Peter Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 - gest. St. Petersburg, 6. November 1893)

Konzertfantasie für Klavier und Orchester op.56

Vorwort
«Spät aufgestanden. Immer noch kalt. Tee getrunken und zu Ljowa gegangen, der bald darauf wegfuhr. Ich blieb, um herumzuklimpern und Neues auszudenken. Kam auf die Idee eines Konzertes für Pianoforte, jedoch es wurde viel zu kläglich und erbrachte nichts Neues.... .» Dies notierte Peter I. Tschaikowsky am 13. April 1884 in sein Tagebuch. Es ist der erste Hinweis auf die spätere Konzertfantasie für Klavier und Orchester. Vergleicht man die Tagebucheinträge zur Konzertfantasie mit denen zum 1. Klavierkonzert, wird ein großer Unterschied erkennbar. War Tschaikowsky beim der Komposition des b-Moll Klavierkonzertes völlig beseelt von einem Schaffensrausch und voller Selbstbewusstsein («Ich will nicht eine Note ändern!»), so ging das Komponieren jetzt nur schleppend voran. Im Juni 1884 bittet Tschaikowsky den Pianisten Sergej Taneev, ob er das in Planung befindliche Klavierkonzert in zwei Sätzen spielen könne. Nach vielen Bedenken schritt der Kompositionsprozess dann doch zügig voran, sodass Tschaikowsky das Werk am 24. September 1884 fertig stellen konnte. Die Uraufführung fand dann am 22. Februar 1885 im Rahmen eines Konzertes der Russischen Musikgesellschaft mit Sergej Taneev als Solisten und Max Erdmannsdörfer als Dirigenten statt.

Im Prinzip ist aber hier schon die Rezeptionsgeschichte vorgezeichnet. Die Konzert-fantasie für Klavier und Orchester op. 56 gehört bis heute zu den Werken von Peter I. Tschaikowsky, die man selten im Konzertsaal hört. Daran ist der Komponist vielleicht nicht ganz unschuldig. Seit der Uraufführung im Jahre 1885 haftet der Fantaisie de Concert pour le Piano avec accompagnement d’Orchestre etwas Unvollendetes an. Von den zwei Sätzen kann man den zweiten weglassen, Tschaikowsky bietet für diese Möglichkeit auch gleich einen längeren Schluss für den ersten Satz (26 statt 3 Takte): «Will man sich mit dem ersten Satz allein begnügen, so ist nach dem ersten Takt der letzen Zeile, ..., sogleich diese Beilage zu spielen.» Dass der zweite Satz, in dem kompositorisches Material aus dem Satz «Kontraste1» aus der 3. Suite verarbeitet wurde, dem Komponisten als nicht so bedeutsam erschien, mutet schon merkwürdig an. Warum dann überhaupt ein 2. Satz? Doch dazu später.

Für Adolf Bernhard Marx stand die Konzeption des Instrumentalkonzertes unter dem Verdacht, «ein Unternehmen zweideutiger Art» zu sein, das Kunstwerk als idealer Ausdruck des Schöpferischen war nach ihm stets in Gefahr, durch die hypertrophen Ansprüche des Solisten überlagert zu werden. Es scheint als sei Tschaikowskys Komposition hierfür ein Musterbeispiel. Schon der Titel Konzertfantasie für Klavier und Orchester verweist auf diese Gattungsproblematik. Aber man muss gar nicht so weit in die Tiefe gehen. Auch die Satzbezeichnung des ersten Satzes Quasi Rondo spricht schon für sich, untersucht man die Form genauer, so wird schnell klar, dass hier noch nicht einmal ein Rondo im eigentlichen Sinne vorliegt. Unentschlossen war Tschaikowsky auch bei der Frage der Widmung. Hatte er den Klavierauszug von 1884 noch mit der Dedikation «A Madame Annette Essipoff» versehen, so ist die Partitur 1893 Sophie Menter gewidmet.

Einige dieser Unklarheiten lassen sich leicht erläutern. Im Schaffen Tschaikowskys nehmen die Instrumentalkonzerte eine zentrale Bedeutung ein. Sie sind weder Hilfsmittel noch Zwischenstück auf dem Weg vom virtuosen Instrumentalstück zum großen symphonischen Werk. Tschaikowsky gehört zu denjenigen Komponisten, deren wahrer kompositorischer Rang von einer fragwürdigen Rezeptionsgeschichte bekannter Werke verdeckt werden. Und so nimmt es nicht Wunder, das viele Werke aus seinem Schaffen ein Randdasein führen.

Die Bezeichnung Fantasie verweist auf eine Traditionslinie. Tschaikowsky unternimmt in der Nachfolge von Robert Schumann den Versuch, Konzert und Sinfonie vor dem Hintergrund des übergeordneten Prinzips der Fantasie eine formale Flexibilität und Freiheit des Ausdrucks zu erreichen. Die Satzbezeichnung Quasi Rondo erklärt sich somit von selbst. Die scheinbare Unentschlossenheit Tschaikowskys, zumindest in kompositorischer Hinsicht, erweist sich als historisches und ästhetisches Vorurteil, das die stellenweise unerhörte Modernität von Tschaikowskys Werk zu leugnen versucht. Dass der gesamte Kompositionsprozess in diesem konkreten Fall eher mit Mühsal beladen war, mag biographisch signifikant sein, schmälert aber in keinster Hinsicht dieses nicht nur kompositorisch interessante, sondern auch virtuose Werk.

Der erste Satz beginnt einem markanten Thema, das nach einer kurzen Streicherfloskel von den Holzbläsern vorgetragen wird. Das zweite Thema erklingt zuerst auf dem Klavier. Es entwickelt sich dann ein lebhafter Dialog. Bemerkenswert ist dieser Satz, weil Tschaikowsky zwischen Exposition und Reprise eine lange virtuose Episode für Klavier solo einfügt, in der auch neue Themen vorgestellt werden. Dieser Abschnitt ist eher reflexiv. Im ersten Satz ist eine starke Kontrastwirkung vorhanden, die jedoch an keiner Stelle aufgelöst wird. Genau das Moment der oftmals unvermittelten Übergänge, wurde Tschaikowsky oft als kompositorischer Mangel vorgeworfen. Ändert man die Sichtweise, so ist genau dies, was seinen innovativen Geist auszeichnet. Dies mag vielleicht erstaunen, weil das Vorurteil bestand und besteht, dass Tschaikowsky und Innovation diametral entgegengesetzt seien. Die Tendenz, das Spektrum der Kontraste einer Komposition immer umfangreicher werden zu lassen, ist signifikant für das späte 19. Jahrhundert. Indem Tschaikowsky Kontraste stellenweise nicht mehr auflöst, weil das ästhetische Potential schlicht weg zu umfangreich wird, verweist sein u. a. Werk sowohl auf Igor Strawinsky2, aber auch auf Gustav Mahler. Man sieht, man muss nur den Blickwinkel ändern. Doch zurück zur Fantasie.
Die Sache wird nun ganz einfach, im ersten Satz stellt Tschaikowsky das kompositorische Material vor, und im zweiten Satz wird dies reflektiert. Die verschiedenen Schlüsse lassen sich jetzt ganz einfach deuten. Banal formuliert: hat man auf die Reflektion keine Lust, so spielt man eben nur den ersten Satz. Tschaikowsky führt hier experimentell ein quasi alleatorisches Element ein.

1993 schrieb Henry Zajaczkowski anlässlich der Feiern zum 100. Todestag des Komponisten, «Wenn sich ‘Tschaikowskys innovativer’ Geist in Kompositionen äußert, die wir kaum je hören, so heißt das nicht, dass seine bekannteren Werke von schöpferischer Befangenheit zeugen würden. Paradoxerweise macht uns gerade ihre Vertrautheit taub für die progressiven Momente.» Hier kann man nur noch anfügen, dass diese einseitige Auffassung bloß revidiert werden kann, wenn wird die unbekannteren Werke öfters hören.

Die Herausgabe dieses Werkes erhält vor diesem Hintergrund die Bedeutung, sich nicht nur intensiver mit dieser sehr modernen und interessanten Komposition zu beschäftigen, sondern vielleicht auch eine Diskussion über Tschaikowsky zu initiieren.

Michael Pitz-Grewenig, 2006

1 1884 hegte Tschaikowsky den Plan für eine 3. Orchestersuite, deren erster Satz den Titel «Kontraste» trägt. Am 11. Mai notiert er in seinem Tagebuch: Dieser Satz «ist mir derart zuwider geworden, dass ich mich, nachdem ich mich, einen ganzen Tag mit ihm herumgeplagt hatte, beschloß, sie sein zu lassen und etwas ganz anderes zu schreiben. (...) Nachmittags presste ich einen misslungenen Suitensatz aus mir heraus.» Tags darauf findet sich in seinem Tagebuch: «Nach dem Tee hätte ich beinahe wieder angefangen, mich mit den widerwärtigen Kontrasten abzuplagen, aber plötzlich blitzte ein hübscher Gedanke auf, und die Sache lief glatt». Er komponierte eine neue Suite, das Material der Kontraste floss in seine neue Komposition für Klavier und Orchester. Tschaikowsky suchte die Einsamkeit. Er verbrachte den größten Teil der zweiten Jahreshälfte 1884 in völliger Abgeschiedenheit auf Gut «Plestschejewo», das sich in der Nähe Moskaus befindet. Hier komponierte er nicht nur die Konzertfantasie, sondern begann auch mit der Manfred-Sinfonie.

2 Igor Strawinsky hat stets betont, dass er Tschaikowsky sehr schätzte, sein Vater ,der Opernsänger Fjodor Strawinsky, war mit Tschaikowsky befreundet.

Aufführungsmaterial ist von Benjamin Musikverlage, Hamburg zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Musikbibliothek der Stadtbücherei München.

Peter Iljitsch Tschaikowsky
(b. Votkinsky, 7 May 1840 - d. St. Petersburg, 6 November 1893)

Concert Fantasy for Piano and Orchestra, op. 56

«Got up late. Always cold. Drank some tea, went to Riga and soon returned. I am staying here to tinkle the ivories and to come up with something new. Have an idea for a piano concerto, but it’s far too doleful and not novel . . .» (Entry of 13 April 1884 in Tchaikovsky’s diary.) This is the first indication of what would become the Concert Fantasy for Piano and Orchestra. A comparison of the diary entries for the Fantasy to those for the First Piano Concerto reveals a great difference. For the b minor Piano Concerto Tschaikovsky was possessed by a creative frenzy and highly conscious of his accomplishment («I will not alter a single note!»). For the Concert Fantasy, work went slowly. In June 1884 Tchaikovsky asked the pianist Sergey Taneyev if he would be willing to perform a piano concerto (planned for two movements). After much consideration, composition was resumed—this time at a quicker pace, so that work was completed on 24 September 1884. The premiere—with Taneyev as pianist and Max Erdmannsdoerfer as conductor—took place on 22 February 1885 as part of a Russian Musical Society concert.

Basically, that is the history of public reaction to the work. To the present day the Concert Fantasy for Piano and Orchestra, op. 56 is among those works by Tchaikovsky seldom heard in the concert hall. Perhaps the composer himself bears some of the blame. Since its premiere in 1885 the Fantaisie de Concert pour le Piano avec accompagnement d’Orchestre has been perceived as somehow incomplete. Of its two movements, the second can be omitted—an option offered by Tchaikovsky himself, and which included a longer ending for the first movement (twenty-six instead of three measures): «If one is satisfied with the first movement by itself, after the first measure of the final system . . . this addition can be played.» That the second movement—based on thematic material from the movement «Contrasts» from the Third Suite—seemed of less consequence to the composer is astonishing.1 Why bother with the second movement at all? More about that later.

For Adolph Bernhard Marx, the concerto itself as a viable form was suspect because of its «ambiguous nature.» A work of art as an ideal expression of the creative spirit was, Marx felt, jeopardized by the insistent demands of the soloist. Tchaikovsky’s composition seems to be a classic instance of this. The title, Concert Fantasy for Piano and Orchestra, alludes to the problem. And the first movement, with the title «Quasi Rondo,» is another indication. An examination of it quickly reveals that this is no rondo in the conventional sense. In addition, Tchaikovsky was undecided to whom to dedicate the piece. The piano edition of 1884 appeared with the dedication «A Madame Annette Essipoff.» But when the full score was published in 1893 it was assigned to Sophie Menter.

Some of these discrepancies are easily explained. Concertos hold a central position in the work of Tchaikovsky. They are neither an expedient nor a bridge on the path from virtuosic instrumental piece to substantial symphonic work. Tchaikovsky belongs to the type of composer whose true stature lies concealed behind the dubious recognition accorded to his famous compositions. So it is no wonder that many of his works seem to lead a peripheal existence.

His use of the word, Fantasy, follows tradition. Tchaikovsky continues in the path of Robert Schumann—attempting to create formal flexibility and freedom of expression using the principles of the concerto and symphony in the service of the concept of the fantasy. That explains the title, Quasi-Rondo. Tchaikovsky’s so-called indecision—at least in compositional matters—is based upon an historic and aesthetic prejudice that attempts to deny the unheard of modernity of his work. That the entire compositional process for the Fantasy was burdened with hardship is surely of biographical significance—but that should in no way detract from the piece, interesting both from a compositional and virtuosic point of view.

The first movement opens with a prominent theme which after a brief phrase by the strings is taken up by the woodwinds. The second theme is introduced by the piano. A lively dialogue follows. This movement is especially noteworthy because Tchaikovsky includes an extensive virtuosic section for solo piano—in which new themes appear—between the exposition and the recapitulation. This portion is more contemplative in nature. The first movement is one of strong contrasts, but at no point are they resolved. Tchaikovsky is frequently criticized for his abrupt transitions. But with a shift in perspective, these become indicative of his innovative approach. Some may find this surprising because of the longstanding prejudice that Tchaikovsky and Innovation are diametrically opposed to one another. The tendency to expand the spectrum of contrast within a composition is significant for the late 19th century, and helped to pave the way to more extensive use by others, such as Igor Stravinsky and Gustav Mahler.2 It’s simply a question of opening one’s eyes.

But back to the Fantasy. The situation is now straightforward: in the first movement Tchaikovsky brings his compositional material to the fore, and in the second reflects upon it. The meaning of the various endings is now easier to understand. Put banally: if there is little interest in reflection or contemplation, perform the first movement by itself. Tchaikovsky is being experimental, introducing a quasi aleatoric element.

On the occasion of the 100th anniversary of Tchaikovsky’s death in 1993 Henry Zajaczkowski wrote: «That we scarcely notice ‘Tchaikovsky’s innovations’ in his best known works is not a result of his creative diffidence. Paradoxically, we are so familiar with them that we are deaf to their progressive elements.» And one can only add that this one-sided perception is revised when we have the opportunity to hear his lesser known work more often.

This edition is presented not only to provide an opportunity for study of this very modern and interesting piece, but in the hope that it will also initiate discussion about Tchaikovsky.

Translation: Eric Jensen 2006

1 Tchaikovsky conceived the plan for the Third Suite for Orchestra in 1884, the first movement of which had the title, «Contrasts.» On 11 May he made the following entry in his diary: This movement «has become repulsive to me, so that, after spending an entire day bothering with it, I decided to leave it and write something completely different. [ . . .] In the afternoon I concocted an unsuccessful suite movement.» Days later in the diary: «After tea I nearly began to fuss with that horrid «Contrasts»—but suddenly a pretty thought appeared, and it went smoothly.» He composed a new suite, the material from «Contrasts» finding its way into his new work for piano and orchestra. At the time Tchaikovsky was eager for some solitude. He spent a substantial portion of the second half of 1884 in complete seclusion in «Plestschejewo,» not far from Moscow. It was there that he composed not just the Concert Fantasy, but also began work on the «Manfred» Symphony.

2 Igor Stravinsky consistently emphasized that he held Tchaikovsky in high regard. His father, the opera-singer Fyodor Stravinsky, was a friend of Tchaikovsky.

For performance material please contact the publisher Benjamin Musikverlage, Hamburg. Paris. Reprint of a copy of the music library archives of the Münchener Stadtbibliothek.