Heinz Tiessen
(geb. Königsberg, 10. April 1897 – gest. Berlin, 29. November 1971)

Totentanz-Suite / Visionen
Drei Stücke für kleines Orchester op. 29 (1918-28, rev. 1954)

Vorwort
Die Totentanz-Suite op. 29 steht am Anfang der «zweiten Schaffensperiode» (so Tiessen selber), in der sich der Komponist von seinem früheren Mentor Richard Strauss distanzierte und zu einer Leitfigur der expressionistischen Strömung in der Musik der Weimarer Republik wurde. Angefangen hatte diese Periode kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als sich Tiessen in das Berliner Theaterleben der Nachkriegszeit vertiefte und rund dreißig Bühnenmusiken für einige der größten Theaterregisseure der Zeit komponierte, darunter Jürgen Fehling und Max Reinhardt. Die Wende zum Expressionismus wird 1956 in einem autobiographischen Beitrag zur Zeitschrift Musica knapp dargestellt:

«Die Aufgabe, in der Schauspielmusik mit einem Minimum an Mitteln und Zeit ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, ließ mich über die gewohnten Klangvorstellungen hinaus eine expressive polyphone Schreibweise gewinnen. Zur ‘Atonalität’ (grund-sätzlichen harmonischen Beziehungslosigkeit) blieb ich trotz klanglicher Annäherungen im Gegensatz; auch die entlegensten Zusammenklänge und ihre Verkettungen schienen mir aus der kadenzierenden Logik als graduelle Erweiterung entwickelbar zu bleiben und gruppierbar um eine Tonika: Ausbalancierung von Spannung und Entspannung ist mir Urgesetz und zeitlos gültig im Wandel der Erscheinungsformen.»

Später hat Tiessen die Hintergründe dieses «Neuanfangs» in einer Selbstdarstellung Wege eines Komponisten (1962) kurz umrissen. Hier spricht er «von meinem ‘zweiten Anfang’ in linearer Polyphonie, die sich aufs beste mit dem Zeitgeiste des Expressionismus vertrug [...]. Noch ein weiteres Moment kam hinzu: die äußere und innere Wandlung, die der Weltkrieg und seine Folgen, das Elend der Notzeiten weithin bewirkten. In der ersten Nachkriegszeit erhoffte idealistische Hochspannung eine Zukunft ohne Bevorzugte und Benachteiligte, ein neues Menschentum. [...] Ein neuer Geist der Gemeinschaft prägte die Jugend und wandelte jene, die schon ein Gesicht hatten, zur Wesentlichkeit, zur Beschränkung, zum Verzicht auf die luxuriöse Üppigkeit der Kunstmittel, auf die sensibel-egozentrische Ich-Lyrik.»

Bis 1921 spürte Tiessen bereits eine Einengung durch seine Theaterarbeit, die ihn an der Hervorbringung großangelegter Konzertmusik hinderte, und er verschob allmählich seinen beruflichen Schwerpunkt auf die institutionelle und organisatorische Ebene, indem er vor allem in der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Zeitgenössische Musik (1922-33) und an der Berliner Musikhochschule (1925-45) aktiv wurde. Einige der Ideen aus seinen Bühnenmusiken arbeitete er in vier neue Partituren um, die zu den glänzendsten Beispielen seiner Kunst gehören: die vorliegende Totentanz-Suite op. 29, die Hamlet-Suite op. 30, das Streichquintett op. 32 und das Vorspiel zu einem Revolutionsdrama op. 33. Erstgenanntes, nunmehr für Violine und kleines Orchester umgestaltet, lehnte sich an seine Bühnenmusiken zu Cymbelin und Dem Sturm von William Shakespeare (1. Satz), Der armselige Besenbinder von Carl Hauptmann (2. Satz) und Don Juan und Faust von Christian Dietrich Grabbe (3. Satz) an. Das neue Werk wurde 1928 bei Ries & Erler als Partitur verlegt und am 19. März desselben Jahres in der Leipziger Alberthalle durch die Geigerin Therese Petzko-Schubert uraufgeführt, wobei der junge, mit Tiessen befreundete Jascha Horenstein das Dirigat innehatte. Dank der freundlichen Aufnahme gab es erneute Aufführungen in Breslau, Berlin und vor allem Königsberg, wo die Suite am 24. April 1929 auf Einladung des damaligen Leiters des Ostdeutschen Rundfunkorchesters Hermann Scherchen ausgestrahlt wurde. Später dirigierte Scherchen die Totentanz-Suite auch in Winterthur und Stockholm, während Tiessen selber eine reichsweite Rundfunkübertragung durch den Deutschlandsender leitete.

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und einer rechtslastigen Kulturpolitik wurden die Kompositionen Tiessens plötzlich unerwünscht, und die Totentanz-Suite fiel mit seinem restlichen Oeuvre der Vergessenheit anheim. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden seine Musikmanuskripte durch Kriegswirkung zerstört und seine kompositorischen Tätigkeiten zum Stillstand gebracht. Unter den Umständen dieser abermaligen Nachkriegszeit erhielt die Totentanz-Suite 1954 eine weitere Umgestaltung und zugleich einen neuen Titel -, Visionen -, wobei die nicht sonderlich erhebliche Revisionen vor allem den letzten Teil des Werkes betrafen. Diese zweite Fassung wurde am 28.-29. November 1954 durch den wohl begabtesten Schüler Tiessens - Sergiu Celibidache – anläßlich seines letzten Konzertauftritts mit den Berliner Philharmonikern unter dem solistischen Einsatz des Konzertmeisters Siegfried Borries uraufgeführt. Im Jahre 1995 wurden die Visionen bei Ries & Erler als Partitur und Klavierauszug neu verlegt, und zwar mit einer Anmerkung des Komponisten auf der Titelseite: «Schlussseiten der Partitur, Takt 300-320 des Finales mit dem ergänzten Schluß in voller Übereinstimmung mit dem Stimmenmaterial. 14. April 1969. Heinz Tiessen.» Es ist eben diese zweite Fassung, die hier zum erstenmal als Studienpartitur erscheint.
Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial ist von Ries und Erler, Berlin zu beziehen.

 

 

Heinz Tiessen
(b. Königsberg, 10 April 1897 – d. Berlin, 29 November 1971)

Totentanz Suite / Visions
Three Pieces for Violin and Small Orchestra op. 29 (1918-28, rev. 1954)

Preface
The Totentanz Suite, op. 29, marks the advent of what Heinz Tiessen later called his «second period of creativity,» in which he distanced himself from his earlier mentor, Richard Strauss, and became a standard-bearer for the Expressionist strain in the music of the Weimar Republic. The period began shortly after World War I as Tiessen became deeply involved with the theatrical scene of post-war Berlin and created thirty scores for some of the greatest stage directors of the era, including Jürgen Fehling and Max Reinhardt. His turn to Expressionism is neatly captured in an autobiographical essay that he contributed to the periodical Musica in 1956: «The challenge of obtaining a maximum of expression from a minimum of means and duration led me to an expressively contrapuntal style of composition beyond the sounds one is normally accustomed to hear. Despite certain similarities in sonority, I kept my distance from ‘atonality’ (the fundamental absence of harmonic relations); I felt that even the remotest chords and their progressions could be derived and grouped around a tonic as a gradual expansion of the logic of the cadence: to me, the balancing of tension and relaxation is a primordial law valid throughout the ages, despite all the changes in its manifestation.»

Later, in his brief autobiography Wege eines Komponisten (1962), he succinctly outlined the reasons for this «second beginning»: «I spoke earlier of my ‘second beginning’ in linear counterpoint, which ideally coincided with the zeitgeist of Expressionism [...] Another element entered the picture: the external and internal transformation brought about by the Great War and its aftermath, the misery of that period of deprivation. In the first post-war years, high-minded idealists hoped for a future devoid of privilege and disadvantage, a new-born humanity. [...] A new spirit of community left its mark on the young generation and compelled those who had already gained a voice to reduce their means to essentials, to avoid luxurious excess in their artistic resources, and to shun the egoistic sensitivity of self-absorbed lyricism.»

By 1921 Tiessen had already begun to sense the narrowness of his work for the theater, which prevented him from attempting large-scale concert music, and gradually shifted his career to the institutional and organizational arenas, becoming especially active in the German chapter of the International Society for Contemporary Music (1922-33) and at the Berlin Hochschule (1925-45). He reworked some of the ideas from his theater music into four scores that number among the best to proceed from his pen: the present Totentanz Suite (op. 29), the Hamlet Suite (op. 30), the String Quintet (op. 32), and Vorspiel zu einem Revolutionsdrama (op. 33). The first, for violin and small orchestra, drew on the incidental music he had composed for Shakespeare’s Cymbeline and The Tempest (movement 1), Carl Hauptmann’s Armselige Besenbinder (movement 2), and Christian Dietrich Grabbe’s Don Juan und Faust (movement 3). The work was published in full score by Ries & Erler in 1928 and received its première at the Albert Hall in Leipzig on 19 March of that same year, with Therese Petzko-Schubert taking the solo part and Tiessen’s young friend Jascha Horenstein conducting the orchestra. The response was such that the work was repeated in Breslau, Berlin, and particularly in Königsberg, where it was broadcast on 24 April 1929 at the invitation of the then director of the East German Radio Symphony Orchestra, Hermann Scherchen. Scherchen later performed the suite in Winterthur and Stockholm, and Tiessen himself conducted a broadcast performance for the nationwide Deutschlandsender.

With the rise of National Socialism and the conservative establishment Tiessen's music became unwanted, and the Totentanz Suite was ignored along with the rest of his oeuvre. By the time the Second World War ended his manuscripts had been destroyed and his compositional activity brought to a standstill. It was under these circumstances that he reworked the Totentanz Suite in 1954 and gave it a new title, Visionen ("Visions"). The revisions themselves were not very substantial, mainly involving the last section of the score. The new version was premièred by Tiessen's most gifted pupil, Sergiu Celibidache, in the latter's final concert with the Berlin Philharmonic on 28-9 November 1954, with the solo part taken by the orchestra's concertmaster, Siegfried Borries. Later, in 1995, Visionen was issued in score and piano reduction by Ries & Erler with a statement from the composer on the title page: «Final pages of the score, bars 300-320 of the finale with the added conclusion, in complete agreement with the orchestral material. 14 April 1969. Heinz Tiessen.» It is this version which we present here for the first time in miniature score.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Ries und Erler, Berlin.