Sir Charles Villiers Stanford
(geb. Dublin, 30 September 1852 — gest. London, 29. März 1924)

Sinfonie Nr. 7 in D op. 124

Es ist erstaunlich, daß die Werke von Sir Charles Villiers Stanford so gut wie unbekannt geblieben sind: ein umfangreiches Ouevre von 194 publizierten und etlichen unveröffentlichten Stücken aller Gattungen, neun Opern, 45 Orchesterwerke – darunter sieben Sinfonien (zwischen 1876 und 1911), vier Klavier- und drei Violinkonzerte –, 33 große Chorwerke, etliche Kirchen-, Kammer- und Vokalmusik sind die Ausbeute eines fruchtbaren Komponistenlebens. Erst seit den achtziger Jahren beginnt man, sich wieder dafür zu interessieren, nicht zuletzt durch die Gesamt-Einspielung der Sinfonien unter Vernon Handley für das Label Chandos (1987–1992). Wurde es diesen Kompositionen vor allem zum Verhängnis, daß Stanford auf anderen musikalischen Gebieten weitaus bekannter war?

Schon seine Jugend verlief mehrgleisig: Er wuchs in einer alt-eingesessenen, protestanti-schen Dubliner Juristen-Familie auf – begeisterte Amateurmusiker mit einem für Musiker stets offenen Haus. Bald zeigte er vielseitige Begabung als Komponist, Organist, Geiger und Pianist, interessierte sich aber auch brennend für Altphilologie. Sein Vater hatte zwar eine Juristen-Karriere für ihn vorgesehen, stimmte jedoch zu, als Charles 1870 den Wunsch äußerte, Musik zu studieren. Im gleichen Jahr gewann er ein Orgel-Stipendium für das Queen´s College, Cambridge – Auftakt einer spektakulären musik-akademischen Karriere. Er wurde noch als Student Dirigent der Cambridge Amateur Vocal Guild und der Cambridge University Music Society, 1874 obendrein Organist des Trinity College. Es folgten mehrere Studienaufenthalte in Leipzig und Berlin, wo er u. a. mit Carl Reinecke und Friedrich Kiel studierte.

Mit großer Energie organisierte er das Musikleben in Cambridge, das unter seiner Leitung enormen Aufschwung nahm: Bald gingen dort internationale Stars der Klassik-Szene wie Dirigent Hans Richter ein und aus; Joseph Joachim, den er als Jugendlicher im eigenen Elternhaus kennengelernt hatte, leitete kurz nach Stanfords Amtsantritt die britische Erstaufführung der ersten Sinfonie von Brahms. 1876 errang er außerdem mit seiner ersten Sinfonie B-Dur den zweiten Preis des Alexandra Palace Kompositionswettbewerbs. Aufgrund seiner Erfolge wurde er 1883, gerade 31 Jahre alt, Professor am Londoner Royal College of Music, vier Jahre später Professor of Music in Cambridge. Außerdem leitete er den Bach Choir (1886–1902), die Leeds Philharmonic Society (1897–1909) und das Leeds Triennial Festival (1901–1910). Diese Posten boten ihm nicht zuletzt zahlreiche Möglichkeiten, eigene Werke zu schaffen und aufzuführen.

Dessen ungeachtet gilt Stanford bis heute vor allem als Autor von Fachbüchern und Essays sowie nationale Institution der britischen Musikausbildung, der ganze Generationen namhafter britischer Komponisten hervorbrachte. Sein Schaffen war einerseits zum überwiegenden Teil Gebrauchsmusik im besten Sinne – insbesondere seine Kirchen-, Vokal- und Kammermusik –; andrerseits wurde den für ein weiteres Publikum geschriebenen Werken eine Eigenart wohl zum Verhängnis: In Zeiten, in denen das Interesse an national geprägter Musik stark stieg, schrieb Stanford ausgesprochen zurückhaltend. Ein typisches britisches Idiom ist in vielen seiner Werke kaum zu finden – sieht man einmal von der Irish Symphony (1887) ab, die sein größter internationaler Erfolg wurde. Irisches Kolorit steckt auch in den sechs Irish Rhapsodies und kleineren Gelegenheitswerken, doch schon die erwähnte Irische verwendet im Andante die alte irische Melodie Lament of the Sons of Usnacht, die auch Brahms ein Jahr zuvor für den langsamen Satz seiner vierten Sinfonie heranzog. Und da das Werk von Brahms später natürlich weitaus bekannter war als die irische Melodie, wurde Stanford bald als Epigone abgestempelt, insbesondere von Brahms und Dvorak.

Natürlich sind entsprechende Einflüsse auf Stanfords sinfonische Sprache nicht zu verhehlen, doch zeigt sich bei vielen Sinfonikern der Hoch-Romantik ein Ausdrucks-Idiom, das eben vor allem an den zentral-europäischen Klassikern geschult wurde, selbst noch bei den ersten Beispielen solcher Werke ab etwa 1860, die der französische Komponist und Musikwissenschaftler Paul-Gilbert Langevin 1980 in seiner bedeutenden Studie ›ethno-romantisch‹ nannte – beispielsweise die Erstlinge von Raff und Volkmann (1863), Dvorak, Rimskij-Korssakov und Svendsen (1865), Caikosvkij (1866), Rheinberger und Borodin (1867). Stanford zählt zu jenen, die bis an ihr Lebensende vergleichsweise konservativ blieben und der Mode weitgehend widerstanden, ›sensualistisch‹ oder ›avantgardistisch‹ zu schreiben. Das verstellt leider bis heute den Blick auf viele Sinfonien, die zwar aus heutiger Sicht nicht ganz so spektakulär, aber durchaus persönlich und verhalten-progressiv sind. Dieses Schicksal teilen Stanfords Sinfonien beispielsweise mit denen von Felix Draeseke, Zdenek Fibich, Alexander Glasunow, Giuseppe Martucci, Hubert Parry, Joachim Raff, Joseph-Guy Ropartz oder Camille Saint-Saens.

Die siebente und letzte Sinfonie von Stanford, entstanden 1911 als Auftragswerk der Philharmonic Society of London und dort am 22. Februar 1912 uraufgeführt, wirkt kurz vor dem zweiten Weltkrieg wie ein Rückblick auf eine ganze Epoche. Das Werk ist sparsam-klassisch instrumentiert (doppeltes Holz, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken und kleine Streicher-Besetzung), mit etwas mehr als 25 Minuten Spieldauer knapp und konzentriert gehalten, und noch dazu enthält es nach altem Brauch ein Menuett und einen Variationensatz. Lewis Foreman bezeichnete die Siebente mit einigem Recht als »polemische Entgegnung zu dem luxuriöseren – und erfolgreichen – Romantizismus Elgars« und fand sie »eher eine Zusammenfassung als eine Abweichung« von der Sinfonie des 19. Jahrhunderts. Doch andererseits hat sie ausgesprochen zukunftsweisende Aspekte: Der Kopfsatz weist mit seiner durchgehenden Sechzehntel-Motorik auf Sibelius und verbindet den Charakter eines Präludiums aus rhythmisch wenig spektakulären Melodie-Themen mit einer ausgefeilten Sonaten-Form, die im Sinne Bruckners zweigeteilt ist. Durchführung und Reprise sind vollständig miteinander verschmolzen; man spricht hier (mit Robert Simpson) besser von einem ›Statement‹ und einem ›Counter-Statement‹. Auch der harmonische Bauplan ist kühn: Das an den späten Schubert erinnernde Seitenthema (Ziffer 3) steht in f-moll, die Schlußgruppe ist wie bei Bruckner aus rhythmischem Material des Hauptthemas gebildet (Ziffer 5) und zögert jede harmonische Auflösung unerträglich hinaus; zunächst scheint über G-Dur c-moll erreicht (vor Ziffer 8), doch das ›Counter-Statement‹ (Ziffer 8) bringt das Hauptthema zunächst wieder in d-moll, und bald nach D-Dur gewendet. Ähnlich wie im Falle der Fünften von Vaughan-Williams wäre es besser, Stanfords Siebente als »Symphony in D« und nicht Sinfonie d-moll zu betrachten.

Das Menuett in B-Dur sollte aufgrund der vorherigen Fermate attacca folgen – zumal es Motive aus dem Kopfsatz aufnimmt. Stilistisch vermittelt es irgendwo zwischen Brahms und Richard Strauß. Das Tempo, »allegretto molto moderato«, ist heikel. Der Menuett-Charakter sollte noch hörbar werden, anstatt (wie in Handleys Einspielung) durch schleppendes Tempo den Eindruck eines Brahms´schen Intermezzo zu erwecken – zumal im Trio Stanford das Metrum genial in einen 6/8-Takt verrückt, das dem ganzen Satz den Eindruck großer Finesse verleiht. Den traditionellen langsamen Satz und das Finale verschmilzt Stanford sogar zu einem einzigen Komplex und schließt mit diesem Experiment an die dreisätzigen Sinfonie an, die durch César Franck (d-moll-Sinfonie, 1889) und Ernest Chausson (1891) in das Interesse der Komponisten rückte, teilweise von Jean Sibelius aufgegriffen (zweite, dritte und fünfte Sinfonie) und in den großen sinfonischen Werken von Arnold Bax (1883–1953) zur bestimmenden Form wurde. Zugleich greift dieser Komplex zahlreiche Elemente der ersten beiden Sätze durchführungs-artig auf – besonders hörbar bei der Rückkehr des Hauptthemas aus dem Kopfsatz (Ziffer 16). Nachdem die Variation zu Beginn des Finales noch ausgesprochen russisch geklungen hatte, irgendwo zwischen Volkslied und prachtvollem Choral, wird es später doch noch etwas ›britisch‹ – bei der Wiederkehr des Themas in D-Dur (Ziffer 18), die Ralph Vaughan Williams im Epilog des Finales seiner Fünften zitierte, und der nachfolgenden Marsch-Episode (nach Ziffer 19), die wie eine liebevoll-verhaltene, persönliche Art von ›Pomp and Circumstance‹ wirkt, bevor das Werk in majestätischem, aber nie grellem D-Dur ausklingt. Dieser Variationen-Satz ist übrigens sicher nicht weniger kühn als Schuberts bis heute unverstandenes Rondo A-Dur D 951, das gemeinsam mit dem Allegro Lebensstürme D 947 eine zweisätzige Sonate für Klavier vierhändig bildet.

© Benjamin-Gunnar Cohrs, 2006 (artiumbremen@yahoo.de)

Empfehlung: Sir Charles Villiers Stanford, Symphonies 1–7, Ulster Orchestra, Vernon Handley, Chandos, 4 CD CHAN 9279–82

Aufführungsmaterial ist von Kalmus, Boca Raton zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Phillip Brookes, Market Drayton.

Sir Charles Villiers Stanford
(b. Dublin, 30 September 1852 - d. London, 29 March 1924)

Symphony No. 7
in D, op. 124

Preface
It is astonishing that the works of Sir Charles Villiers Stanford should remain virtually unknown. The harvest of his fruitful career was a voluminous oeuvre consisting of 194 published and several unpublished pieces in every genre, including nine operas, forty-five orchestral works (with seven symphonies written between 1876 and 1911, as well as four concertos for piano and three for violin), thirty-three large-scale choral works, several church compositions, chamber music, and vocal pieces. It was not until the 1980s that interest in them was rekindled, not least through Vernon Handley’s complete recording of the symphonies for Chandos (1987-92). Were these compositions fated to endure neglect because of Stanford’s far greater fame in other fields of music?

Stanford was a polymath even in his youth. He grew up in a venerable Protestant family of Dublin jurists who were also enthusiastic musical amateurs and always kept an open house for musicians. He soon revealed multiple talents as a composer, organist, violinist, and pianist while taking a keen interest in ancient languages. Though groomed for a career in law, his father granted his consent when Charles, in 1870, expressed a desire to study music. In the same year the young man won an organ scholarship to Queen’s College in Cambridge. It was the outset of a spectacular musico-academic career. While still a student he conducted the Cambridge Amateur Vocal Guild and the Cambridge University Music Society and was appointed organist of Trinity College in 1874. He thereupon made several trips to Leipzig and Berlin, where he studied with Carl Reinecke and Friedrich Kiel, among others.

With great energy Stanford set about organizing Cambridge’s music scene, which witnessed a huge upsurge under his aegis. Soon it was being frequented by international stars of the stature of conductor Hans Richter. Shortly after Stanford took office Joseph Joachim, whom he had met at his parents’ home while still a teenager, arrived to conduct the British première of Brahms’s First Symphony. In 1876 his own First Symphony in B-flat major won second prize at the Alexandra Palace Composition Competition. In view of these triumphs, Stanford was made a professor at London’s Royal College of Music in 1883, having just turned thirty-one. Four years later he became professor of music in Cambridge. He also headed the Bach Choir (1886-1902), the Leeds Philharmonic Society (1897-1909), and the Leeds Triennial Festival (1901-10). These positions gave him many opportunities to compose and perform his own music.

Nevertheless, Stanford is remembered today mainly as the author of textbooks and essays and as a national institution in British music education who brought forth entire generations of noteworthy British composers. His musical output was largely dominated by Gebrauchsmusik in the best sense of the term, especially church compositions, vocal pieces, and chamber music. On the other hand, one peculiarity of the works he wrote for a broader public probably became their undoing: in an age that saw a sharp upturn in interest in nationally-tinged music, Stanford’s works were conspicuously subdued. Many of them contain barely a trace of typically British idioms, apart from the Irish Symphony (1887), which became his greatest international success. An Irish tinge can also be found in his six Irish Rhapsodies and several pièces de circonstance. But even the slow movement of the Irish uses the same ancient Irish tune, Lament of the Sons of Usnacht, that Brahms had adopted one year earlier for the slow movement of his Fourth Symphony. As Brahms’s piece later became far better known than the original tune, Stanford was quickly derided as an imitator, especially of Brahms and Dvorák.

It is, of course, foolish to deny the existence such influences on Stanford’s symphonic language. But many symphonists from the heyday of romanticism reveal an expressive idiom honed primarily on the great Central European classics. This is evident even in the earliest examples of those works, dating from around 1860, that the French composer and musicologist Paul-Gilbert Langevin, in his magisterial study of 1980, referred to as «ethno-romantic»: the first symphonies of Raff and Volkmann (1863), Dvorák, Rimsky-Korsakov, and Svendsen (1865), Tchaikovsky (1866), and Rheinberger and Borodin (1867). Stanford was one of those composers who remained relatively conservative to the end of their days and who resisted the fashion to write «sensualist» or «avant-garde» music. Unfortunately this has distorted the image of his many symphonies to the present day. True, they are not especially spectacular from a present-day vantage point, but they are eminently poetic and tolerably progressive. In this respect, Stanford’s symphonies have shared the fate of those by Felix Draeseke, Zdenek Fibich, Alexander Glazunov, Giuseppe Martucci, Hubert Parry, Joachim Raff, Joseph-Guy Ropartz, and Camille Saint-Saëns.

Stanford’s seventh and final symphony was written in 1911 to fulfill a commission from the Philharmonic Society of London, where it received its première on 22 February 1912. It functioned as a backward glance at an entire era until shortly before the Second World War. The scoring is classically lean (double woodwind, four horns, two trumpets, three trombones, timpani, and a small string section), and the piece is concise and tightly focused, lasting slightly more than twenty-five minutes in performance. It also follows older usage by including a minuet and a set of variations. Lewis Foreman referred to the Seventh, with some justification, as a «polemical response to the luxurious - and successful - romanticism of Elgar,» and found it «more of a summation than a departure» from the nineteenth-century symphony. Yet it has aspects that definitely point toward the future. The opening movement foreshadows Sibelius with its constant sixteenth-note momentum and combines the flavor of a prelude on rhythmically bland scraps of melody with a polished bipartite sonata-allegro form à la Bruckner. The development and recapitulation completely merge, causing Robert Simpson to prefer the terms «statement» and «counter-statement.» Even the key scheme is bold. The second thematic group, reminiscent of late Schubert (rehearsal no. 3), is set in F minor. The concluding group is fashioned from the rhythmic material of the main theme (rehearsal no. 5), as in Bruckner, while delaying the harmonic resolution to the verge of unbearability. At first we seem to reach C minor by way of G major (before rehearsal no. 8) only to have the counter-statement (rehearsal no. 8) present the main theme initially in D minor before turning shortly thereafter to D major. As in Vaughan-Williams’s Fifth, it is thus perhaps better to refer to Stanford’s Seventh as a «symphony in D» rather than a «symphony in D minor.»

The B-flat major minuet, being preceded by a fermata, is meant to follow attacca, especially as it contains motifs from the opening movement. Stylistically it stands midway between Brahms and Richard Strauss. The tempo, «allegretto molto moderato,» is precarious: the movement should preserve its minuet character rather than conveying the impression of a Brahmsian intermezzo by dragging the tempo (as on Handley’s recording), particularly as Stanford ingeniously shifts the meter to 6/8 in the trio, imparting a sense of great finesse to the entire movement. The traditional slow movement and the finale even merge to form a single complex - an experiment beholden to the three-movement symphonic form that emerged with César Franck (D-minor Symphony, 1889) and Ernest Chausson (1891), to be partially adopted by Sibelius (Symphonies nos. 2, 3 and 5) and to become definitive in the great symphonic works of Arnold Bax (1883-1953). At the same time this complex takes up many elements from the first two movements in the manner of a development, as is particularly striking when the main theme from the opening movement returns at rehearsal no. 16. If the variation at the start of the finale still sounds conspicuously Russian, poised somewhere between a folk song and a splendid chorale, it later becomes slightly «British.» This is apparent at the return of the theme in D major (rehearsal no. 18), quoted by Ralph Vaughan Williams in the epilogue of the last movement of his Fifth. It is equally apparent in the subsequent march episode (after no. 19), which sounds like a lovingly restrained and personal trope on Pomp and Circumstance. Finally the piece ends in a majestic but never garish D major. Incidentally, this set of variations is surely no less bold than Schubert's still misunderstood Rondo in A major (D 951), which forms a two-movement sonata for piano four-hands in combination with the allegro Lebensstürme (D 947).

Recommended listening: Sir Charles Villiers Stanford, Symphonies 1-7, Ulster Orchestra, Vernon Handley, Chandos, 4 CD CHAN 9279-82.
For performance material please contact Kalmus, Boca Raton Reprint of a copy from the collection Phillip Brookes, Market Drayton.