Christoph Willibald Gluck
(geb. Weidenwang, 4. Juli 1714 - gest. Wien, 15 November 1787)
Iphigénie en Aulide
Oper in drei Akten
Vorwort
Bis in die frühen 1770er Jahre war Gluck mit der Anerkennung, die man seinen neuesten Opern in Wien zollte, immer noch unzufrieden. Daher wählte er Paris als Bühne für seine Musikdramen , obwohl er dort kaum bekannt war. Der Gedanke, die Stadt im Sturm zu erobern, lag ihm jedoch fern: Über ein Jahr lang führten Gluck und sein Librettist François Louis du Roullet eine sowohl private als auch öffentliche Werbekampagne, um ihren Erfolg zu sichern.
Als Attaché der französischen Gesandtschaft hatte Roullet den Komponisten um 1770 in Wien kennengelernt. Bis dahin hatte Gluck bereits drei wichtige Reformopern vollendet - Orfeo ed Euridice (1762), Alceste (1787) und Paride ed Elena (1770) -, deren Textbücher allesamt von Ranieri Calzabigi als Alternative zur herkömmlichen italienischen Oper dieser Zeit, zur Opera seria, verfaßt wurden. Opera seria hieß zwar auch «Dramma per musica», enthielt jedoch in den Augen Calzabigis herzlich wenig Dramatisches. Statt dessen hatte sich der Schwerpunkt auf die Zurschaustellung der Gesangskunst und auf die musikalische Konvention verlagert, ohne dass die Entwicklung der Handlung oder die Darstellung der Charaktere gebührend berücksichtigt worden wäre. Dargelegt wurden die reformatorischen Strebungen Calzabigis in der Vorrede zu Alceste, die zwar unter dem Namen Glucks erschien, jedoch weitgehend dem Librettisten zugeschrieben wird. Die Musik solle der Dichtkunst dienen, Mißbräuche wie übertriebene Darbietungen der Gesangskunst sollten verschwinden, Ziel sei nunmehr die Hervorbringung einer «schönen Einfachheit».
Durch die Übernahme dieser neuen Ziele fühlte sich Gluck keineswegs daran gehindert, auch im älteren Stil der Opera seria weiter zu komponieren. In Iphigénie en Aulide und in den anderen für Paris geschaffenen Opern setzte er jedoch die von Calzabigi ausgearbeiteten Gestaltungsprinzipien weiterhin ein. Die Oper in französischer Sprache (und im französischen Stil) war dem Komponisten allerdings nichts Neues: In der 1750er Jahren hatte er als Leiter der französischen Abteilung des Wiener Burgtheaters etliche Opéras comiques und Ballettmusiken geschrieben. Darüberhinaus war er mit der französischen Operntradition durchaus vertraut und hatte sich mit dem Werk der beiden Hauptvertreter der Tragédie lyrique - Lully und Rameau - auseinandergesetzt.
Die Zusammenarbeit zwischen Gluck und Roullet war strategisch angelegt und ließ dem Zufall keinen Spielraum. Maßgebend war die Wahl eines geeigneten Librettos. Als Handlung griff Roullet auf die gleichnamigen Dramen von Euripides und Racine (1674) zurück. Die zugrundeliegende altgriechische Legende dürfte dem Pariser Publikum bereits vertraut gewesen sein. Das zentrale Dilemma eines Vaters, der die Götter durch das Opfer der eigenen Tochter beschwichtigen will, wurde dadurch aufgelöst, daß sich die Götter entschließen, das Leben der jungen Frau zu verschonen. Trotz dieses konventionellen Ausgangs konzentriert sich das Textbuch auf die leidenschaftliche Intensität der Hauptpersonen, um sich dabei ideale Vertonungsmöglichkeiten zu schaffen.
Über die Entstehung von Iphigénie en Aulide im Einzelnen ist nur wenig bekannt. Möglicherweise wurde das Werk bereits 1772 vollständig fertiggestellt. Danach machte man sich gleich daran, eine Aufführung in Paris zu ermöglichen. Der österreichische Gesandte in Frankreich - Graf Mercy-Argenteau - trug dazu bei, den Weg zu ebnen. Ebenfalls leistete die Dauphine Marie Antoinette (eine ehemalige Schülerin von Gluck) in Frankreich wertvolle Unterstützung. Briefe von Roullet und Gluck, die die neue Oper betrafen, wurden in der damals wichtigsten französischen Zeitschrift Mercure de France abgedruckt. Dennoch zeigte sich die Direktion der Académie Royale wenig überzeugt: Als Bedingung für eine Aufführung von Iphigénie en Aulide mußte sich Gluck im Falle eines Erfolgs verpflichten, sechs weitere französische Opern zu liefern.
Im November 1773 traf Gluck in Paris ein. Er machte sich energisch an die Arbeit, um sicherzustellen, daß die Aufführungen seiner Musik angemessen sein sollten: Volle sechs Monate Probenarbeit gingen der am 19. April 1774 vorgesehenen Uraufführung voraus. Letztere wurde zwar zum Erfolg, Gluck hatte jedoch einige Änderungen vorgenommen, um den französischen Geschmack zu bedienen. Am Schluß wurde als Dea ex machina die Göttin Diana eingeführt, um die Rettung Iphigeniens zu verkünden (ursprünglich gab es eine ähnliche Verkündigung durch den Oberpriester Kalchas). Zudem wurden die Divertissements (Tanzeinlagen) mit Ausnahme derjenigen im 1. Akt erweitert. Dieser überarbeiteten Fassung von 1775 wurde in der Gesamtausgabe der Werke Glucks (1987) der Vorzug gegeben, sie wird auch heute noch häufig aufgeführt. Die ursprüngliche Fassung ohne Zugeständnisse an den Zeitgeschmack wird jedoch heute im Allgemeinen als die überlegenere betrachtet und dient als Grundlage der vorliegenden Ausgabe, wobei der revidierte Auftritt Dianens im Anhang abgedruckt ist.
Auf Iphigénie en Aulide folgte die überaus erfolgreiche Neufassung von Orfeo ed Euridice als Orphée (1774). Auch der Erfolg der französischen Fassung von Alceste (1776) sowie die neu komponierten Werke Armide (1777) und Iphigénie en Tauride (1779) trugen zum internationalen Renommee des Komponisten bei. Die französischen Opern Glucks leisteten einen wichtigen Beitrag zum «Abbau der lächerlichen Unterscheidungen zwischen den nationalen musikalischen Stilrichtungen» (vgl. Glucks Brief vom Februar 1773 im Mercure de France).
Heute wird Iphigénie en Aulide nur selten aufgeführt. Dennoch blieb sie bis ins 19. Jahrhundert hinein ein wichtiger Bestandteil des Opernrepertoires. Sogar Wagner verfaßte 1847 eine deutsche Fassung mit umgearbeitetem Orchestersatz sowie mit zahlreichen Kürzungen und Ergänzungen. Vieles spricht jedoch immer noch für die Originalfassung: Der zeitliche Ablauf des Handlungsverlaufs ist gekonnt strukturiert; eine geschickte Mischung aus Arioso mit Orchesterbegleitung (Secco-Rezitative fehlt gänzlich), Arien und Ensemblesätzen sorgt für einen reibungslosen Fluß. In ihrer Einfachheit herrscht eine Größe, die den Text auf ideale Weise ergänzt, und zwar in einem Kompositionsstil, der an die klassizierenden Gemälde eines Jacques-Louis David erinnert. Dieser hierarchische Aufbau darf jedoch den Blick auf eine der größten Stärken der Oper nicht trüben: die Fähigkeit zur Darstellung überhöhter Gefühlsregungen. Die Geschicklichkeit, mit der es Gluck verstand, Feuer und Leidenschaft mit Szenen von bemerkenswerter Ausgeglichenheit und Zurückhaltung zu vereinen, begründet zum großen Teil noch heute die breite Anziehungskraft und die bleibende Beliebtheit seiner Werke.
Zusammenfassung der Handlung
Hauptpersonen:
Agamemnon, griechischer König
Klytämnestra, seine Ehegattin
Iphigenie, beider Tochter
Achill
Patroklus
Kalchas, ein Oberpriester
Arkas, Hauptmann der Leibwache
Chor der thessalischen Krieger
Chor der Griechen
Ort der Handlung:
Aulis
1. Akt: Das griechische Heer ist auf der Insel Aulis steckengeblieben und kann den Angriff auf Troja nicht beginnen. Als Strafe dafür, daß Agamemnon einen Hirsch in einem heiligen Hain tötete, hat die Göttin Diana eine andauernde Windstille hervorgerufen. Als Wiedergutmachung fordert sie das Leben der Königstochter Iphigenie. Erst danach würde sie es dem Heer erlauben, nach Troja weiterzureisen. Agamemnon erteilt zwar seine Einwilligung, versucht jedoch die Ankunft Iphigeniens auf Aulis dadurch zu verhindern, daß er ihr durch einen Boten zu verstehen gibt, daß ihr Verlobter Achill sich nicht mehr für sie interessiert und keinen Wert mehr auf ihren Besuch legt.
Die auf die Besänftigung Dianens erpichten Griechen zwingen Kalchas dazu, Vorbereitungen für das Opfer Iphigeniens zu treffen. Obwohl Agamemnon den entsprechenden Befehl bereits erteilt hat, bleibt er widerwillig. Seinem Boten ist es jedoch nicht gelungen, Iphigenie anzutreffen. Nun treffen sie und ihre Mutter Klytämnestra in Aulis ein, um Achill zu besuchen. Klytämnestra erfährt von der angeblichen Treulosigkeit Achills und kündigt ihrer Tochter ihre sofortige Abreise an. Iphigenie ist am Boden zerstört. Nun tritt jedoch Achill auf, der die junge Frau von seiner dauerhaften Liebe überzeugt.
2. Akt: Die Hochzeitspläne für Iphigenie und Achill sind in vollem Gange. Nun eröffnet ihnen Arkas, daß Agamemnon das Opfer seiner Tochter bewilligt hat: Die Hochzeitsfeier soll lediglich als Tarnung für das Opferritual dienen. Als Achill Agamemnon zur Rede stellt und ihm Trotz bietet, wird er mit einem Hinweis auf seine Pflichten gegenüber den Göttern zornig zurechtgewiesen. Die Vorwürfe Achills bringen jedoch den Kampf in Agamemnons Seele zum Siedepunkt und zwingen ihn dazu, seine Situation erneut in Frage zu stellen.
3. Akt: Iphigenie ergibt sich ihrem Schicksal und widersetzt sich den Versuchen Achills und Klytämnestras, sie zu retten. Die Griechen selber bleiben in ihrem Ruf nach ihrem Tod unerbittlich. Im letzten Augenblick machen Achill und seine thessalischen Krieger einen verzweifelten Rettungsversuch. Nun erscheint Kalchas mit der Verkündigung, daß Diana das Leben der Königstochter doch verschonen will (in der revidierten Fassung wird diese Absicht durch Diana selbst verkündet). Die Oper geht mit den Vorbereitungen für die Hochzeit des jungen Paares sowie für die Abreise des Heeres nach Troja zu Ende.
Übersetzung: Bradford Robinson
For performance material please contact the publisher Peters, Frankfurt. Reprint of a copy from theMusikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.
|