. Kljasma, 25. 11. 1856 - gest. Djudkow bei Moskau, 19. 6. 1915)

Symphonie e-Moll Nr 1. für großes Orchester (1873/74)

Vorwort
Gut aussehend, penibel, gelehrt, rechtschaffen, künstlerisch begnadet und doch mit einem erlesenen Sinn für Humor nimmt Sergej Tanejew in der großen Generation der russischen Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts allein dadurch eine herausragende Stellung ein, daß er fast jede zeitgenössische Strömung energisch bekämpfte und zugleich die Achtung und Freundschaft all derjenigen genoß, die mit ihm in Verbindung traten. Der Lieblingsschüler und musikalische Vertraute Tschaikowskys war auch maßgebend an der Ausbildung der nächsten russischen Komponistengeneration beteiligt – darunter Rakhmaninow, Skryabin, Glière, Mjaskowskij, Medtner und Gretschaninow – und schuf mit seiner tiefschürfenden Untersuchung des doppelten Kontrapunkts (1909, engl. Ausgabe 1962) ein musiktheoretisches Standardwerk. Als einer der hervorragenden Pianisten seiner Zeit komponierte er auch eigene Werke in zwei grundverschiedenen Stilarten: einerseits imposante Versuche in der großen klassisch-romantischen Tradition (Kantaten, Orchesterwerke, Kammermusik sowie eine Oper), andererseits grillenhafte, meist noch unveröffentlichte Gelegenheitsstücke, die er für private Aufführung im Freundeskreis schuf: witzige Fugen, Lieder nach Texten in Esperanto, Spielzeugsymphonien, sogar eine Ballettmusik, die aus geschickt miteinander verschränkten Tschaikowsky-Melodien besteht. Auch wenn seine Kompositionen zu Lebzeiten als fast abschreckend abstrakt galten, haben sie bis zum heutigen Tag ihre Bewunderer behalten und können immer noch einen Platz im Repertoire behaupten.

Tanejew kam in einer hochgebildeten Familie zur Welt (sein Vater war mittlerer Staatsbeamter mit Universitätsabschlüssen in Literatur, Mathematik und Medizin), von der er eine vielseitige Intelligenz und weitverzweigte Interessen erbte. Bereits als 12jähriger trat er in das Moskauer Konservatorium ein und damit auch in die Harmonieklasse Tschaikowskys, dessen Meisterschüler er bald wurde. (Nachdem Tanejew mit 19 Jahren die Moskauer Erstaufführung des Klavierkonzerts b-Moll bestritten hatte, hob er fortan alle Werke Tschaikowsky für Klavier und Orchester aus der Taufe.) Seine Studien am Moskauer Konservatorium schloß er 1876 mit einer bis dahin einmaligen «Großen Goldmedaille» in Komposition und Klavierspiel ab. Kaum zwei Jahre später wurde er Professor am gleichen Konservatorium, und bereits 1885 – im Alter von nur 28 Jahren – dessen Leiter. Um seine Fähigkeiten im theoretischen Bereich zu festigen, unternahm er eine gründliche Untersuchung des Kontrapunkts, die bis in die Zeit der Altmeister Okeghem und Josquin des Prez zurückreichte und ihn zu einer anerkannten Größe in diesem tiefgründigen Fach erhob. Darüber hinaus sammelte er im Kaukasus Volkslieder, schloß Freundschaft mit Lew Tolstoj (dessen Ehefrau lebenslang eine gefährliche verschmähte Liebe zu ihm hegte) und pflegte sein Interesse an Spinozas Philosophie, das weit über Liebhaberei hinausging. Sein Wort, ob zustimmend oder ablehnend, galt vielerorts als maßgebend und wurde mit einer Aufrichtigkeit zum Ausdruck gebracht, die ihm uneingeschränkte Achtung einbrachte.

Als vielseitiger Lehrer, Administrator, Gelehrter und reproduzierender Künstler mußte Tanejew seine kompositorische Arbeit vorwiegend in den Sommerferien ausüben. Dadurch – neben einer gewissen Unbekümmertheit seinen eigenen Werken gegenüber – erklärt sich zum Teil auch das relativ schmale gedruckte Oeuvre aus seiner Feder. Ebenfalls bedeutsam war jedoch seine ungewöhnliche Arbeitsmethode: Tanejew hatte nämlich die Angewohnheit, vor der eigentlichen Kompositionsarbeit das ganze thematische Material in allen nur erdenklichen kontra-punktischen Kombinationen (Fugen, Kanons usw.) auszuprobieren. Damit wurde zwar die Entstehungszeit des Werkes erheblich ausgedehnt, das Ergebnis jedoch war erhielten von einem handwerklichen Schliff, der seinen Komponistenkollegen nicht entging («Vor einer solchen Souveränität kommt man sich vor wie ein Schüler», so Rimsky-Korsakow nach der Aufführung eines Tanejew-Quintetts.). Im Jahre 1889 legte Tanejew sein Amt als Leiter des Moskauer Konservatoriums nieder, um sich seinem Lehrbuch über den doppelten Kontrapunkt und dem Komponieren stärker zu widmen, allen anderen voran seiner dreiaktigen Oper Orestei nach Aischylos, die ihn bis 1894 beschäftigte und 1895 uraufgeführt wurde. Nicht weniger bedeutsam war jedoch sein Entschluß, die Lehrtätigkeit am Konservatorium 1895 aus Protest gegen die Behandlung der Studenten nach der gescheiterten Revolution vom 1905 einzustellen. Es folgte eine reiche Schaffenszeit, die in dem Werk gipfelte, das weithin als sein kompositorisches Meisterwerk gilt: die Kantate Bei der Lektüre eines Psalms op. 36 (1914/15). Es war das letzte Werk, das Tanejew komponieren sollte: Nachdem er sich bei der Trauerfeier Skryabins im Februar 1915 stark erkältete, starb er einige Monate später erst 58jährig an Herzversagen.

Nach seinem Tod ging der Nachlaß des Komponisten – einschließlich seiner Musikmanuskripte und des Entwurfs einer Abhandlung über die Kunst des Kanons – an seinen Bruder Wladimir, der die Hinterlassenschaft in größter Unordnung in der obersten Etage seines Landguts aufbewahrte. Dort wurde sie vom Leiter des neu gegründeten Tschaikowsky-Museums entdeckt, der sie 1917 in den Unruhen der ersten Revolutionszeit rettete, indem er kurzentschlossen von den örtlichen Bauern zwei Pferdeschlitten mietete und die Schätze in die Sicher-heit des Tschaikowsky-Museums abtransportierte. Unter diesen Papieren befand sich auch das Autograph einer Symphonie e-Moll, die Tanejew während seiner Studienjahre mit Tschaikowsky komponiert hatte, die jedoch immer noch unveröffentlicht und wohl auch unaufgeführt geblieben war. Im Jahre 1916 wurde die Symphonie zusammen mit zwei anderen noch unveröffentlichten Schwesterwerken vom Kritiker und Historiker Wjatscheslav Karatygin untersucht, der darüber einen Aufsatz in Muzykal’nyi sovremennik («Der musikalische Zeitgenosse», H. 2, Jg. 1916, S. 104-116) veröffentlichte. Nach seinem Urteil war die Jugendsymphonie zwar «klar, strukturiert, insbesondere im Rhythmus, Metrum und der formalen Anlage ziemlich kompliziert», stand jedoch «insgesamt den späteren Werken Tanejews nach. Die Partitur zwingt zur Annahme, daß bei überzeugender Darbietung das ganz unmittelbare, innig und naiv-treuherzige Andantino und viele Momente des glänzenden Finale den stärksten Eindruck hinterlassen werden.» Veröffentlicht wurde die Symphonie e-Moll erst im Jahre 1948, als sie in einer Ausgabe von Pawel Lamm als Partitur beim Staatlichen Musikverlag Moskau und Leningrad erschien. Heute wird das Werk allgemein als die «Erste Symphonie» Tanejews bezeichnet, obwohl der Komponist selber diese Bezeichnung seinem einzig zu Lebzeiten in Druck erschienenen Beitrag zu dieser Gattung verlieh: der Symphonie c-Moll op.12 (1896-98).

Bradford Robinson, 2006
Aufführungsmaterial ist von Belaieff, Hamburg zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig

Sergey Ivanovich Taneyev
(b. Vladimir-na-Klyaz’me, 25 November 1856 - d. Dyud’kovo nr. Moscow, 19 June 1915)

Symphony No. 1
in E minor for full orchestra (1873-4)

 

Preface
Handsome, severe, intellectual, high-minded, supremely gifted, yet with a savory sense of humor, Sergey Taneyev stands out among the great generation of late nineteenth-century Russian composers for being vociferously opposed to almost every current of his times while enjoying the esteem and friendship of all who knew him. The favorite pupil and preferred musical confidante of Tchaikovsky, he helped to train the next generation of leading Russian composers - Rachmaninov, Scriabin, Glière, Myaskovsky, Medtner, Grechaninov - and published a monument to music theory with his great study of invertible counterpoint (1909, Eng. trans. 1962). One of the outstanding pianists of his day, he also wrote music in two distinct strains: imposing essays in the grand tradition (including cantatas, orchestral works, chamber music, and an opera), and whimsical pièces d’occasion, most of them still unpublished, which he wrote for private performance among his friends: comic fugues, toy symphonies, songs in Esperanto, and a ballet consisting of Tchaikovsky tunes in contrapuntal combination with each other. Though considered almost forbiddingly abstract in their day, his compositions have never lacked admirers and have never entirely vanished from the repertoire.

Taneyev was born into a highly cultivated environment (his father was a civil servant with degrees in literature, mathematics, and medicine) and inherited a wide-ranging intelligence and multiple interests. At the age of twelve he was admitted to Moscow Conservatory and the composition class of Tchaikovsky, whose favorite pupil he promptly became. (After giving the first Moscow performance of the B-flat major Piano Concerto at the age of nineteen, Taneyev was to play the premières of all of Tchaikovsky’s works for piano and orchestra.) He left Moscow Conservatory in 1876 with a Grand Gold Medal in both composition and performance, a feat never before accomplished. Two years later he was appointed professor at that same conservatory, and by 1885 he had advanced to become its director - at the age of twenty-eight! To strengthen his command of theory he began a study of counterpoint that took him back to the Old Masters (notably Okeghem and Josquin des Prez), and quickly became a reigning authority in this recondite field. He gathered folk songs in the Caucasus, befriended Tolstoy (whose wife developed a dangerous lifelong crush on him), and cultivated a more than amateur interest in the philosophy of Spinoza. His opinions, whether favorable or not, were considered authoritative to a degree, and were spoken with a forthrightness that commanded universal respect.

Taneyev was extraordinarily versatile as a teacher, administrator, scholar, and performer and confined his compositional work mainly to the summer holidays. This is one reason, besides a certain insouciance toward his own musical creations, that his published output is relatively slender. Another reason had to do with his unusual working habits. It was Taneyev’s custom to gather together the thematic material for a piece and to knead it into all imaginable contrapuntal combinations (fugues, canons, and much else) before advancing on the work proper. This slowed down the act of creation while producing scores of a stunning craftsmanship whose intricacy was lost on none of his contemporaries. (Rimsky-Korsakov, on hearing one of Taneyev’s quintets, claimed that «before such mastery one feels a mere pupil.»)

In 1889 Taneyev stepped down as director of Moscow Conservatory to devote himself to his counterpoint treatise and to his own compositions, especially the three-act Oresteia after Aeschylus, which occupied him until 1894 and received its première in 1895. No less important was his decision to leave the Conservatory altogether after the failed Revolution of 1905, as a gesture of protest at the repressive action taken against its students. There followed a rich flowering of compositional activity, culminating in what is widely considered his greatest work, the cantata At the Reading of a Psalm, op. 36 (1914-15). It was the last piece to flow from Taneyev’s pen: after contracting a cold at Scriabin’s funeral in February 1915, he died of a heart seizure a few months later, not having reached his sixtieth birthday.

After his death Taneyev’s posthumous papers, including his music manuscripts and the draft of a theoretical treatise on canon, passed to his brother Vladimir, who preserved them in great disorder in the top floor of his country estate. There they were discovered by the curator of the newly founded Tchaikovsky Museum, who rescued them during the turmoil of the early days of the Revolution by hiring two horse-drawn sleighs from local peasants and carting them off to the Tchaikovsky Museum for safekeeping. Among these effects was the manuscript of Taneyev’s Symphony in E minor, a student work composed during his years of study with Tchaikovsky but still unpublished and probably still unperformed. In 1916 the work and two unpublished companion symphonies were examined by the critic and historian Vyacheslav Karatïgin, who analyzed it in an article for Muzykal’nyi sovremennik («The musical contemporary,» no. 2, 1916, pp. 104-16). Karatïgin found the youthful symphony to be «clear, well-structured, and fairly complex, especially in its rhythm, meter, and formal design,» but as a whole less satisfactory than the composer’s later works. «The score,» he continued, «leads one to assume that, if convincingly presented, the whole of the accessible, intimate, and naively ingenuous Andantino and many moments of the brilliant finale would leave behind the most powerful impression.» The Symphony in E minor remained unpublished until 1948, when it was edited by Pavel Lamm and issued in full score by the State Music Publishing House in Moscow and Leningrad. Today it is generally known as Taneyev’s «Symphony No. 1,» a designation which the composer himself assigned to his only work in the genre to appear in print during his lifetime: the Symphony in C minor, op. 12 (1896-8).

Bradford Robinson, 2006

 

For performance material please contact the publisher Belaieff, Hamburg. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.