Peter Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 - gest. St. Petersburg, 6. November 1893)

Suite No. 2 (Suite Caractéristique) op.53

Vorwort
Peter I. Tschaikowskys Orchestersuiten sind – wie so viele andere seiner Werke - wenig bekannt. Werden sie erwähnt, bieten die Äußerungen wiederum ein breites Feld für Mutmaßungen und Allgemeinplätze. So wird im Zusammenhang mit der 2. Orchestersuite von einer typisch russischen Bilderwelt, einer musikalischen Sprache gesprochen, die sich schwerer erschlösse als die der Sinfonien gesprochen usw. Es scheint, dass es Peter Tschaikowskys historisches Missgeschick war, zwar die Hochblüte der Romantik mitgestaltet zu haben, um sie aber dann kurz vor dem Zerfall um die Jahrhundertwende gewissermaßen wieder zusammenzufassen. Es gibt dabei einige Ähnlichkeiten mit Gustav Mahler. Wie dieser wurde Tschaikowsky schon frühzeitig zur Zielscheibe für hämische Kritik. Wobei das Urteil des «emotionalen Überhangs», der nicht eingelöst wird, noch zu den harmlosen gehört. Auch Arnold Schönbergs Wunsch, dereinst als der «bessere Tschaikowsky» zu gelten, ist entschieden als Ironie zu verstehen. Igor Strawinsky andererseits schätzte das Werk Tschaikowskys und sah in ihm einen Wegbereiter der Moderne. Dies erstaunt zumindest unter dem Aspekt, dass man die Begriffe «Tschaikowsky» und «Experiment», bzw. «Tschaikowsky» und «Avantgarde» als diametral entgegengesetzt empfindet. Ein Vorurteil, dass sich schnell verflüchtigt, wenn man die uns eher unbekannten Werke hört; gleiches könnte auch gelingen, wenn man die bekannten Werke unter anderen Aspekten wahrnehmen würde, das, was als «kompositorische Brüchigkeit», «formales Unvermögen» deklariert wird, würde sich in ganz vielen Fällen als intelligente musikalische Umsetzung einer komplexen Wirklichkeit erweisen. Paradoxerweise scheint uns aber gerade die Vertrautheit taub für die innovativen Momente dieser Musik zu machen. Andererseits nennt Hermann Laroche, Musikwissenschaftler und Freund des Komponisten, Tschaikowsky einen «Meister der Form»1.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Orchestersuite in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Beginn des Historismus, Klassizismus und Nationalismus eine neue Bedeutung erlangte. Prägend hierbei waren barocke kompositorische Verfahren, folkloristische Einflüsse und außermusikalische Aspekte. Aber sie boten auch Platz für die Erprobung neuerer kompositorischer Möglichkeiten.

Die Orchestersuiten sind in den Jahren 1878 und 1884 entstanden. In der Zeit also, die man als die Zeit seiner reifen Meisterschaft bezeichnet. Tschaikowsky komponierte in dieser Zeitspanne eine ganze Reihe von bedeutenden Orchesterwerken: Die Manfred-Sinfonie, das Violinkonzert, die Konzertfantasie op. 56, das Capriccio italien, die Orchesterouvertüre 1812, die Streicherserenade und eben die vier Orchestersuiten, wobei die vierte eigentlich keine eigenständige Komposition ist, sondern eine Zusammenstellung wenig bekannter Kompositionen Mozarts in der Instrumentation Tschaikowskys.

In der Vielfalt der Formen als auch in Stil und Gehalt zeigen die Suiten einen ganz anderen Tschaikowsky als den der Sinfonien. Formal nicht so gebunden wie die Sinfonie und auch historisch nicht so belastet - man denke nur an die Probleme, vor die sich Brahms bei der Komposition seiner Sinfonie gestellt sah - bot die Suite Tschaikowsky ein Experimentier-feld, das dieser gerade in der 2. Suite in C-Dur auch extensiv nutzte. Der Tschaikowsky-forscher Thomas Kohlhase empfiehlt die Suiten auch denen, die eine komplexere Vorstellung vom Sinfoniker Tschaikowsky gewinnen wollen2. Zukunftsweisend sind sie allemal. So kann man im 2. Satz der 2. Suite (Valse) durchaus an Mahlers berühmtes Adagio aus der V. Sinfonie denken, manche Momente aus Igor Strawinskys L’oiseau de feu und Petruschka lassen sich aus den Reves d’enfant, dem 4. Satz, heraushören. Der 5. Satz (Danse Baroque) verweist auf Sergej Prokofjews Sinfonie classique, und auch Dimitri Schostakowitsch dürfte einiger seiner interessanten instrumentatorischen Einfällen Tschaikowsky verdanken. Man muss nur genau beim 1. Satz (jeu de sons) zuhören.

In der Tat kann man in der 2. Orchestersuite einige interessante kompositorische Gestaltungsmöglichkeiten erkennen. Im ersten Satz werden polyphone und homophone Kompositionstechniken kombiniert, ohne aber historisierend zu wirken. Ganz im Gegenteil, hier lassen sich schon Tendenzen erahnen, die Arnold Schönberg mit dem Schlagwort «unendliche Melodie» charakterisierte. Im dritten Satz setzt Tschaikowsky mit vier Akkordeons einen besonderen Klangeffekt. Den 4. Satz (Kinderträume) hält Thomas Kohlhase für eines der ungewöhnlichsten und faszinierendsten poetischen Genrebilder Tschaikowskys.3

Nachdem die Uraufführung der 1. Suite nicht ohne Probleme verlief, war die Zeit der Entstehung und Uraufführung der 2. Orchestersuite relativ unproblematisch. Tschaikowsky hatte mit der Komposition im Herbst 1883 begonnen und schrieb an seinen Bruder Modest am 15. Oktober: » Ich bin mit meiner Suite sehr zufrieden. ... Sie wird dir gewiss gefallen, besonders die Kinderträume». Einige Tage später teilte er seiner Gönnerin und Freundin Nadeshda von Meck mit: «Meine Suite hat 5 Sätze, und zwar 1) Jeu de sons (Spiel der Klänge), 2) Valse (Walzer), 3) Scherzo burlesque, 4) Reves d’enfantes (Kinderträume), 5) Danse baroque. Die Instrumentation habe ich beendet und mache jetzt das vierhändige Arrangement. ... Im Großen und Ganzen bin ich mit diesem Werk sehr zufrieden. Übrigens ist es wieder die alte Geschichte. Ich liebe dieses neue Opus, so lange es noch ganz mein eigen ist und niemand es kennt, sobald es Eigentums des Publikums ist, kühlt sich meine Liebe ab.»

Die Uraufführung der 2. Orchestersuite fand am 16. Februar 1884 in Moskau unter dem Dirigenten Max Erdmannsdörfer statt. Tschaikowsky widmete ihm die dritte Suite, die kurz darauf entstand. Möge der Druck der 2. Suite den Bekanntheitsgrad dieser überaus interessanten und faszinierenden Komposition fördern.

1 Laroche, Hermann, Peter Tschaikowsky, Aufsätze und Erinnerungen, ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Ernst Kuhn, Berlin 1993
2. Kohlhase, Thomas, Musikalische Kinderszenen bei Tschaikowsky, S. 430; in: Tschaikowsky-Studien, Band 3, Mainz 1998
3. siehe oben

Michael Pitz-Grewenig, 2006

Aufführungsmaterial ist von Benjamin Musikverlage, Hamburg zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtischen Bibliotheken, Leipzig.

Peter Iljitsch Tschaikowsky
(b. Votkinsky, 7 May 1840 - d. St. Petersburg, 6 November 1893)

Suite No. 2
(Suite Caractéristique) op.53

Preface
Like so many of his works, Tchaikovsky’s orchestral suites remain little-known. When they happen to be mentioned at all, the statements offer wide leeway for allegations and commonplaces. The Second Orchestral Suite, for example, is said to have typically Russian imagery, a musical language more difficult to fathom than that of his symphonies, and so forth. Tchaikovsky’s historical misfortune was, it would seem, to have helped shape the flowering of High Romanticism only to recompress it shortly before its collapse at the turn of the century. Several similarities arise with Gustav Mahler. Like Mahler, Tchaikovsky already became a target of critical smears early in his career, with the verdict of «unresolved emotional baggage» being one of the more benign. Even Schoenberg’s desire to be considered a «superior Tchaikovsky» is heavy with irony. Stravinsky, on the other hand, valued Tchaikovsky’s music and viewed him as a precursor of modernism - an astonishing outlook considering that the terms «Tchaikovsky» and «experiment,» or «Tchaikovsky» and «avant-garde,» are polar opposites. These prejudices quickly vanish when we listen to his relatively unknown works, and the same might also happen if we were to listen to his well-known works from a different angle. Things proclaimed to be «compositional weaknesses» or «formal ineptitude» would, in a great many cases, prove to be intelligent musical responses to a complex reality. Paradoxically, however, it is precisely the familiarity of his music that makes us deaf to its innovative elements.

On the other hand Tchaikovsky’s friend, the musicologist Hermann Laroche, called him a «master of form.»1 We must bear in mind that the orchestral suite achieved new significance in the latter half of the nineteenth century, with the onset of historicism, classicism, and nationalism. Baroque compositional devices, influences from folk music, and extramusical aspects were the genre’s defining features, but they also offered room for trying out new compositional options.

Tchaikovsky’s orchestral suites originated in 1878 and 1884, and thus at a time referred to as his period of mature mastery. Within this span of time he produced an entire series of significant orchestral works: the Manfred Symphony, the Violin Concerto, the Concert Fantasy (op. 56), the Capriccio Italien, the 1812 Overture, the Serenade for Strings, and the four orchestral suites, of which the fourth is not actually a self-contained composition but a compilation of lesser-known pieces by Mozart in Tchaikovsky’s orchestration.

In the variety of their forms, as well as their style and emotional import, the orchestral suites reveal a Tchaikovsky completely at odds with the composer of the symphonies. Less tight-knit than the symphony, and less weighed down by historical ballast (we need only recall the problems Brahms faced when writing a symphony), the suite offered Tchaikovsky a field of experimentation that he could extensively exploit, as he did precisely in the Second Suite in C major. The Tchaikovsky scholar Thomas Kohlhase even recommends the suites to those seeking a more complex picture of Tchaikovsky the symphonist.2 Indeed, they are portentous to a degree. The second movement of Suite No. 2 («Valse») readily recalls the famous Adagietto from Mahler’s Fifth; many moments of Stravinsky’s Firebird and Petrushka can be heard in the fourth movement, «Rêves d’enfant»; and the fifth movement («Danse baroque») foreshadows Prokofiev’s Sinfonie classique. Even Dimitri Shostakovich probably owed a few of his more interesting turns of orchestration to Tchaikovsky: one need only listen carefully to the first movement, «Jeu de sons» («Play of sounds»).

Indeed, several interesting compositional approaches can be descried in the Second Orchestral Suite. The first movement combines contrapuntal and homophonic devices without sounding like a stylistic exercise: on the contrary, we can already sense tendencies that Schoenberg would later typify with his catchphrase «endless melody.» In the third movement Tchaikovsky creates an unusual timbral effect with four accordions. The fourth movement («Children’s dreams») is, in Thomas Kohlhase’s estimation, one of the composer’s most unusual and fascinating poetic genre-paintings.3
If the première of the First Suite faced no shortage of difficulties, the writing and first performance of the Second were relatively unproblematic. Tchaikovsky began work on the piece in autumn 1883. On 15 October he wrote to his brother Modest: «I’m very satisfied with my suite.... You are sure to like it, especially the ‘Rêves d’enfant’.» A few days later he informed his patroness and confidante Nadezhda von Meck: «My suite has five movements: 1) Jeu de sons, 2) Valse, 3) Scherzo burlesque, 4) Rêves d’enfant, and 5) Danse baroque. I’ve finished the instrumentation and am now working on the arrangement for piano four-hands. ... By and large I am very satisfied with this work. Incidentally, it’s the same story all over again. I love this new opus as long as it is still entirely my own and no one knows it. As soon as it becomes public property my love begins to cool.»

The première of the Second Orchestral Suite took place in Moscow on 16 February 1884 under the baton of Max Erdmannsdörfer, to whom Tchaikovsky a short while later dedicated the Third Suite. It is devoutly to be wished that our publication will enhance the familiarity of this interesting and fascinating piece.

1. Laroche, Hermann, Peter Tschaikowsky: Aufsätze und Erinnerungen, ed. Ernst Kuhn (Berlin, 1993)
2. Kohlhase, Thomas: «Musikalische Kinderszenen bei Tschaikowsky,» Tschaikowsky-Studien 3 (Mainz, 1998), p. 430.
3. Ibid.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Benjamin Musikverlage, Hamburg. Reprint of a copy of the music department archives of the Leipzig Municipal Libraries.