Emmanuel Chabrier
(geb. Ambert, Puy-de-Dôme, 18. Januar 1841 — gest. Paris, 13. September 1894)

Gwendoline
Opéra en Trois Actes. Poéme de Caulle Mendés
(UA: Brüssel, Théâtre de la Monnaie, 10. April 1886)

Vorwort
Der Name Emmanuel Chabrier bleibt Musikliebhabern vor allem durch einige besonders populäre Stücke geläufig, darunter auch einige Meisterwerke, alle aber in jedem Fall typisch für den Stil, den er zu kultivieren suchte. Die Meisterwerke beinhalten insbesondere die Tondichtung España, die zehn unter dem Titel Pièces pittoresques veröffentlichten Klavierstücke sowie die Orchestrierung von vieren davon, später veröffentlicht als Suite pastorale. Dazu sollten auch einige seiner vielen Lieder gezählt werden, insbesondere l’Ile heureuse, l’Invitation au voyage und Les cigales. Seine komischen Opern Le Roi malgré lui (1887) und l’Etoile (1877) werden ebenfalls gelegentlich aufgeführt und eingespielt. Wo nun steht Gwendoline in Chabriers Schaffen, und welche Position nimmt sie im Kanon westlicher Kunstmusik ein?

Chabrier, hauptberuflich ein staatlicher Bürokrat, nebenamtlich Komponist, schrieb sich die Partitur von Wagners Tannhäuser ab, um sich selbst Instrumentation beizubringen. Er hatte jene berüchtigte Pariser Aufführung von 1861 miterlebt, die französische Komponisten und Kritiker, ob sie nun wollten oder nicht, in Wagnerianer und Anti-Wagnerianer spaltete. Chabrier wurde Wagnerianer der ersten Stunde, wie ihn Steven Huebner in seinem 1999 veröffentlichten Buch French Opera at the Fin de Siècle nannte. Chabriers Weg zu Wagner führte ihn weiter nach München, wo er 1879 den Tristan hörte, daraufhin 1883 nach Brüssel zum gesamten Ring des Nibelungen sowie schließlich zweimal auf Pilgerreise nach Bayreuth im Juli 1889 und September 1891. Auf Vermittlung durch Freunde von Freunden begegnete er sogar dem Meister der zukünftigen Kunst daselbst, doch bei seinem Besuch auf ›Wahnfried‹ spielte der verlegene Chabrier in seiner leidenschaftlich-ungeschickten Art Wagners Flügel komplett zuschanden. Frau Cosima war gar nicht amüsiert …

Gleichwohl war es das Tristan-Erlebnis von 1879, das den Staatsbeamten in einen professionellen Komponisten verwandelte und seine Arbeit an Gwendoline befruchtete, von der er hoffte, daß sie die französische Oper anhand der Prinzipien und Innovationen des Wagnerschen Musikdramas revolutionieren könnte. Chabrier wies Edouard Lalo bei der Präsentation ihres Klavierauszugs stolz darauf hin, daß darin aber auch rein gar nichts zu finden sein würde, was nur entfernt nach Gounod oder Massenet klinge. Damit war das Schicksal der armen Gwendoline bereits besiegelt…
Chabrier begann mit der Arbeit, nachdem ihn ein gleichgesinnter Wagnerianer namens Catulle Mendès das Libretto geliefert hatte. Als die Arien und Szenen fertig komponiert waren, führte er sie in den diversen Salons ein, um Unterstützung jener mächtigen Eliten der französischen Gesellschaft darin zu finden, das zickige und spießige Management der Operá davon zu überzeugen, sein neues Stück dort zu produzieren. Es sollte jedoch noch bis 1893 dauern, bevor es dort wirklich zu einer Aufführung kam, noch dazu, als der Komponist schon viel zu krank war, um überhaupt noch mitzubekommen, daß es sich da wirklich um sein eigenes Werk handelte, oder gar, wie sein Sohn André mitteilte, daß der Applaus ihm selbst galt. Zwar war auch die üblicherweise streitsüchtige, unnachgiebige Pariser Presse recht freundlich, doch wahrscheinlich eher zu Gefallen des kranken Komponisten als aufgrund der Oper selbst. Die Uraufführung hatte bereits sieben Jahre früher im Théâtre de la Monnaie zu Brüssel stattgefunden – welche allerdings wenige Tage und zwei Vorstellungen später Pleite machte und geschlossen worden war …Wie andere innovativ gemeinten, französischen Opern – Berlioz’ Les Troyens, Bizets Carmen, Gounods Faust – profilierte sich auch Gwendoline zunächst in Deutschland: Karlsruhe (1889); Leipzig, Dresden, München (1890) und Düsseldorf (1893) gingen voraus, bevor Frankreich nachfolgte. Nach der Pariser Premiere gab es im frühen 20. Jahrhundert sporadisch weitere Aufführungen, doch dann verschwand Gwendoline fast völlig von den Bühnen. In den USA war das Werk tatsächlich nicht vor 1982 (San Diego), in England erst 1983 zu hören, gut hundert Jahre nach seiner Uraufführung.

Vielleicht vermag es die Zeit, allmählich die Wunden zu heilen, die der Wagnerismus der französischen Oper des fin de siécle schlug. Wer hätte beispielsweise gedacht, daß die gedehnten und stilisierten tragédies lyriques von Lully oder Rameau heute wieder ein Publikum finden? Dann könnten zukünftige Hörer ohne weiteres auch César Francks Hulda, Ernest Reyer’s Sigurd, oder – vielleicht der beste Kandidat für eine Auferstehung – Ernest Chaussons Le Roi Arthus wieder lieben lernen. Freilich scheinen jene üppigen Wagnerismen, die einst der franzöischen Klarheit aufgedrückt wurden, bis heute die Geduld der Hörerschaften zu strapazieren, ebenso all die dichten orchestralen Texturen und die überzogene Verwendung von übermäßigen Akkorden oder Sext-Akkorden im Fortissimo (aufgenommen von Film-Komponisten der Dreissiger Jahre – man denke an Filme mit Marlene Dietrich oder selbst Bette Davis). Auch die endlosen Streicher-Tremoli und Paukenschläge könnte man allenfalls bei Wagner selbst, nicht jedoch bei minderen Geistern tolerieren. Jedenfalls hat der armen Gwendoline ihr Komponist selbst all jene französischen Musen gründlich ausgetrieben, welche andrerseits Faust, Roméo et Juliette, Manon, Werther und Thaïs nun schon seit mehr als einem Jahrhundert am Leben erhalten.

Und doch ist diese Oper hörenswert. Ihre Schwächen – ein allzu knappes Libretto, unausführbare Bühnen-Anweisungen, ein seltsamer Mangel an musikalischer Charakterisierung – unterlaufen keineswegs immer ihre Stärken. Winton Dean wies 1983 in seiner Rezension der britischen Erstaufführung in der Musical Times darauf hin, daß Chabrier, wenn er einmal »seine Wagnerische Deklamation vergißt, in einer üppigen, essentiell französischen Art schreibt, die weitaus überzeugender wirkt als bei all seinen Zeitgenossen.« Insbesondere die ausgesprochen französischen Rezitative des Komponisten nehmen bereits viel von der weitschweifigen Deklamation in Debussys Pelléas et Mélisande vorweg. Wenn auch Chabrier kein ganz großes Licht war, so war er doch als Komponist bedeutend genug, um nicht nur Debussy, sondern auch Satie, Poulenc, Milhaud und anderen Größen des 20. Jahrhunderts Impulse zu geben – wenn auch zugegebenermaßen nicht gerade mit seinen wagneristischen Werken. Die Entdeckung der Gwendoline trägt zur Vervollständigung des Wissens um die französiche Oper ebenso bei, wie sie uns einen bildhaften, wenn auch regional begrenzten Seitenpfad erschließt, der von der Hauptstraße der Oper mit Wagner und Verdi weg führt. Die meisten musikalischen Entdeckungsreisenden werden gleichwohl ebenso wie Winton Dean vielleicht finden, daß ein Hören der Oper doch »eine Erfahrung ist, die man nicht missen möchte – auch wenn man sie nicht unbedingt wiederholen will.«

Handlung
Ein kleines, sächsisches Dorf erwacht und preist den neuen Tag. Gwendoline, Tochter des Häuptlings Armel, ruft die Frauen zu den Sicheln für die Feld-Arbeit und die Männer zu den Harpunen für das Fischen auf See. Doch sie hat beängstigende Visionen, die sie Armel offenbart, bevor er aufs Meer hinauszieht. In einem Traum sah sie, wie die verhaßten Dänen die Küsten heimsuchen. Armel beruhigt sie und weist darauf hin, wie stark und schnell sein Boot sei. Einige Frauen nehmen schließlich ihre Web-Arbeiten auf und singen ein Spinnerinnen-Lied, um Gwendoline zu beruhigen. Da eilen Armel und seine Mannen zurück in das Dorf. Die Dänen tatsächlich gesichtet und unterwegs: Flieht! Versteckt Frauen und Kinder! Zu spät: Die Dänen überfallen das Dorf, umzingeln die Bewohner und stimmen ein Siegeslied an. Armel wird vor den Dänen-Häuptling Harald geführt. Er möge sich unterwerfen und den versteckten Dorfschatz herausrücken. Armel widersetzt sich ihm, und Harald droht ihn mit dem Schwert zu töten. Gwendoline eilt ihrem Vater zuhilfe, und Harald wird geblendet von ihrer Schönheit und Tapferkeit. In Liebe zu ihr erglüht, schickt er alle Anwesenden hinaus und versucht, sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, ungeachtet seiner schrecklichen Rohheit und seinem grausamen Sodaten-Dasein. Gwendoline, berührt von seinem Antrag, verspricht, ihn auch zu lieben, wenn er das Dorf und den Vater verschont. Armel erlaubt Gwendoline, Harald zu heiraten, doch insgeheim plant er mit seinen Mannen Verrat: Die dann sicherlich betrunkenen Dänen sollen nach der Hochzeitsfeier mit ihren eigenen Waffen getötet werden. Er gibt Gwendoline ein Messer, den Harald zu töten. Sie wird zerrieben zwischen ihrer Treue zum Vater und der Liebe zu Harald. In einem leidenschaftlichen Liebesduett versucht sie noch, Harald zu warnen, wird aber unterbrochen, da ihre sächsischen Stammesgenossen bereits die dänischen Langboote angreifen, um ihnen den Rückweg abzuschneiden. Harald wird im Kampf verwundet, und um weder den Vater noch den Geliebten verraten zu müssen, ersticht sich Gwendoline selbst mit ihres Vaters Dolch. Beide singen: »In den finstren Schatten brennt schon unser Totenfeuer, doch seine Flammen tragen uns hinauf zum Licht.« Gwendoline stirbt in Haralds Armen, während der Chor von dem herrlichen Platz am Tische Gottes singt, den sich das Paar durch sein heldenhaftes Verhalten verdient hat.

David Gilbert, Los Angeles, CA © 2007
Deutsche Übersetzung von Benjamin-Gunnar Cohrs, © 2007 (Kontakt: bruckner9finale@web.de)

Emmanuel Chabrier
(b. Ambert, Puy-de-Dôme, 18 January 1841 — d. Paris, 13 September 1894)

Gwendoline
Opéra en Trois Actes. Poéme de Caulle Mendés
(Brussels, Théâtre de la Monnaie, 10 April 1886)

Preface
Emmanuel Chabrier’s name remains before the music loving public due to the popularity of several works, a few of them musical masterpieces, but least typical of the compositional style he most hoped to cultivate. The masterpieces include the tone poem, España, the ten piano pieces published as Pièces pittoresques and the orchestration of four of them published together as the Suite pastorale. Several of his songs should be included also, particularly l’Ile heureuse, l’Invitation au voyage, and Les cigales for example. The comic operas Le Roi malgré lui (1887), and l’Etoile (1877) receive occasional performances and recordings. Where does Gwendoline fall in Chabrier’s œuvre and in the musical canon of Western art music?

Chabrier, a full time government bureaucrat, part time composer, copied the score of Tannhäuser to teach himself orchestration. He had heard the performance at the Opéra in 1861 that caused the bifurcation of French composers and critics, willingly or not, into Wagnerians and anti-Wagnerians. Chabrier went willingly and became the Wagnerian of the First Hour, as Steven Huebner calls him in his 1999 book, French Opera at the Fin de Siècle. Chabrier’s road to premiere French Wagnerian continued with his hearing Tristan in Munich in 1879, the complete Ring in Brussels in 1883, and pilgrimages to Bayreuth in July 1889 and September 1891. Through friends of friends, Chabrier even met the Master of the Art of the Future. During his visit to Wagner’s house, Chabrier – embarrassed – broke the Master’s piano while playing in his ecstatic, hamfisted way. Cosima was not amused.

It was the Tristan experience in 1879, though, that turned the government official into a professional composer and engendered his work on Gwendoline, an opera that he hoped would revolutionize French opera on the principles and innovations of the Wagnerian music drama. The composer proudly noted to Edouard Lalo in a presentation copy of the vocal score that nothing of Gounod nor of Massenet was to be found therein. Alas, for poor Gwendoline.

Chabrier began work on his opera after receiving the draft libretto from a fellow Wagnerian, Catulle Mendès. As arias and scenes were completed, he brought them into the salon circuit to build support among the powerful elite of French society necessary to convince the fickle and conservative management of the Opéra to produce the complete work. That production was not to take place until 1893, by which time the composer was almost too ill to recognize the music as his own or, according to his son André, that the applause was indeed for Chabrier himself. The usually contentious and unforgiving Paris press was also kind, although possibly as much in respect for the ailing composer as for the opera itself. The premiere had taken place seven years earlier at the Théâtre de la Monnaie in Brussels which only a few days and two performances later closed due to bankruptcy. As with other innovative French works – Les Troyens, Carmen, Faust – performances of Gwendoline proliferated in Germany before France condescended: Karlsruhe (1889); Leipzig, Dresden, and Munich (1890); and Düsseldorf (1893). After the Paris premiere, productions took place sporadically through the early part of the 20th century before mostly disappearing. The opera was not produced in the United States until 1982 (in San Diego) or in the United Kingdom until 1983, almost a century after its premiere.

Perhaps time will cover the wounds Wagnerism inflicted on this late 19th-century style of French opera. After all, who knew fifty years ago that the sprawling and stylized tragédies lyriques of Lully and Rameau would find an audience today? Maybe listeners in the future will learn to appreciate César Franck’s Hulda, Ernest Reyer’s Sigurd, or – possibly the best candidate for resurrection – Ernest Chausson’s Le Roi Arthus. But the heavy-handed Wagnerian tonal procedures imposed on French clarity seem to have tried the patience of audiences up to now, along with the dense orchestral textures, the overuse of fortissimo augmented and sixth chords (adopted by film composers of the 1930s – think of films starring Marlene Dietrich or even Bette Davis). And the endless string tremolos and timpani beats might be tolerated from Wagner but not from lesser hands. Alas, for poor Gwendoline, that its composer exorcised the French muse that has kept Faust, Roméo et Juliette, Manon, Werther, and Thaïs alive for a century or so.

And yet the opera is worth hearing. Its faults – an overly concise libretto, impossible stage directions, an odd lack of musical characterization – do not always override its strengths. As Winton Dean points out in his Musical Times review of the 1983 British premiere: when Chabrier »forgets about Wagnerian declamation he writes in a voluptuous and essentially French manner with greater conviction than most of his contemporaries.« The composer’s essentially French recitative prefigures the effortless declamation of Pelléas et Mélisande. And Chabrier, although a lesser light, was a musical genius with an impact not only on Debussy, but also on Satie, Poulenc, Milhaud, and other 20th-century musicians, but with his least Wagnerian compositions. Exploring Gwendoline provides a more complete knowledge of French opera and of a picturesque, musical provincial byway that branched from the operatic highway laid down by Wagner and Verdi. Nevertheless, most musical travelers will find, as Winton Dean did, that a hearing of the opera is »an experience never to be missed, but not requiring repetition.«

Synopsis of the Action
A Saxon village awakens and sings the glory of the new day. Gwendoline, daughter of Armel, the chief of the village, encourages the women to take up their sickles for their work in the fields and the men their harpoons for their work in the sea. Before he leaves, Gwendoline confides to Armel her fearful visions: the heathen Danes are patrolling the coasts, she has seen them in a dream. Armel comforts her, his boat is strong and goes easily. Gwendoline and some other women take up their weaving. The women sing a spinning song, trying to console Gwendoline in her fears. Suddenly Armel and others rush back to the village; the Danes have been sighted and are on their way. Flee! Hide the women and children! But they are too late, the Danes enter the village, surround the inhabitants, and sing a victory song. Armel is brought to Harald, chief of the Danes, who boasts of their victory and demands all of the gold hidden in their village. Armel defies him and Harald threatens to put him to the sword. Gwendoline rushes in to save her father and Harald is smitten with Gwendoline’s beauty and bravery. He falls in love and dismissing everyone, tries to convince her of his worthiness despite his rude awkwardness and crude soldierly ways. Gwendoline is touched by his plea and pledges to love him also if he will spare the village and her father. Armel gives his permission for Gwendoline to marry Harald, but at the same time plots to destroy the Danes with their own weapons during the drunken celebration of the marriage. He gives Gwendoline a knife with which to murder Harald and she is torn by her allegiance to her father and her love for Harald. She tries to warn Harald during a passionate love duet, but it is interrupted when the Saxons attack and burn the Danish ships to cut off retreat. Harald is wounded in the fight and rather than betray both her father and her lover, Gwendoline stabs herself. They sing: »It is our funeral pyre that burns in the shadows, and the flames carry us into the sunshine!« Gwendoline dies in Harald’s arms as the chorus sings of the glorious place at the table of the gods the couple have earned.

David Gilbert, Los Angeles, CA © 2007

 

 

 

 

For performance material please contact the publisher Simrock, München. Reprint of a copy from the collection Tom Zelle, Chicago.