Peter Benoit
(Harelbeke, 17.August 1834 - Antwerpen, 8. März 1901)
Legenden und Balladen
(1861)
Während seiner Pariser Zeit, als Laureat des belgischen Prix de Rome, komponierte Peter Benoit den größten Teil seiner Klavierwerke, und er fand dort auch Verleger dafür. Heugel veröffentlichte Deux Mazurkas und eine Polonaise, während Richault zwölf seiner Klavierkompositionen herausgab: 3 Caprices, 2 Mazurkas, 4 Fantasien, Caprice, Scherzando op. 21 und Inquiétude, eine ‚Romance sans paroles‘. Innerhalb des Überflusses an Klaviermusik, die damals produziert wurde, fielen Benoits Werke doch vorteilhaft auf. So schrieb das Pariser Blatt L‘Orphéon: „Herr Benoit ist ein Komponist guter Schule: seine Klavierkompositionen haben nichts mit jener Fingergymnastik gemein, die oftmals das einzige Verdienst dieser Art moderner Kompositionen ist.“ In Paris schrieb Benoit auch seine einzige Klaviersonate und den Zyklus Contes et ballades, der aus fünf Suiten von jeweils drei Stücken besteht.
Diesen Zyklus mit einer Gesamtdauer von mehr als einer Stunde komponierte Benoit in den ersten vier Monaten des Jahres 1861, aber die Veröffentlichung ließ auf sich warten. Der Pariser Verlag Gérard gab die ersten beiden Suiten erst 1863 heraus, die dritte 1864 und die vierte 1865. Aus unbekannten Gründen wurde die fünfte Suite nicht bei Gérard gedruckt, sondern erst viele Jahre später bei Katto in Brüssel. Benoit widmete die vier ersten Hefte, in dieser Reihenfolge, der französischen Pianistin Angèle Tailhardat, dem Brüsseler Organisten Alphonse Mailly, der belgischen Pianistin Pauline De Smet und Etienne Pradeau, einem französischen Buffo der Bouffes-Parisiens. Die fünfte Suite trägt keine Widmung. Anlässlich einer Neuausgabe in den neunziger Jahren dedizierte Benoit den vollständigen Zyklus, unter Beibehaltung der persönlichen Widmungen, seinem Großvater und Taufpaten Bernard Morie, der ihn durch seine volkstümlichen Geschichten und Sagen zu diesen Kompositionen inspiriert hatte. Auch die Titel der verschiedenen Legenden und Balladen, die ebenfalls auf den Erzählungen seines Großvaters fußen, wurden erst in späteren Auflagen hinzugefügt:
Erste Suite
1. Legende: Geister in der Dämmerung (
und sie flüsterten ’wie lieblich schwebt sie im sanften Mondeslicht!‘)
2. Ballade: Allerseelenabend (Großmutter erzählt von den Seelchen, die in den Himmel gehen)
3. Legende: Der Erlkönig (Es spukte unter dem großen Lindenbaum)
Zweite Suite
1. Ballade: Der Schmied
2. Legende: Tanz der Geister in den Dünen
3. Ballade: Höhenflug der Seele
Dritte Suite
1. Legende: Ausritt (Edelfrauen und Ritter in festlicher Kavalkade um das Schloss von Harelbeke)
2. Ballade: Legende vom Leie-Geist(Spaziergang am Ufer der Leie)
3. Legende: Nachtschmetterlinge
Vierte Suite
1. Ballade: Der Verlassene (Wehmut und Verlangen)
2. Legende: Hexenszene
3. Ballade: Beim Angelusläuten (Frühlingsabend auf dem Feld)
Fünfte Suite
1. Legende: Vom Zwerglein
2. Ballade: Schweifender Werwolf (Liebeskummer)
3. Legende: Von der Mond-Elfe und den Nixen
Obwohl in der Erstausgabe die programmatischen Titel nicht erscheinen, lässt sich doch mit Sicherheit annehmen, dass Benoit während des Kompositionsprozesses an die Geschichten seines Großvaters gedacht hat. Die Brüsseler Musikzeitschrift Le Guide musical übernimmt am 13. Juni 1861 folgenden Bericht aus dem Pariser Blatt La presse théâtrale et musicale: „Herr Pierre Benoit wird demnächst eine Reihe kleiner Klavierstücke herausgeben, deren Form und Stil nicht weniger originell sind als der Gedanke, dem sie entsprungen sind. Herr Benoit ist Flame; als solcher liebt er die Ballade und die Legende, die wie von selbst in jenen kalten, jedoch poetischen Gefilden entstehen. Auf ganz natürliche Weise überträgt er die gemütlichen abendlichen Zusammenkünfte im Dorf und seine teuren Kindheitserinnerungen in eine musikalische Form. Es sind allerliebste Erzeugnisse eines fantasievollen Geistes, einfache und naive Geschichten, charmante Produkte einer fantastischen Vorstellungswelt. (
) Herr Benoit entwickelt sich zum Walter Scott der Musik. Ebenso wie der berühmte Romanschreiber ist er ganz und gar von den volkstümlichen Überlieferungen seines Landes durchdrungen, und er kann sie in interessanter und persönlicher Form darstellen, ohne ihnen etwas von ihrer natürlichen Anmut und ihrem exotischen Hauch zu nehmen.“ Die Pariser Musikpresse erkannte also schon früh die musiknationalistische Tendenz in Benoits Werk.
Obendrein nannte die einflussreiche Zeitschrift La France musicale vom 19. Juli 1863 in einer Besprechung der beiden ersten Hefte Benoit einen Erneuerer. Der Kritiker A. de Bory endete mit folgender Empfehlung: „Wir empfehlen sie den Pianisten als durchaus neue und originelle Werke, sowohl der Idee, wie auch der Form nach. Wir meinen damit jene, die sie sich bei ihrer Interpretationen nicht damit begnügen wollen, sie nur ungefähr wiederzugeben; denn dadurch entgehen ihnen die darin enthaltenen poetischen Schönheiten ganz und gar; und sie würden den Komponisten zum Opfer ihrer Schludrigkeit und Unaufmerksamkeit machen. Wir könnten sie dann nicht oft genug an das Wort des Evangeliums erinnern: ‚Sucht, und ihr werdet finden!“‘
Der flämische Pianist Jozef De Beenhouwer hat als erster den vollständigen Zyklus auf Schallplatte eingespielt. Seine Aufnahme auf zwei LPs erschien 1984 (Terpsichore) und wurde 1992 auch auf CD herausgebracht. Am 11. November 2011 brachte De Beenhouwer die erste vollständige Aufführung des Zyklus während der 10. Musikbiennale in Peter Benoits Geburtsstadt.
Jan Dewilde, 2011 (Übersetzung Michaël Scheck)
Nachdruck eines Exemplars aus der Bibliothek des Königlich flämischen Konservatoriums Antwerpen. Für das Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an die Bibliothek des ‚Koninklijk Vlaams Conservatorium‘. Diese Partitur wurde herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Studienzentrum für Flämische Musik (Studiecentrum voor Vlaamse Muziek www.svm.be)
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