Woldemar Bargiel
(geb. Berlin, 3. Oktober 1828 - gest. Berlin, 23. Februar 1897)

Symphonie C-Dur op. 30 für Orchester

Vorwort
Am 28. Oktober 1853 - nach zehnjähriger Abwesenheit - kehrte Robert Schumann auf die Seiten der von ihm gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik zurück, um über sein Treffen vor kaum zwei Wochen mit einem «jungen Blut» zu berichten, «an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten.» Es handelte es sich hier um Johannes Brahms, der – so Schumann – den Höhepunkt einer Reihe von «hochaufstrebenden Künstlern der jüngsten Zeit» bilde, die «eine neue Kraft der Musik anzukündigen» schien. Seinen Lesern zuliebe nannte er einige Namen aus dieser illustren Reihe auf: Joseph Joachim, Niels Gade, Theodor Kirchner, Stephen Heller und ... Woldemar Bargiel.

Warum Bargiel? Wenn die anderen aufgeführten Namen wenigstens den Freunden der Romantik oder dem heutigen Klavierschüler vertraut sind, so ist Bargiel wohl bestenfalls als Halbbruder (mütterlicherseits) von Clara Schumann, also Schwager von Robert bekannt. In seinen jungen Jahren jedoch war Bargiel eine treibende neue Kraft: Brahms kannte ihn sehr gut und lobte dessen Kompositionen in seinen Briefen; Joachim vermittelte ihm einen Lehrauftrag am Königlichen Konservatorium in Berlin (1874), an dem er zwei Jahre später auch eine Professur erhielt und 1889 zum Leiter der Abteilung für Komposition und Theorie avancierte. Davor war Bargiel 1865-74 maßgebend an der Organisation des Musiklebens der Stadt Rotterdam beteiligt und leitete 1869 die holländische Erstaufführung der Matthäuspassion. Bis zum Ende seiner Karriere war er ein angesehener Senator der Berliner Akademie der Künste, an der er ab 1882 auch eine Meisterklasse leitete, und Ehrenmitglied von Musikgesellschaften in Italien und den Niederlanden. Zeitlebens war er mit dem inneren Kreis um Clara Schumann verbunden, also auch mit Brahms, mit dem er die Chopin-Gesamtausgabe für Breiptkopf & Härtel 1878-80 herausgab. Auch brachte er vierhändige Bearbeitungen von Schumanns Oper Genoveva (1852) und Szene aus Faust (1858-60) heraus und revidierte einige von dessen Werke für die Gesamtausgabe, die 1881 unter der redaktionellen Leitung von Clara Schumann erschien.

Bargiel widmete sich mit Hingabe seiner Lehrtätigkeit mit Schwerpunkt auf Musiktheorie und Partiturspiel; seine Ausgabe J. S. Bach’s vierstimmigen Kirchengesängen in alten Schlüsseln (1891-93) blieb jahrzehntelang im Einsatz. Eine liebevolle Beschreibung der Lehrmethodik und Persönlichkeit Bargiels findet sich in den Erinnerungen seines ehemaligen Schülers Ernst Rudorff (Aus den Tagen der Romantik, 1937), der später mit ihm im Redaktionsbeirat der Chopin-Gesamtausgabe zusammensaß. Am Ende seines Lebens erinnerte sich Rudorff: «Wieviel ich Bargiels Umgang und Unterricht verdanke, dessen bin ich mir in vollem Maße bewußt. [...] Wenn sich die Richtung auf das Echte und Innerliche in der Kunst, die Abneigung gegen Flachheit und Phrase dauernd in mir befestigte, so hat sein Beispiel hieran einen vornehmlichen Anteil. Soll ich eine Einzelheit aus seinem Klavierunterricht als besonderen Vorzug hervorheben, so wäre dies sein ebenso unablässiges wie nachdrückliches Dringen darauf, daß der Schüler ‘mit Ton’ spiele. Nichtssagendes, blutloses Drauflosfingern verlernte man gründlich bei ihm. Er verstand es in hohem Grade, einen lebensvollen Anschlag zu bilden.»

Als Komponist setzte Bargiel – in der Nachfolge seines berühmten Schwagers – den Schwerpunkt auf Klaviermusik. Heute wird er jedoch ebenso für seine Kammermusik geschätzt wie für zwei Orchesterwerke in C-Dur: die frühe Suite op. 7 (1853/54) und die Symphonie op. 30 (1866). Letztere wurde 1866 in Partitur in Leipzig bei Breitkopf & Härtel veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt, als der Komponist gerade die Leitung der Rotterdamer Musikgesellschaft übernommen hatte. Im gleichen Jahr erschien beim selben Verlag eine vierhändige Bearbeitung durch den Komponisten selber. Die Symphonie nahm bald eine wichtige Stelle in der symphonischen Tradition nach Mendelssohn ein, wie auch aus der Tatsache hervorgeht, daß sich Breitkopf 1880 zu einer «neuen revidierten Ausgabe» berechtigt fühlte. Bereits 1887 konnte jedoch Hermann Kretzschmar im ersten Band seines berühmten Führers durch den Concertsaal Bargiels Symphonie beschreiben als «schneller beiseite gelegt worden, als sie es» verdiene. Bezüglich dieses Mißstandes soll diese Studienpartitur Abhilfe schaffen.

Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Matthias Wiegandt, Karlsruhe.

Woldemar Bargiel
(b. Berlin, 3 October 1828 - d. Berlin, 23 February 1897)

Symphony in C major for orchestra, op. 30

Preface
On 28 October 1853 Robert Schumann, after a ten-year absence, returned to the pages of his Neue Zeitschrift für Musik to publicize his meeting two weeks previously with a «youngblood at whose cradle the Graces and Heroes held watch»: Johannes Brahms. Brahms, he claimed, was the culmination of a very recent series of «young artists of lofty aspirations» who had imparted new strength to music. For the benefit of his readers Schumann listed some of the names in this illustrious series: Joseph Joachim, Niels Gade, Theodor Kirchner, Stephen Heller and ... Woldemar Bargiel.

Why Bargiel? If the other names in the series are at least familiar to students of romanticism or learners of the piano, Bargiel is likely to be known only as the (matrilinear) half-brother of Clara Schumann, and hence as the brother-in-law of Robert. Yet in his early career he was definitely a force to be reckoned with: Brahms knew him well and praised his compositions in his letters; Joachim recommended him to a teaching position at the Royal Conservatory in Berlin (1874), where two years later he became a full professor of composition and in 1889 the head of the theory and composition department. Before then Bargiel had been instrumental in organizing the musical life of the city of Rotterdam (1865-74) and had conducted the Dutch première of the St. Matthew Passion (1869). By the end of his life he had become a distinguished senator in the Berlin Academy of Arts, where he led a master class from 1882, and an honorary member of musical societies as far afield as Italy and the Netherlands. Throughout his life he remained closely allied with Clara Schumann and her circle, and thus with Brahms, with whom he co-edited the complete edition of Chopin’s works for Breitkopf & Härtel in 1878-80. He produced piano-duet arrangements of Schumann’s Genoveva (1852) and Scenes from Faust (1858-60) and revised some of that master’s works for the complete edition published under Clara’s auspices in 1881.

Bargiel devoted a large part of his life to teaching, with a special emphasis on theory and score reading; his edition of Bach chorale harmonizations in old clefs (1891-3) remained in use for decades. His teaching methods and personality are lovingly described by his student Ernst Rudorff (Aus den Tagen der Romantik, 1937), who later joined him on the editorial board of the Chopin edition. «I am fully aware,» Rudorff confided late in life, «just how much I owe to my dealings and lessons with Bargiel. ... If a focus on the genuine and intrinsic in art, and an aversion to shallowness and empty phrases, were able to take permanent hold in me, a large part of it came from his example. If I were to single out one item of his piano teaching as a special virtue, it would be his incessant and urgent emphasis on having the student play ‘with tone.’ Vapid and anemic doodling on the keys were banished forever under his tutelage. He had a special genius for creating a vibrant touch.»
As a composer Bargiel, following in the footsteps of his famous brother-in-law, concentrated mainly on music for solo piano. Today, however, he is remembered equally well for his chamber music and especially for two orchestral works in C major: the early Suite, op. 7 (1853-4), and the present Symphony, op. 30 (1866). The latter was published in full score by Breitkopf & Härtel of Leipzig in 1866 at a time when Bargiel had just taken charge of the Rotterdam Music Society. In the same year Breitkopf also issued the composer’s own arrangement for piano four-hands. The work immediately assumed an important position in the post-Mendelssohn symphonic tradition, as indicated by the fact that it was reissued by Breitkopf in a «new revised edition» in 1880. Yet by 1887 Hermann Kretzschmar, writing in volume 1 of his famous concert guide, could already single out Bargiel’s sole symphony as deserving of revival. Our study score will, it is hoped, help contribute to its rediscovery.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the collection Matthias Wiegandt, Karlsruhe.