Johan Severin Svendsen
(geb. Christiania [Oslo], 30. September 1840 - gest. Kopenhagen, 14. Juni 1911)

Romeo og Julie
(“Romeo und Julia”)
Fantasie für Orchester op. 18 (1876)

Vorwort
Im Jahre 1872 kehrte Johan Severin Svendsen nach langjährigen Reisen durch die musikalische Welt von Leipzig und Kopenhagen bis Paris und New York nach Oslo zurück, um sein Glück in seinem Heimatland Norwegen zu versuchen. Obwohl sein Ruhm als brillanter junger Dirigent und vielversprechender Komponist bereits feststand, fehlte ihm noch der künstlerische Durchbruch, der ihn auf den gleichen Stand wie seinen engen Freund Edward Grieg hätte erheben können. Es überfiel ihn eine charakteristische Schwermut: „Zur Zeit führe ich kein angenehmes Leben“, klagte er Grieg am 15. April 1875. „Von Schulden und damit verbundenen Unannehmlichkeiten geplagt bin ich selten zufrieden, und als Ergebnis bin ich selten in der richtigen Stimmung zu komponieren.“ Dennoch komponierte er: Die Jahre bis etwa 1877 sollten sich als die produktivsten seiner ganzen künstlerischen Laufbahn erweisen und die Entstehung vieler Werken erleben, die seinen heutigen Ruhm als Komponist begründen: Zorahayda op. 11, Der Norwegisches Künstlerkarneval op. 14, die Zweite Symphonie op. 15, die erster drei Norwegischen Rhapsodien (op. 17, op. 19, op. 21) sowie die vorliegende Orchester-fantasie op. 18 nach dem Shakespeare-Drama Romeo and Juliet. Zwar blieb er grundsätzlich mit seinen eigenen Werken unzufrieden und neigte eher dazu, sie als Mißerfolge zu bezeichnen, die Welt der Musik war jedoch gänzlich anderer Ansicht, und bald waren seine Kompositionen in allen Ecken Europas und an der Ostküste der Vereinigten Staaten zu hören. Nie wieder sollte ihn seine kompositorische Muse so reichhaltig beschenken.

Im Frühjahr 1876 nahm Svendsen die Arbeiten an der Partitur zur Romeo und Julia in Angriff. Zwar gab es zu der Zeit bereits hervorragende Vertonungen des gleichen Sujets - wie etwa die gleichnamige „dramatische Symphonie“ von Berlioz oder die weltberühmte Oper von Gounod -, Svendsen ließ sich jedoch nicht entmutigen und faßte ein Werk ins Auge, das der Länge und dem Anspruch nach eher als Konzertouvertüre aufgefaßt werden sollte. Statt zu versuchen, das Shakespeare-Drama musikalisch nachzuerzählen, faßte er einige von dessen Grundstimmungen gleichsam als Vorbereitung auf einen imaginären Theaterbesuch zusammen. Einige Passagen der daraus resultierenden „Fantasie“ lassen sich eindeutig als Anspielung auf gewisse Aspekte des Bühnenstücks verstehen: die langsame Einleitung als stimmungsvoller Auftakt, die tödliche Feindschaft zwischen den Familien Capulet und Montague, ein dramatischer Höhepunkt, der offensichtlich den überschwenglichen Gefühlen der beiden Liebenden gilt, sowie ein ruhiger Schluß, um den Vorhang über den tragischen Ausgang zu ziehen. Wer jedoch etwa nach lebensnahen Porträts der Hauptpersonen sucht – wie in der Faust-Symphonie von Franz Liszt – oder nach einer detailgetreuen Nacherzählung der Handlung – wie in der Tondichtung Don Quixote von Richard Strauss –, wird sich enttäuscht sehen. Statt dessen läßt sich Svendsens Orchesterfantasie am besten wegen seiner besonderen Stärken genießen - vor allem der gekonnten Handhabung des Orchesterapparats, für die er bereits zu Lebzeiten berühmt war.

Kaum hatte Svendsen die Partitur zur neuen Fantasie im September 1876 abgeschlossen, als er eine Aufführungsmöglichkeit für seine neuesten Kompositionen am 14. Oktober im Rahmen des Osloer Musikvereins organisierte. Die Uraufführungen fanden zwar termingerecht statt, enttäuscht wurde er jedoch von der geringen Besucherzahl und den mageren Einnahmen, durch die sich seine finanzielle Lage empfindlich verschlechterte. Die Kritiker und Musikkenner betrachteten das Konzert hingegen als überwältigenden künstlerischen Erfolg, vor allem die große Zweite Symphonie, die die anderen Werke auf dem Konzertprogramm überschattete. Bald wurde jedoch auch Romeo und Julia anderweitig aufgeführt – 1879 in London, 1880 in Brünn, 1881 in Boston und Kopenhagen. Das neue Werk wurde vom Leipziger Verlag sofort zur Veröffentlichung angenommen und erschien 1880 als Druckpartitur mit einer Widmung an den führenden italienischen Klaviervirtuosen Giovanni Sgambati, der Svendsen 1877/78 während seines Rombesuches in seinen Bann schlug. Auch wurde die neue Fantasie in der maßgebenden deutschen Musikzeitschrift, der Allgemeinen musikalischen Zeitung (5. Mai 1880), über alle Maßen gelobt. Das Interesse ließ auch später nicht nach: 1893 wurde die Partitur von Breitkopf & Härtel neu aufgelegt, und noch 1902 ertönte die Fantasie in einem Kopenhagener Galakonzert zu Ehren Svendsens. Bis dann wurde jedoch Svendsens Vertonung des Shakespeare-Stoffs durch die emotionsgeladene gleichnamige Orchesterfantasie von Peter Tschaikowsky aus dem Jahr 1870 in den Schatten gestellt, die bis zum heutigen Tage unfaire Vergleiche nach sich gezogen hat. (Es fehlt jeder Nachweis, daß Svendsen beim Komponieren seines Orchesterstücks das Meisterwerk Tschaikowskys bereits kannte.) Mit der Wiederentdeckung der skandinavischen musikalischen Romantik im späten 20. Jahrhundert fand auch Romeo und Julia in die Konzertsäle – und teilweise auch ins Aufnahmestudio – zurück. Seitdem sind die Aufführungen dieses beachtenswerten Orchesterwerks alles andere als selten.

Bradford Robinson, 2006

Aufführungsmaterial erhältlich beim Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Nachdruck einer Partitur aus der Landesbibliothek Coburg, Coburg.

 

 

Johan Severin Svendsen
(b. Christiania [Oslo], 30 September 1840; d. Copenhagen, 14 June 1911)

Romeo og Julie
(“Romeo and Juliet”)
Fantasy for orchestra, op. 18 (1876)

Preface
In 1872 Johan Severin Svendsen, having traveled the musical world from Leipzig and Copenhagen to Paris and New York, returned to Oslo to seek his fortune in his native Norway. Though secure in his reputation as a brilliant young conductor and a promising composer, the breakthrough that would place him on an equal footing with his good friend Edvard Grieg continued to elude him, and he slipped into characteristic despondency. «It is not a pleasant life that I am living,» he wrote to Grieg on 15 April 1875. «Plagued by debt and other related miseries, I am seldom content, and as a result I am seldom in a mood to compose.» Yet compose he did, and the years until 1877 proved to be the most productive of his career, yielding many of the works by which he is best-known today: Zorahayda (op. 11), the Norwegian Artists’ Carnival (op. 14), the Second Symphony (op. 15), three of the Norwegian Rhapsodies (opp. 17, 19 and 21), and the present orchestral fantasy on Shakespeare’s Romeo and Juliet (op. 18). Though he remained fundamentally dissatisfied and inclined to dismiss his works as failures, the world of music thought otherwise, and his music was soon being performed in all corners of Europe and the Eastern seaboard of America. Never again would he witness such bounty from his compositional muse.

Svendsen began work on the score of Romeo and Juliet in the spring of 1876. Although there had already been outstanding settings of the same subject by Berlioz (a “dramatic symphony”) and Gounod (the famous opera), he was undaunted and set out to produce a piece that, in length and magnitude, might best be classified as a concert overture. Rather than attempting to recount the story of Shakespeare’s play, it draws together some of its moods in preparation for an imaginary visit to the theater. Some passages clearly allude to aspects of the play: a slow introduction to set the mood, the deadly enmity of the Capulet and Montague families, a dramatic climax representing the intense feelings of the young lovers, and a quiet conclusion to draw the curtain over their tragic deaths. Yet those searching for precise character sketches, as in Liszt’s Faust Symphony, or a detailed retelling of the plot, as in Strauss’s Don Quixote, are bound to be disappointed. Instead, Svendsen’s fantasy is best enjoyed for his particular strengths, especially the expert handling of the orchestra, for which he was justly famous in his day.

Hardly had Svendsen finished the score of op. 18 in September 1876 than he set about arranging a performance of his most recent works at the Oslo Music Society on 14 October. The premières duly took place as scheduled but left him disappointed with the low attendance and box-office returns, which caused a serious setback in his personal finances. To the critics and the educated public, however, the concert was an unmitigated artistic triumph, especially the great Second Symphony, which overshadowed the other works on the program. Soon Romeo and Juliet was being given elsewhere - London (1879), Brno (1880), Boston and Copenhagen (1881). It was immediately accepted for publication by Breitkopf & Härtel in Leipzig and issued in full score, in 1880, with a dedication to the outstanding Italian pianist and Liszt adherent Giovanni Sgambati, who had thoroughly impressed Svendsen during his visit to Rome in 1877-8. It also drew a rousing review from the leading German music journal, Allgemeine musikalische Zeitung (5 May 1880). Nor did interest wane thereafter: Breitkopf & Härtel reissued the score in 1893, and the work was again heard at a gala Svendsen concert in Copenhagen as late as 1902. By that time, however, Svendsen’s Romeo and Juliet had been eclipsed by Tchaikovsky’s hyper-emotional fantasy on the same subject (1870), evoking comparisons from which it has unfairly suffered ever since. (There is no indication that he was aware of Tchaikovsky’s masterpiece when he set out on his own composition.) With the renaissance of interest in Scandinavian romanticism in the late twentieth century, Romeo and Juliet too found its way back onto the concert stage, and occasionally into the recording studio, and its performance today is anything but a rarity.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the Landesbibliothek Coburg, Coburg.