Sergej Iwanowitsch Tanejew
(b. Wladimir a.d. Kljasma, 25. 11. 1856 - gest. Djudkow bei Moskau, 19. 6. 1915)

Konzert-Suite für Violine und Orchester op. 28 (1909)

Vorwort
Gut aussehend, penibel, gelehrt, rechtschaffen, künstlerisch begnadet und doch mit einem erlesenen Sinn für Humor nimmt Sergej Tanejew in der großen Generation der russischen Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts allein dadurch eine herausragende Stellung ein, daß er fast jede zeitgenössische Strömung energisch bekämpfte und zugleich die Achtung und Freundschaft all derjenigen genoß, die mit ihm in Verbindung traten. Der Lieblingsschüler und musikalische Vertraute Tschaikowskys war auch maßgebend an der Ausbildung der nächsten russischen Komponistengeneration beteiligt – darunter Rakhmaninow, Skryabin, Glière, Mjaskowskij, Medtner und Gretschaninow – und schuf mit seiner tiefschürfenden Untersuchung des doppelten Kontrapunkts (1909, engl. Ausgabe 1962) ein musiktheoretisches Standardwerk. Als einer der hervorragenden Pianisten seiner Zeit komponierte er auch eigene Werke in zwei grundverschiedenen Stilarten: einerseits imposante Versuche in der großen klassisch-romantischen Tradition (Kantaten, Orchesterwerke, Kammermusik sowie eine Oper), andererseits grillenhafte, meist noch unveröffentlichte Gelegenheitsstücke, die er für private Aufführung im Freundeskreis schuf: witzige Fugen, Lieder nach Texten in Esperanto, Spielzeugsymphonien, sogar eine Ballettmusik, die aus geschickt miteinander verschränkten Tschaikowsky-Melodien besteht. Auch wenn seine Kompositionen zu Lebzeiten als fast abschreckend abstrakt galten, haben sie bis zum heutigen Tag ihre Bewunderer behalten und können immer noch einen Platz im Repertoire behaupten.

Tanejew kam in einer hochgebildeten Familie zur Welt (sein Vater war mittlerer Staatsbeamter mit Universitätsabschlüssen in Literatur, Mathematik und Medizin), von der er eine vielseitige Intelligenz und weitverzweigte Interessen erbte. Bereits als 12jähriger trat er in das Moskauer Konservatorium ein und damit auch in die Harmonie-klasse Tschaikowskys, dessen Meisterschüler er bald wurde. (Nachdem Tanejew mit 19 Jahren die Moskauer Erstaufführung des Klavierkonzerts b-Moll bestritten hatte, hob er fortan alle Werke Tschaikowsky für Klavier und Orchester aus der Taufe.) Seine Studien am Moskauer Konservatorium schloß er 1876 mit einer bis dahin einmaligen «Großen Goldmedaille» in Komposition und Klavierspiel ab. Kaum zwei Jahre später wurde er Professor am gleichen Konservatorium, und bereits 1885 – im Alter von nur 28 Jahren – dessen Leiter. Um seine Fähigkeiten im theoretischen Bereich zu festigen, unternahm er eine gründliche Untersuchung des Kontrapunkts, die bis in die Zeit der Altmeister Okeghem und Josquin des Prez zurückreichte und ihn zu einer anerkannten Größe in diesem tiefgründigen Fach erhob. Darüber hinaus sammelte er im Kaukasus Volkslieder, schloß Freundschaft mit Lew Tolstoj (dessen Ehefrau lebenslang eine gefährliche verschmähte Liebe zu ihm hegte) und pflegte sein Interesse an Spinozas Philosophie, das weit über Liebhaberei hinausging. Sein Wort, ob zustimmend oder ablehnend, galt vielerorts als maßgebend und wurde mit einer Aufrichtigkeit zum Ausdruck gebracht, die ihm uneingeschränkte Achtung einbrachte.

Als vielseitiger Lehrer, Administrator, Gelehrter und reproduzierender Künstler mußte Tanejew seine kompositorische Arbeit vorwiegend in den Sommerferien ausüben. Dadurch – neben einer gewissen Unbekümmertheit seinen eigenen Werken gegenüber – erklärt sich zum Teil auch das relativ schmale gedruckte Oeuvre aus seiner Feder. Ebenfalls bedeutsam war jedoch seine ungewöhnliche Arbeitsmethode: Tanejew hatte nämlich die Angewohnheit, vor der eigentlichen Kompositionsarbeit das ganze thematische Material in allen nur erdenklichen kontrapunktischen Kombinationen (Fugen, Kanons usw.) auszuprobieren. Damit wurde zwar die Entstehungszeit des Werkes erheblich ausgedehnt, das Ergebnis jedoch war erhielten von einem handwerklichen Schliff, der seinen Komponistenkollegen nicht entging («Vor einer solchen Souveränität kommt man sich vor wie ein Schüler», so Rimsky-Korsakow nach der Aufführung eines Tanejew-Quintetts.). Im Jahre 1889 legte Tanejew sein Amt als Leiter des Moskauer Konservatoriums nieder, um sich seinem Lehrbuch über den doppelten Kontrapunkt und dem Komponieren stärker zu widmen, allen anderen voran seiner dreiaktigen Oper Orestei nach Aischylos, die ihn bis 1894 beschäftigte und 1895 uraufgeführt wurde. Nicht weniger bedeutsam war jedoch sein Entschluß, die Lehrtätigkeit am Konservatorium 1895 aus Protest gegen die Behandlung der Studenten nach der gescheiterten Revolution vom 1905 einzustellen. Es folgte eine reiche Schaffenszeit, die in dem Werk gipfelte, das weithin als sein kompositorisches Meisterwerk gilt: die Kantate Bei der Lektüre eines Psalms op. 36 (1914/15). Es war das letzte Werk, das Tanejew komponieren sollte: Nachdem er sich bei der Trauerfeier Skryabins im Februar 1915 stark erkältete, starb er einige Monate später erst 58jährig an Herzversagen.

Die Konzert-Suite für Violine und Orchester op. 28 entstand im Jahre 1909 während Tanejews später Blütezeit und stellt sein einziges Werk für diese Besetzung dar. Sie wurde unverzüglich zur Veröffentlichung durch die von Sergej Kussewitzky neugegründeten Editions Russes de Musique angenommen, bei der sie auch bald darauf als Partitur und Klavierauszug unter dem Titel Suite de Concert pour violon et orchestre en cinq parties op. 28 (Berlin/Moskau 1910) erschien. Obwohl die Konzert-Suite den Bekanntheitsgrad einiger anderer Orchesterwerke Tanejews (vor allem der vorhergehenden Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 12) nie erreichte, ist sie bereits 1963 zum Gegenstand einer analytischen Monographie (von M. I. Fikhtengolts) geworden und wurde u.a. energisch von David Oistrakh vertreten, der sie auf Schallplatte einspielte, einmal unter der Leitung von Jean Martinon und noch einmal unter Nikolai Malko. Zu weiteren Verfechtern der Konzert-Suite gehören Christian Altenburger und vor allem der finnische Geiger Pekka Kuusisto, der das Werk unter Vladimir Ashkenazy einspielte. Die Konzert-Suite gibt es auch in einer Fassung fürs Violoncello.

Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial ist von Zimmermann, Frankfurt zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Tom Zelle, Chicago.

 

 

Sergey Ivanovich Taneyev
(b. Vladimir-na-Klyaz’me, 25 November 1856 - d. Dyud’kovo nr. Moscow, 19 June 1915)

Concert Suite for Violin and Orchestra op. 28 (1909)

Preface
Handsome, severe, intellectual, high-minded, supremely gifted, yet with a savory sense of humor, Sergey Taneyev stands out among the great generation of late nineteenth-century Russian composers for being vociferously opposed to almost every current of his times while enjoying the esteem and friendship of all who knew him. The favorite pupil and preferred musical confidante of Tchaikovsky, he helped to train the next generation of leading Russian composers - Rachmaninov, Scriabin, Glière, Myaskovsky, Medtner, Grechaninov - and published a monument to music theory with his great study of invertible counterpoint (1909, Eng. trans. 1962). One of the outstanding pianists of his day, he also wrote music in two distinct strains: imposing essays in the grand tradition (including cantatas, orchestral works, chamber music, and an opera), and whimsical pièces d’occasion, most of them still unpublished, which he wrote for private performance among his friends: comic fugues, toy symphonies, songs in Esperanto, and a ballet consisting of Tchaikovsky tunes in contrapuntal combination with each other. Though considered almost forbiddingly abstract in their day, his compositions have never lacked admirers and have never entirely vanished from the repertoire.

Taneyev was born into a highly cultivated environment (his father was a civil servant with degrees in literature, mathematics, and medicine) and inherited a wide-ranging intelligence and multiple interests. At the age of twelve he was admitted to Moscow Conservatory and the composition class of Tchaikovsky, whose favorite pupil he promptly became. (After giving the first Moscow performance of the B-flat major Piano Concerto at the age of nineteen, Taneyev was to play the premières of all of Tchaikovsky’s works for piano and orchestra.) He left Moscow Conservatory in 1876 with a Grand Gold Medal in both composition and performance, a feat never before accomplished. Two years later he was appointed professor at that same conservatory, and by 1885 he had advanced to become its director - at the age of twenty-eight! To strengthen his command of theory he began a study of counterpoint that took him back to the Old Masters (notably Okeghem and Josquin des Prez), and quickly became a reigning authority in this recondite field. He gathered folk songs in the Caucasus, befriended Tolstoy (whose wife developed a dangerous lifelong crush on him), and cultivated a more than amateur interest in the philosophy of Spinoza. His opinions, whether favorable or not, were considered authoritative to a degree, and were spoken with a forthrightness that commanded universal respect.

Taneyev was extraordinarily versatile as a teacher, administrator, scholar, and performer and confined his compositional work mainly to the summer holidays. This is one reason, besides a certain insouciance toward his own musical creations, that his published output is relatively slender. Another reason had to do with his unusual working habits. It was Taneyev’s custom to gather together the thematic material for a piece and to knead it into all imaginable contrapuntal combinations (fugues, canons, and much else) before advancing on the work proper. This slowed down the act of creation while producing scores of a stunning craftsmanship whose intricacy was lost on none of his contemporaries. (Rimsky-Korsakov, on hearing one of Taneyev’s quintets, claimed that «before such mastery one feels a mere pupil.»)

In 1889 Taneyev stepped down as director of Moscow Conservatory to devote himself to his counterpoint treatise and to his own compositions, especially the three-act Oresteia after Aeschylus, which occupied him until 1894 and received its première in 1895. No less important was his decision to leave the Conservatory altogether after the failed Revolution of 1905, as a gesture of protest at the repressive action taken against its students. There followed a rich flowering of compositional activity, culminating in what is widely considered his greatest work, the cantata At the Reading of a Psalm, op. 36 (1914-15). It was the last piece to flow from Taneyev’s pen: after contracting a cold at Scriabin’s funeral in February 1915, he died of a heart seizure a few months later, not having reached his sixtieth birthday.

The Concert Suite for Violin and Orchestra, op. 28, was composed in 1909 during the final flowering of Taneyev’s compositional career. His only work for violin and orchestra, it was immediately accepted into the catalogue of Kussevitzky’s newly founded Editions Russes de Musique, which promptly issued it in both full score and piano reduction as Suite de Concert pour violon et orchestre en cinq parties, op. 28 (Berlin and Moscow, 1910). Although not as well-known as some of his other orchestral works (notably its predecessor, the Symphony No. 4 in C minor, op. 12), it has served as the subject of a separate monograph (by M. I. Fikhtengolts, 1963) and was ardently championed by David Oistrakh, who issued it twice on disk, once conducted by Jean Martinon and again by Nikolai Malko. Other notable performers include Christian Altenburger and especially the Finnish violinist Pekka Kuusisto, who has recorded it with Vladimir Ashkenazy. The Concert Suite also exists in a version for cello.

Bradford Robinson, 2006

 

 

 

 

For performance material please contact the publisher Zimmermann, Frankfurt. Reprint of a copy from the collection Tom Zelle, Chicago