Emmanuel Chabrier
(geb. Ambert, Puy-de-Dôme, 18. Januar 1841 – gest. Paris, 13. September 1894)

La Sulamite (1883/84, rev. 1890)
Lyrische Szene für Mezzosopran, Frauenchor und Orchester nach einem Gedicht von Jean Richepin

Vorwort
«Bald sollte das Vorspiel beginnen, Stille und Dunkelheit herrschten im Theater, als wir in unserer unmittelbaren Nähe ein Geräusch vernahmen, als ob jemand versuchen würde, einen Schluckauf zu unterdrücken.... Es war der weinende Chabrier ... Der Zuschauer zu seiner Seite drehte sich um und fragte besorgt, ob es ihm gut gehe; worauf unser gute Chabrier zwischen zwei Schluchzen antwortete : ‘Es ist dämlich, ich weiß, aber ich kann nicht anders .... Ich warte schon seit zehn Jahren auf das A in den Violoncelli.»

Dieser berühmte, von Vincent d’Indy lebhaft festgehaltene Vorfall aus dem Sommer 1880 sollte einen Wendepunkt im Leben Emmanuel Chabriers bedeuten. Nach zehn Jahren unterdrückter Vorfreude war es ihm schließlich doch gelungen, sich von seiner Beamtenstelle beim französischen Innenministerium beurlauben zu lassen und nach München zu reisen, um eine Aufführung von Tristan und Isolde zu erleben. Seit diesem Augenblick faßte der überaus begabte, bald vierzigjährige, jedoch bisher immer noch unsichere Musiker den Entschluß, den Komponistenberuf zu ergreifen. Im November des gleichen Jahres kündigte er seine Stelle im Ministerium und begann die produktivste Periode seiner bemerkenswerten Komponistenlaufbahn.

Durch die berühmte Begegnung mit dem Tristan haftet Chabrier unverdienterweise der Ruf eines französischen Wagnerianers an. Eigentlich jedoch – wie er selber nach Verlassen des Münchner Hoftheaters bemerkte – wußte er, daß sein Weg nur in eine andere Richtung führen konnte: „Da gibt es genug Musik darin für die nächsten hundert Jahre, unsereinen hat er nichts mehr übriggelassen. Wer würde es wagen?“ Chabrier ließ sich auf dieses Wagnis ein, indem er eine betont französische Musik hervorbrachte – beschwingt, exotisch, voller Andeutungen und von erlesenem handwerklichen Schliff. Dadurch hinterließ er einen bleibenden Eindruck auf seine Komponistenkollegen: Debussy, Lalo, Ravel, Duparc, Dukas – alle ahnten das Heraufkommen einer neuen Künstlerpersönlichkeit in der französischen Musik und wiesen auf Chabrier als den ersten der Modernen hin.

Bei der „lyrischen Szene“ La Sulamite handelt es sich um das erste großangelegte Vokalwerk, das Chabrier nach seinem Damaskuserlebnis in München in Angriff nahm, und zwar zwischen dem hinreißenden Orchesterliebling España (1883) und der wenig glücklichen Oper Gwendoline (1885). Das zugrundeliegende Gedicht des naturalistischen Dichters und Dramatikers Jean Richepin (1849-1926) fußt wiederum auf Auszügen aus dem „Hohenlied Salomos“, wobei die eher schattenhafte Figur der Sulamith, die im Kapitel 6.13 in einem erotischen Zusammenhang nur kurz erscheint, dem Werk seinen Titel verleiht. Die neue Komposition erlebte ihre Uraufführung am 15. März 1885 bei den Pariser Concerts Lamoureux unter der Leitung des großen französischen Wagnerianers Charles Lamoureux (1834-1899). Im Gegensatz zur anfänglich gedämpften Reaktion des Publikums wurde La Sulamite in der Presse über alle Maßen gelobt, vor allem durch den Komponisten Alfred Bruneau, der das Werk mit den denkwürdigen Worten beschrieb: „eine ununterbrochene Aufwallung glühender Leidenschaft, die zum Schluß einen wahrhaftigen Paroxysmus erreicht“. Zu den Musikern, die auf das neue Werk unmittelbar eingingen, gehörte vor allem Claude Debussy, der einem Komponistenkollegen einmal anvertraute, La Sulamite schwebte ihm 1887/88 beim Komponieren seiner eigenen Kantate La Demoiselle élue für die gleiche Besetzung vor.

Im Jahre der Uraufführung erschien La Sulamite auch als Partitur und als Klavierauszug beim Pariser Verlagshaus Enoch Frères & Costallat im Druck. Fünf Jahre später arbeitete Chabrier jedoch den Orchestersatz um. In dieser neuen Fassung wurde La Sulamite 1902 und 1909 bei den Concerts Lamoureux auch posthum wiederaufgenommen. Seitdem hat die lyrische Szene einen bescheidenen Platz im Konzertrepertoire sowie im Aufnahmestudio behalten, vor allem durch eine Einspielung des Orchestre de la Suisse Romande mit der Sopranistin Suzanne Danco unter der Leitung von Ernest Ansermet (1948) sowie eine neuere Einspielung durch Michel Plasson mit Susanne Mentzer (1989). Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die erste Studienpartitur dieses zugleich spannungsgeladenen und sinnlich-ungezwungenen Meisterwerks.

 

Aufführungsmaterial ist von Enoch, Paris zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

 

 

Emmanuel Chabrier
(b. Ambert, Puy-de-Dôme, 18 January 1841 - d. Paris, 13 September 1894)

La Sulamite
(1883-4, rev. 1890)
Scène lyrique for mezzo-soprano, women’s chorus and orchestra on a poem by Jean Richepin

Preface
«The Prelude was about to begin, and silence and darkness reigned in the theater when we heard quite near us what sounded like someone trying to stifle a hiccough ... it was Chabrier sobbing ... The person sitting next to him turned round to inquire whether he was feeling ill, and our good Chabrier replied, between two sobs: ‘I know it’s stupid, but I can’t help it ... I’ve been waiting for ten years of my life for that A on the cellos.»

This celebrated incident from summer 1880, faithfully recorded by Vincent d’Indy, was to mark a turning point in the life of Emmanuel Chabrier. At last, after ten years of anticipation, he had arranged a leave of absence from his bureaucratic job at the French Ministry of the Interior and traveled to Munich to hear a performance of Tristan und Isolde. From that moment on the gifted but uncommitted musician, already nearing forty, resolved to take up the career of a professional composer. In November he tendered his resignation at the ministry and embarked on the most productive years of his remarkable career.

Chabrier’s famous encounter with Tristan has left him with the unjustified reputation of being a French Wagnerian. In fact, as he remarked after leaving the theater, he knew that his path must lead elsewhere: «There’s music there for a hundred years; he hasn’t left us chaps anything to do. Who would dare?» Chabrier dared by turning out music that was quintessentially French - buoyant and allusive, exotic and expertly crafted. He thereby left a deep impression on his fellow composers: Debussy, Lalo, Ravel, Duparc, Dukas - all sensed that a new voice had entered French music and pointed to Chabrier as the first of the moderns.

La Sulamite is the first large-scale vocal work that Chabrier attempted after his Damascus-road experience in Munich, falling between the exhilarating and ever-popular España (1883) and his ill-starred opera Gwendoline (1885). The poem, by the naturalist poet and dramatist Jean Richepin (1849-1926), is based on passages from The Song of Songs, taking its name from the obscure figure of the Shulamite maiden who makes a brief appearance in an erotic context in chapter 6:13. The work was premièred at the Concerts Lamoureux, Paris, on 15 March 1885, conducted by the great French Wagnerian Charles Lamoureux (1834-1899). Although the response of the audience was somewhat muted at first, La Sulamite was hailed in the press, most notably by the composer Alfred Bruneau, who described it memorably as «a sustained outpouring of passion formidable in its final paroxysm.» One musician who immediately responded to the work was Debussy, who confided to a fellow composer that he had La Sulamite in mind while writing his own La Demoiselle élue for exactly the same forces (1887-8).

La Sulamite quickly appeared in print in full score and vocal score, both published by Enoch Frères & Costallat of Paris in 1885. In 1890 Chabrier revised the orchestration, in which new form the work was revived posthumously at the Concerts Lamoureux in 1902 and 1909. Since then it has held a modest place in the concert hall and the studio, notably in a recording by Ernest Ansermet and the Orchestre de la Suisse Romande, with the solo part sung by Suzanne Danco (1948), and, more recently, another by Michel Plasson with Susanne Mentzer (1989). Our publication represents the first time that this intense yet uninhibitedly sensuous masterpiece has appeared in miniature score.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Enoch, Paris. Reprint of a copy from the Musik-bibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München