Peter Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 - gest. St. Petersburg, 6. November 1893)
Schwanensee
Ballett in vier Akten, op.20
Vorwort
Auf die Frage hin, ob sie den Namen eines ihnen bekannten Balletts nennen könnten, würden sicherlich die meisten Menschen mit Schwanensee antworten, auch und vielleicht gerade solche, die ansonsten wenig mit dem Begriff »Ballett» in Verbindung bringen. Wie kommt es, dass Schwanensee so populär ist, und dass Melodien daraus für Popsongs und als Untermalung für Fernsehwerbespots herhalten müssen?
Es liegt nahe, hierfür in erster Linie die Qualität der Musik verantwortlich zu machen, doch hat Peter Tschaikowsky mit seinem Balletterstling wirklich so hohe Maßstäbe für eine ganze Kunstgattung gesetzt? Kenner der Materie behaupten überraschend übereinstimmend, dass die beiden nachfolgenden Ballette des Komponisten, Dornröschen und Der Nussknacker, in Bezug auf symphonische Durchgestaltung bzw. Instrumentation musikalisch deutlich überlegen sind.
Liegt es vielleicht am Libretto von Schwanensee? Doch wen interessiert an einem Ballett schon der genaue Handlungsablauf, zumal dieser im vorliegenden Fall im Verlauf der Rezeptionsgeschichte auch noch verändert wurde!
Oder sind bzw. waren es letztendlich wegweisende Inszenierungen und Choreographien, die die große Popularität von Schwanensee begründen?
Vermutlich liegt der Erfolg des Werkes in der glücklichen Synthese all dieser Parameter, und es bleibt hier anzumerken, dass die ersten Aufführungen zunächst gar nicht besonders vielversprechend verliefen.
Im Sommer 1875 wird Tschaikowsky von der Direktion des Moskauer Bolschoi Theaters beauftragt, Musik zu einem Ballett mit dem Titel Schwanensee zu komponieren. Der Autor des Librettos lässt sich heute nicht mehr genau feststellen, in Betracht kommen der Dramaturg des Theaters, Wladimir Begitschew, der Tänzer Wassili Geltzer sowie der Ballettmeister Julius Reisinger, möglicherweise waren alle drei daran beteiligt. Auch die offensichtlich aus Deutschland stammende Vorlage zum Libretto lässt sich nicht mit Sicherheit quellenmäßig belegen.
Tschaikowsky hatte bis zu diesem Zeitpunkt schon zwei Anläufe in Richtung Ballett unternommen: Die Vertonung von Cendrillion (= Aschenbrödel), sowie ein einaktiges Kinderballett für die Kinder seiner Schwester Alexandra, auch unter dem Namen Schwanensee. Beide Werke sind jedoch nicht überliefert bzw. über die Planung hinausgekommen. Der Kompositionsverlauf des neuen Werkes muss weitgehend aus der Korrespondenz des Komponisten abgeleitet werden, da Skizzenmaterial so gut wie gar nicht erhalten ist. In einem Brief an Sergej Tanejew vom 14. August 1875 schreibt Tschaikowsky, dass zwei Akte bereits entworfen sind. Anfang 1876 unterbricht der Komponist die Arbeit, um sein drittes Streichquartett fertig zu stellen, und am 17. März 1876 teilt er seinem Bruder Anatoli schriftlich mit, dass er mit der Orchestrierung des Balletts beschäftigt sei und noch zweieinhalb Akte zu erledigen hätte. In der Reinschrift der Partitur finden sich zwei Daten. Am Ende des dritten Stückes im 1. Akt der Vermerk «13. Oktober 1875» (hierbei muss offen bleiben, ob der komplette Entwurf zum Ballett zu diesem frühen Zeitpunkt schon abgeschlossen war) und am Schluss des Werkes das Datum «10. April 1876».
Nur für zwei Nummern hat Tschaikowsky nachweislich Material aus früheren Kompositionen übernommen. Der Entr’acte Nr. 25 stammt aus der Oper Der Voevode, und die Nr. 13/V Pas d’action ist der Oper Undina entnommen, deren Partitur Tschaikowsky später vernichtet hat und von der nur wenige weitere Stücke in anderen Werken Tschaikowskys nachweisbar sind.
Mit dem Schlussdatum der Partiturreinschrift endet zwar der Kompositionsprozess, doch beginnt damit zugleich die endlose und bis heute andauernde Geschichte von Umstellungen, Kürzungen und Neueinlagen für Schwanensee. Noch kurz vor der Uraufführung fügt Tschaikowsky auf Drängen des Choreographen Reisinger für die Ballerina Pelagaja Karpakowa einen Russischen Tanz ein (vgl. Anhang).
Die Uraufführung findet am 20. Februar 1877 in Moskau unter der musikalischen Leitung von Stepan Riabow statt. Aufgrund der mangelhaften Vorbereitung und der wenig an-sprechenden Ausstattung der Aufführung ist der Erfolg nur mäßig. Ob hierbei einzelne Nummern gekürzt oder gar schon durch fremde Musik ersetzt wurden, ist nicht mehr ganz zu klären, aber sehr wahrscheinlich. Für die fünfte Aufführung dieser Inszenierung im April 1877 komponierte Tschaikowsky auf Bitten von Anna Sobeschchanskaja, die als Ablösung von Karpakowa auftrat, einen Pas de deux als Ergänzung zum 3. Akt (vgl. Anhang).
Mit der Neuinszenierung durch den Reisinger-Nachfolger Joseph Hansen wird die Praxis der Veränderungen in der Musikzusammenstellung bei Schwanensee soweit fortgeführt, dass schließlichb - nach Erinnerungen des Moskauer Musikhistorikers Nikolai Kaschkins - nahezu ein Drittel der Originalmusik Tschaikowskys durch Musikstücke aus anderen Balletten ersetzt worden war. So hielt sich das Werk weiterhin mit nur mäßigem Erfolg bis 1883 im Spielplan und wurde danach zu Lebzeiten des Komponisten nicht mehr aufgeführt.
Angeregt durch eine konzertante Aufführung in Sankt Petersburg beschloss die Direktion des Mariinski Theaters, das Werk in einer Neuinszenierung in den Spielplan aufzunehmen, und beauftragte Modest Tschaikowsky, den Bruder des Komponisten, mit der Um-arbeitung des Librettos. Diese erfolgte schließlich mit weit reichenden Folgen, so wurde die Zahl der Akte von vier auf drei reduziert, und der tragische Schluss wurde - völlig unpassend zur Musik - in ein «Happyend» verwandelt, um nur die wichtigsten Aspekte zu benennen. Auch die Musiknummern wurden erneut umgestellt, gekürzt und durch andere Musikeinlagen, wenn auch diesmal pietätvollerweise Bearbeitungen von Originalwerken Tschaikowskys, ergänzt.
Am 15. Januar 1895 erfolgte die erste Aufführung dieser «Neufassung» unter der Leitung von Riccardo Drigo und der Choreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow. Aufbauend auf diese Neuinszenierung setzte sich Schwanensee schließlich bis heute erfolgreich durch.
Mögen dramaturgische, choreographische oder schlicht zeitliche Gründe (Schwanensee dauert komplett immerhin zweieinhalb Stunden!) eine Veränderung oder Kürzung der Musik im Rahmen einer Ballettaufführung durchaus rechtfertigen, so sind diese vom Komponisten jedoch zu keiner Zeit autorisiert worden. Auch die Zusammenstellung einzelner Musiknummern zu einer Suite erfolgte nicht durch Tschaikowsky selber. Die Musik zu Schwanensee mit ihrer einprägsamen, schlichten Melodik und den gut verständlichen Leitmotiven ist in allen musikalischen Parametern über die gesamte Dauer des Balletts von gleichbleibend hoher Qualität und verdient es durchaus, zumindest konzertant in ganzer Länge gehört zu werden. So mancher «Partiturmitleser» wird enttäuscht sein, dass seine «Gesamtaufnahme» auf CD auch Kürzungen aufweist!
Die vorliegende Partiturausgabe (Nachdruck der alten Tschaikowsky- Gesamtausgabe von 1957) folgt der autographen Partitur, die erstmals im Verlag Jurgenson 1895 in Moskau verlegt worden ist. Der Russische Tanz (20a) ist als Anhang 6 (Seite 384ff.) wiedergegeben, der teilweise nur in Form eines Auszuges für zwei Violinen überlieferte Pas de deux (19a) wird in der ergänzenden Instrumentation von Vissarion Schebalin als Anhang 5 (Seite 333ff.) dargeboten.
Personen und Handlung
Personen
Odette, gute Fee
Siegfried, Prinz
Siegfrieds Mutter
Rotbart, böser Zauberer
Odile, seine Tochter
Wolfgang, Siegfrieds Erzieher
Benno von Sommerstern, Siegfrieds Freund
Baron von Stein und seine Frau
Freiherr von Schwarzfels und seine Frau
Zeremonienmeister, Höflinge, Diener, Boten
und Dorfbewohner
Handlung
- Introduktion -
Vorstellung zweier Leitmotive, gut/böse
- Erster Akt -
Gartenterrasse vor Siegfrieds Schloss
1. Scène: Prinz Siegfried feiert seine Volljährigkeit, Gratulanten treffen ein, es wird getanzt.
2. Valse
3. Scène: Die Mutter des Prinzen erscheint, unterbricht das Fest, teilt mit, dass sie
die baldige Vermählung Siegfrieds wünscht, das Fest wird fortgesetzt.
4. Pas de trois
5. Pas de deux
6. Pas d’ action: Tanz des betrunkenen Erziehers Wolfgang.
7. Sujet: Ein Gast schlägt vor, mit Bechern in der Hand einen Tanz zu beginnen.
8. Danse de coupes: „Bechertanz».
9. Finale: Ein Schwarm Schwäne fliegt vorüber.
- Zweiter Akt -
An einem Waldsee
10. Scène: Die Schwäne schwimmen auf dem See, Siegfried auf Schwanenjagd.
11. Scène: Siegfried trifft auf Odette, Odette erzählt von dem Zauber, der auf ihr
lastet: „der Schwan, den du töten wolltest, war ich!»
12. Scène: Siegfried schwört der Jagd ab.
13. Danse de cygnes: Tanz der Schwäne, Siegfried gesteht Odette seine Liebe und
und schwört ewige Treue.
14. Scène: Odette und die Schwäne gehen in den See zurück.
- Dritter Akt -
Im Schloss vom Prinzen Siegfried
15. (Vorspiel und Szene): Festmusik zu einem Ball auf dem Schloss, Begrüßung der Gäste.
16. Danses du corps de ballet et des nains: Tanz der Gäste und der Zwerge.
17. Scène, Sortie des invités et valse: Auftritt weiterer Gäste und Tanz.
18. Scène: Siegfrieds Mutter fragt, ob ihm ein Mädchen gefällt. Siegfried verneint.
Da erscheint Rotbart mit seiner Tochter Odile, die verblüffend Odette
gleicht.
19. Pas de six: Tanz der Edelfräulein
19a Pas de deux: Tanz Siegfrieds mit Odile
20. Danse hongroise
20a. Danse russe
21. Danse espagnole
22. Danse napolitaine
23. Mazurka
24. Scène: Siegfrieds Mutter ist erfreut über die Wahl ihres Sohnes. Odile und
Siegfried tanzen. Rotbart gibt sich als Zauberer zu erkennen, der Prinz
ist entsetzt und flieht aus dem Schloss.
- Vierter Akt -
Am Waldsee
25. Entr’ acte: Prinz Siegfried am Waldsee.
26. Scène: Die Schwäne erwarten Odette.
27. Danse des petits cygnes: Tanz der kleinen Schwäne.
28. Scène: Odette offenbart den Freunden Siegfrieds Treuebruch. Sie trifft
auf Siegfried, Sturm und Donnergrollen sind zu hören.
29. Scène finale: Siegfried bittet Odette um Verzeihung, doch Odette reißt sich los
und eilt zum See. Siegfried folgt ihr und beide versinken vereint
in den Fluten des tobenden Sees. Sturm und Gewitter ziehen ab,
über den beruhigten See erscheint ein Schwarm weißer Schwäne.
Wolfgang Eggerking, 2006
Aufführungsmaterial ist von der Bärenreiter, Kassel zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig..
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