Rudi Stephan
(geb. Worms, 29. Juli 1887
gest. bei Tarnopol in Ostgalizien [heute Ternopil, West-Ukraine], 29. September 1915)

Opus I für Orchester
(1908)
Motto: Vorwärts sehen, vorwärts streben –
keinen Raum der Schwäche geben!

Orchester-Besetzung

3 Flöten (3. auch Piccolo)
3 Oboen (3. auch Englisch Horn)
3 Klarinetten
1 Bassklarinette
3 Fagotte
1 Kontrafagott
6 Hörner
4 Trompeten
3 Posaunen
1 Tuba
Pauken
Schlagzeug:
Große Trommel
Kleine Trommel
Tamtam
Becken
Triangel
Glockenspiel
Celesta (kann durch Klavier ersetzt werden)
2 Harfen
Streicher

*

Die Partitur ist in C notiert.
Aufführungsdauer: ca. 16 Minuten

 

Anmerkung zum Notentext
1. Alle Instrumente sind nichttransponierend notiert, ausgenommen Piccolo, Kontra- fagott und Kontrabass, die eine Oktave höher bzw. tiefer klingen als geschrieben.
2. Fehlende Vorzeichen sind im Notentext ergänzt.
3. Stephan lässt bevorzugt in schnellen Sekundfortschreitungen oft einem Ton des sen enharmonische Verwechslung folgen und verbindet beide Töne mit einem Legatobogen (z.B. 3. Takt nach Ziffer 14, Violinen). – Es liegt kein Irrtum oder das Fehlen eines Vorzeichens vor. Ein Grund dafür dürfte in Stephans Bemühen um eine konsequente Intervallstruktur der Linie liegen, ein anderer, dem Instrumentalisten das Erfassen wenig gebräuchlicher Intervalle zu erleichtern (Stephan war Pianist und kannte zu dieser zeit vermutlich noch nicht genügend die Streicherpraxis). In späteren Werken findet sich diese Schreibweise nur noch vereinzelt.
4. Die vorliegende Partitur ist die Abschrift eines Kopisten.

*

Im Herbst 1908 schloss der damals 21-jährige Rudi Stephan seine Studien bei dem Münchner Musik­theoretiker und Komponisten Rudolf Louis ab. Am 1. Juli desselben Jahres hatte Stephan sein erstes Orchesterwerk mit dem Titel Opus I für Orchester beendet. Von Aufführungen des Werkes ist nichts bekannt, lange Zeit galt dieses Werk sogar als verschollen, da am Ende des Zweiten Weltkriegs der komplette in Worms liegende Nachlass des 1915 im Ersten Weltkrieg gefallenen Stephan verbrannt ist. Die Existenz von Opus I bezeugte bisher nur die Nachlassbeschreibung einer 1943 abgeschlossenen Dissertation über Rudi Stephan von Alfred Machner.

Im Jahre 2003 fand Christoph Schlüren im Archiv der Münchner Philharmoniker eine handschriftliche Partitur und einen fast kompletten Stimmensatz des Werkes in unbenutztem Zustand in einer Mappe mit der nicht originalen Aufschrift: „Rudi Stephan, Konzert für Orchester op.1“. Die beiden ersten Seiten der Partitur mit Werktitel und Besetzungsangabe sind von Stephans Hand, der Notentext und die Orchesterstimmen sind Kopistenabschriften mit einigen wenigen Eintragungen Stephans.

Die Münchner Philharmoniker entwickelten sich 1924 aus dem damaligen Münchner Konzertvereins-Orchester, das unter Stephans Leitung am 16. Januar 1911 drei seiner Werke in München uraufgeführt hatte, die Musik für Orchester und Musik für Geige und Orchester sowie die Ballade Liebeszauber für Tenor und Orchester. Dem Konzertvereins-Orchester dürfte Stephan zwischen 1908 und 1910 Partitur und Stimmen von Opus I zugeschickt haben, wohl in der Hoffnung auf eine Aufführung. Diese erfüllte sich nicht, und Stephan wird bald das Interesse an diesem Werk verloren haben.

Die Wiederentdeckung von Opus I ermöglicht einen aufschlussreichen Blick auf die Anfänge von Stephans Komponieren für Orchester. Vorausgegangene Entwürfe und Skizzen aus der Jugendzeit zeigen den jungen Komponisten unter dem Einfluss der Neudeutschen Schule, erst das Studium bei Bernhard Sekles in Frankfurt/Main in den Jahren 1905/06 deutet ein allmähliche Neuorientierung an, aber es bleibt bei Skizzen und Entwürfen vor allem von Charakterstücken. Das erste vollendete Orchesterwerk ist Opus I.

Das Motto auf der Titelseite der Partitur „Vorwärts sehen, vorwärts streben – keinen Raum der Schwäche geben!“ spiegelt viel von Stephans Persönlichkeit wider. Die Gesellschaft in seinen Münchner Studienjahren mied er und war von einem Arbeitsethos erfüllt, das ihn manchmal wochenlang sich in die Einsamkeit zum Komponieren zurückziehen ließ. Er glaubte, nur dort könne sich seine innere künstlerische Stimme frei entfalten, wie ein Jugendfreund berichtete.

Bedeutsamer für das Werk ist die überlieferte Bemerkung zu einem verloren gegangenen Entwurf zu Opus I: „Keinen poetischen Titel, nicht die Benennung Tondichtung und gar nichts“, für die damalige Zeit und für einen jungen Komponisten eine kühne Aussage, ja ein „Programm“. Stephan bekennt sich unmissverständlich zur absoluten Musik, ja geht noch darüber hinaus, da dieser Titel selbst formale Implikationen, wie sie z.B. jede Sinfonie prägt, vermeidet. Bei allen folgenden Orchesterwerken wird Stephan auf „beredte“ Titel verzichten und sie nur Musik für nennen, dem die Besetzungsangabe folgt.

Opus I entwickelt die Form aus sich heraus. Es ist eine offene Form, weder tonal noch thematisch kehrt sie zum Anfang zurück. Zwar lässt sich ein reprisenartiger Abschnitt erkennen, auch zwei gegensätzliche Themen in parallelen Tonarten. Aber bereits deren Verwendung bricht aus der sinfonischen Tradition aus, sie werden eher gereiht als entwickelt. Vollends stört der vierte Großabschnitt (ab Ziffer 36) das auch nur vage Modell eines Sonatensatzes: Stephan führt ein drittes Thema mit einem Fugato ein, also einer Satzstruktur, die im sinfonischen Schaffen kaum einen Platz hat und auch in Stephans weiterem Schaffen kaum von Bedeutung ist. Die Offenheit der Form bekräftigt die überraschende Schlusstonalität A-Dur, weit entfernt von der Ausgangstonart e-Moll. Dennoch ist Stephans Werk keine lose und undurchdachte Aneinanderreihung musikalischer Formabschnitte. Den inneren Zusammenhalt des Werkes gewährleistet die Überlagerung verschiedener Zusammenhang stiftender Netze. Zu ihnen gehören vor allem Tonalität, Thematik und Tempogestaltung. Formal auffällig ist auch die Setzung von Klangzentren, lange ausgehaltenen Klangflächen, denen in den späteren Werken große formale Bedeutung zukommen wird.

Die formale, tonale und klangliche Konzeption weist Opus I als erste Realisierung einer allen folgenden Orchesterwerken zugrundeliegenden Werkidee aus. Stephan verweigert jede Zuordnung zu einer Schule, löst sich von Traditionen und sucht einen ganz eigenen Weg.

Beziehungen des Opus I zum Gesamtwerk Stephans zeigt auch das verwendete thematische Material:

Das erste Thema (Ziffer 1) ist eine Übernahme aus der im August 1907 vollendeten und unveröffentlichten Komposition Für Harmonium und wird nur geringfügig verändert in Musik für sieben Saiteninstrumente (1911) wieder aufgegriffen.

Das zweite Thema (Ziffer 18ff.) bildet in gleicher Tonart, Besetzung und Faktur ebenfalls das zweite Thema der Musik für Geige und Orchester 1913). Solche Übernahme von Themen in andere Werke findet sich bei Stephan häufig. Als Komponist war er stets ein Suchender und gab sich mit der jeweils gefundenen Lösung nicht zufrieden. In einer kurz vor seinem Tod verfassten autobiographischen Skizze schreibt er: „Eine Bewertung meines bisherigen Schaffens scheint mir nur auf Grund meiner Oper möglich... Die anderen Arbeiten waren mehr oder weniger Orientierungen“. Dass diese „Orientierungen“ aber gelungene Schöpfungen sind, erweisen sie beim Hören und Analysieren sehr wohl.

Stephans nach 95 Jahren wieder aufgetauchtes Orchesterwerk ist nicht das Meisterwerk eines Frühvollendeten, aber es ist mehr als ein sich nur radikal gebendes Jugendwerk. Opus I ist Stephans Antwort auf den handwerklichen und ästhetischen Stand des Komponierens um 1900 und zeigt einen hochinteressanten Weg jenseits der Radikalität der Wiener Schule und der die Szene immer noch dominierenden dem 19. Jahrhundert verhafteten Musik auf. Der frühe Tode Stephans im Ersten Weltkrieg beendete einen vielversprechenden Weg und eine der großen Hoffnungen seiner Zeit.
Hartwig Lehr, 2006
Informationen zum Aufführungsmaterial erhalten Sie bei Musikproduktion Höflich, München (www.musikmph.de).

Rudi Stephan
(b. Worms, 29 Juli 1887
d. near Tarnopol in Eastern Galicia [today Ternopil, Western Ukraine], 29 September 1915)

Opus I for Orchestra
(1908)
Motto: “Look to the front, strive to the fore,
Leave no room for weakness!“

Scoring

3 flutes (flute 3 doubles piccolo)
3 oboes (oboe 3 doubles cor anglais)
3 clarinets
2 bass clarinet
3 bassoons
1 contrabassoon
6 horns
4 trumpets
3 trombones
1 tuba
Timpani
Percussion:
bass drum
snare drum
tam-tam
cymbals
triangle
glockenspiel
Celesta (or piano)
2 harps
Strings

*

The score is notated at sounding pitch.
Duration: approx. 16 mins.

 

 

Notes on the Musical Text

1. All instruments are written at sounding pitch except for the piccolo, contrabas soon, and double bass, which are notated an octave higher or lower, as applica ble.
2. Missing accidentals have been added to the text.
3. Stephan often follows a note with its enharmonic equivalent and connects the two notes with a slur, especially in fast stepwise progressions (e.g. m. 3 after rehearsal number 4 in the violins). This indicates either a mistake or the absen ce of an accidental. One possible explanation may be his effort to maintain a con sistent intervallic structure in the line; another might be a desire to simplify uncommon intervals for the player's benefit (Stephan was a pianist and presu mably insufficiently familiar with string technique at the time). This form of not ation virtually disappears in his later works.
4. The present score is a copyist's manuscript.

*

In the autumn of 1908 Rudi Stephan, then twenty-one years old, finished his studies with the Munich theorist and composer Rudolf Louis. He had completed his first orchestral work on 1 July of that year, giving it the title Opus I für Orchester. The work is not known to have been performed and was long even considered lost, for Stephan’s complete posthumous papers, preserved in Worms, were destroyed by fire at the end of World War II (he had died on a World War I battlefield in 1915). The only evidence for the existence of Opus I was Alfred Machner’s dissertation of 1943, which contained an inventory of Stephan’s posthumous estate.

In 2003 Christoph Schlüren discovered a handwritten score of the work and an almost complete set of parts in the archive of the Munich Philharmonic Orchestra. The unused manuscripts were kept in a folder bearing a non-autograph inscription that translates as «Rudi Stephan, Concerto for Orchestra, op. 1.» The first two pages of the score, containing the work’s title and scoring, are in Stephan’s hand, but the musical text and the orchestral parts are in the hand of a copyist, with a few annotations by the composer.

The Munich Philharmonic Orchestra emerged in 1924 from the orchestra of the Munich Concert Society (Münchner Konzertvereins-Orchester), which, on 16 January 1911, had given the premières of three works by Stephan under the composer’s baton: Music for Orchestra, Music for Violin and Orchestra, and the ballad Liebeszauber for tenor and orchestra. Stephan presumably handed the score and parts of Opus I to the orchestra at some point between 1908 and 1910, probably hoping to obtain a performance. This hope remained unfulfilled, and he soon lost interest in the work.

The rediscovery of Opus I sheds revealing light on the beginnings of Stephan’s orchestral style. His earlier sketches and drafts show the young composer under the influence of the New German School; it was not until his studies with Bernhard Sekles, in Frankfurt am Main in 1905-6, that he gradually found a new direction. But these works, mostly character pieces, never proceeded beyond sketches and drafts; his first finished orchestral work is Opus I.

The motto on the title page of the score - «Look ahead, strive to the fore, / Leave no room for weakness!» - says much about Stephan’s personality. During his years of study in Munich he avoided company and pursued a work ethic that sometimes caused him to seek solitude for weeks on end in order to compose. As a friend of his youth later recalled, it was only there that he felt his inner voice could freely evolve. More significant to the work itself is a remark handed down concerning a lost draft of Opus I: «No poetic title; no mention of symphonic poem; nothing at all!» For a young composer at that time, this was a bold statement, perhaps even a «manifesto.» Stephan staunchly proclaimed his allegiance to absolute music; indeed, he went even further than that, for the title skirts formal implications of the sort normally associated, say, with a symphony. Stephan dispensed with self-explanatory or programmatic titles in all his subsequent orchestral works, using only the phrase «Music for ... « followed by the scoring.

Opus I has a freely evolving and open-ended form that, at the end, returns neither to the tonic key nor the themes of its opening. Although a section of recapitulation and even two contrasting themes in parallel keys are detectable, their use departs from symphonic tradition, being juxtaposed rather than developed. A vague outline of sonata-allegro form is completely dispelled by the fourth large-scale section (from rehearsal number 36), where Stephan introduces a third theme with a fugato - a formal device that not only parts ways with the symphonic style but has little relevance to his later music. The open-endedness of the form is underscored by the surprising choice of A major as the concluding tonality, far removed from the E minor of the opening. Nonetheless, Stephan’s work is not a loose and haphazard series of unrelated sections. Its inner coherence is vouchsafed by the superposition of various context-imparting networks, including tonality, thematic structure, and the treatment of tempo. Equally important to the form is his placement of sonic centers, sustained sound-surfaces that would attain great formal significance in his later music.

The formal, tonal, and sonic conception of Opus I reveals it to be the first instance of an idea that would underlie all of Stephan’s subsequent orchestral works. Stephan deliberately avoids categorization in a school, abandons traditions, and strikes out on a path all his own.

The thematic material of Opus I likewise relates to Stephan’s complete oeuvre. The first theme (rehearsal number 1) is borrowed from his unpublished composition Für Harmonium, completed in August 1907, and later recurs, slightly modified, in Musik für sieben Saiteninstrumente (“Music for Seven String Instruments,” 1911). The second theme (rehearsal number 18 ff.) also forms the second theme of his Musik für Geige und Orchestra (“Music for Violin and Orchestra,” 1913), where it appears in the same key, scoring, and texture. Self-borrowings of this sort are frequent in Stephan’s music: always the seeker, he was never content with his earlier solutions. In an autobiographical sketch written shortly before his death, he declared that «an evaluation of my previous music seems possible only on the basis of my opera.... The other works were more or less attempts to find a direction.» Yet, on closer hearing and analysis, these «attempts» prove to be perfectly acceptable works of art.

Stephan’s Opus I, having resurfaced after ninety-five years, is not the masterpiece of a precocious genius, but neither it is a juvenile exercise in radical chic. It is his response to the technical and aesthetic status quo of composition at the turn of the century, and reveals a highly interesting path quite distinct from the radicality of the Viennese School and the nineteenth-century style that still held sway at the time. His untimely death in the trenches of World War I put an end to a promising new direction - and to one of the great hopes of his age.

Translation: Bradford Robinson, 2006

For information about the performing material please contact Musikproduktion Hoeflich, Munich (www.musikmph.de).