Mikalojus Konstantinas Ciurlionis
(geb. Varéna, 22. September 1875 - gest. Pustelnik 10. April 1911)

«Jura» (Das Meer)

Vorwort
Mikalojus Konstantinas Ciurlionis wurde am 10. September 1875 in Varéna im Süden Litauens als Sohn eines Organisten geboren. Von seinem Vater erhielt Ciurlionis den ersten Unterricht an der Orgel. Im Anschluss an einem Umzug 1878 nach Druskininkai besuchte Ciurlionis die Volksschule; 1885 jedoch, im Alter von 10 Jahren, musste er die Schule wegen Geldmangel verlassen. Ein Freund beschaffte dem noch sehr jungen Ciurlionis eine Klavierlehrerin, die ihm aber bald nichts mehr beibringen konnte.

Auf Empfehlung dieses Freundes wurde Ciurlionis mit 14 Jahren an die Orchester-schule des Fürsten Oginski nach Plungé geschickt, wo er neben verschiedenen Instrumenten Chorgesang und Musiktheorie studierte. Während dieser Zeit erhielt er erste Beachtung für seine Kompositionen - einige kleine Mazurken und Polonaisen widmete Ciurlionis dem Fürsten Oginski, mit dem ihn eine intensive Freundschaft verband. Hier begann Ciurlionis auch mit ersten Zeichnungen und kleinen Malereien.

Ab 1895, im Alter von 20 Jahren, besuchte Ciurlionis das Musikinstitut in Warschau. Dort begann er im Selbststudium, sein Allgemeinwissen aufzubessern: intensive Studien in Physik, Astronomie, Literatur, Philosophie, Geschichte, Mineralogie und Numerologie sollten später in seinen Malereien zum Ausdruck kommen. In Warschau lernte er Eugeniusz Morawski kennen, den späteren Leiter des Warschauer Musikinstituts, mit dem ihn eine lebenslange enge Freundschaft verband.

In Ciurlionis´ Warschauer Zeit entstanden Präludien, Kanons, Fugen, vier Zyklen für Klavier und ein Streichquartett. Nachdem ihm wegen hervorragender Leistungen im letzten Jahr die Studiengebühren erlassen wurden, schloss Ciurlionis sein Studium 1899 mit der Kantate De Profundis und einem Diplom in Komposition ab - und einem neuen Klavier, ein Geschenk seines Freundes, des Fürsten Oginski. Es kommt zur ersten Veröffentlichung eines seiner Werke, der Nocturne in fis-Moll, die in der Zeitschrift Meloman abgedruckt wird.

Am 16. Oktober 1901 immatrikuliert Ciurlionis am Konservatorium in Leipzig und beginnt sein Studium in Komposition bei Karl Reinecke und Kontrapunkt bei Salomon Jaddasohn. In kurzer Zeit vollendet der junge Komponist Kanons, Fugen und ein Quartett, das schon im Dezember 1901 zur Aufführung kommt. Auch in Leipzig wird Ciurlionis - wie schon in früheren Jahren - von starkem Heimweh geplagt, nicht zuletzt verstärkt durch die geringe Anerkennung seiner Kommilitonen. Von dieser Zeit zeugen viele Briefe an seine Familie und Freunde. Dennoch intensiviert er sein Studium und beschäftigt sich eingehend mit Berlioz und Strauss - auch Händel, Liszt, Tschaikowski und Wagner hinterlassen einen bleibenden Eindruck bei Ciurlionis.

Er beschäftigt sich nun auch wieder verstärkt mit Malerei. In dieser Zeit werden seine melancholischen Neigungen so augenscheinlich, dass sogar Karl Reinecke ihn ermuntert, doch auch einmal etwas «Fröhliches» zu komponieren: «Sie sind ja noch so jung und komponieren solch traurige und monotone Sachen». Ciurlionis beendet sein Studium im Leipzig schließlich mit dem «Erwerb der Lehrbefähigung».

Endlich kann er in die lang vermisste Heimat zurückkehren. Hier entstehen im Herbst 1903 die ersten symbolistischen Bilder. Um seine malerischen Fähigkeiten zu verbessern, besucht Ciurlionis ab dem Frühjahr 1904 die neue Warschauer Kunstschule. Er widmet sich nun vornehmlich der Malerei, ohne jedoch die Musik völlig zu vernachlässigen. Es folgen erste Ausstellungen seiner Bildern, vor allem in St. Petersburg erregt eine Schau seiner Werke große Aufmerksamkeit.

Musikalisch wird die in Ost- und Westeuropa auftretende Volksliedbewegung zum maßgeblichen Antrieb für seine in dieser Zeit entstehenden Werke: Er komponiert Volkslieder, schreibt Chorsätze und Klavierwerke. Zugleich gründet Ciurlionis in Vilnius, wo er ab 1908 sein privates Heim einrichtet, einen Volkschor und wird dessen Leiter. Am 1. Januar 1909 heiratet er Sofia Kymantaite. In dieser Zeit ist Ciurlionis von einem Schaffensrausch besessen, er malt und komponiert bis zur totalen Erschöpfung.

Erste manische Züge in seinem Wesen zeichnen sich ab, so dass Freunde eine Einweisung in ein Sanatorium erwägen. Da Ciurlionis trotz ärztlicher Anweisungen sein Arbeitspensum nicht reduziert, verschlechtert sich seine psychische Verfassung zusehendst. Am 30. Mai 1910 wird seine einzige Tochter Danaté geboren und sein gesundheitlicher Zustand erfährt eine geringfügige Verbesserung. Dennoch erleidet er - körperlich geschwächt - eine schwere Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung ausweitet, an der Ciurlionis am 28. März 1911 stirbt. Die Beisetzung findet am 13. April in Vilnius statt.

Erst posthum erfahren Ciurlionis´ Werke die Würdigung, die ihrem Stellenwert im Musikleben seiner Heimat Litauen entspricht. Ciurlionis gilt heute als Begründer der litauischen Malerei und Musik. Sein gesamter musikalischer Werkkatalog umfasst mehr als 350 Kompositionen, vornehmlich Werke für Klavier. Man kann sein Schaffen in zwei Schaffensperioden aufteilen, eine frühe von 1896-1903, und eine spätere mit Werken von grosser Reife von 1904-1911. Er kann im Allgemeinen als Meister der kleinen Form bezeichnet werden - sicherlich lassen sich stilistische Beziehungen zu Chopin aufzeigen, jedoch entwickelte er einen völlig eigenen Stil. «Der Einfluß eines Tschaikowsky, eines Chopin oder eines Richard Strauss ist in dieser Musik nicht mehr zu spüren. Hier erleben wir ein gänzlich neues und ungewöhnliches Idiom.... Einen Schritt weiter und der Komponist wird sich auf freien Fuß stellen, wird neue Mittel entdecken, um die Welt der Malerei in seine Musik zu übertragen, genauso wie er die umgekehrte Entsprechung in seiner Malerei vollzog.» (V. Karatygin).

Die symphonische Dichtung Jura (Das Meer) gehört in die zweite Schaffensperiode. Jura ist die zweite und letzte symphonische Dichtung von Ciurlionis, entstanden in den Jahren 1903-1907. «Bei den symphonischen Dichtungen Jura und Miske handelt es sich nicht nur um grandiose Naturbilder, sondern auch um eine vielgestaltige Welt des geistigen Daseins. Aus diesen besinnlichen und monumentalen Kompositionen spricht eine tiefschürfende Philosophie des menschlichen Lebens.» (L. Sepetys)

Im Gegensatz zu seiner ersten symphonischen Dichtung Miske wirkt Jura deutlich ausgereifter und fassbarer. In der Struktur lassen sich viele Hinweise auf Richard Strauß und Claude Debussy finden, was sicher daher rührt, dass Ciurlionis das Werk nach seiner Leipziger Zeit schreibt, wo er sich im Rahmen seines Studiums der Orchestermusik auch mit deren Werken auseinandergesetzt hat. Hier eignete sich Ciurlionis viele Partituren an und hat die so gewonnenen Eindrücke später in seiner eigenen kompositorischen Sprache neu formuliert. Auch hat der Unterricht bei Jaddasohn und Reinecke zu einer Festigung seiner Arbeit geführt, was in den Stücken dieser Periode nachvollziehbar ist. «Die Tondichtung Jura wurde in einer originellen Umdeutung der Sonatenhauptsatzform konzipiert. Sie ist voll von deutlichen, psychisch gewichtigen Bildern und rein musikalischen Ideen. [...] Andererseits erinnert dieses Werk, in dem die Sonatenhauptsatzform leicht versteckt wirkt, zuweilen an eine freie Fantasie. Die Beziehungen zwischen den Naturlandschaften und den psychischen Eindrücken sind nicht ohne fantastische und meditative Züge. Der dramaturgischen Form und der herrlichen Gesamtkonzeption kommt eine fundamentale philosophische Bedeutung zu.» (V. Landsbergis)

Innerhalb des Ouvres dieser Zeit, das sehr stark von Experimentierfreude und Kontrapunktik geprägt ist, sticht besonders Jura als ausgereifter Glanzpunkt hervor. In großartiger romantischer Manier verarbeitet Ciurlionis in diesem Werk die Thematik des Meers: Ein großer Reichtum an Orchesterfarben und Motiven erlaubt es dem Hörer, sich auf eine Reise aufs Meer zu begeben und lässt ihn an Gefahr, Hoffnung und Freude teilhaben. Das große Orchester in seiner ungeheuren Vielfalt wird meisterhaft von Ciurlionis´ Komposition gelenkt, wie ein großes Schiff von einem guten Kapitän, der es durch Not und Gefahr sicher steuert.

Es scheint, als habe Ciurlionis mit diesem Werk versucht, einen Ausbruch aus der «kleinen Form» seiner bisherigen Kompositionen zu wagen, ein Schritt, der ihm mit Jura ohne Zweifel gelang.

«Ich möchte eine Symphonie der rauschenden Wellen, der geheimnisvollen Sprache eines jahrhundertealten Waldes, der funkelnden Sterne, der heimischen Lieder und meiner unermeßlichen Sehnsucht komponieren.» (M.K. Ciurlionis)

Niko Dörr, Sterzhausen 2005

Zu Fragen des Aufführungsmaterial setzen Sie sich bitte mit dem Ciurlionis National Art Museum, Kaunas, in Verbindung.

 

 

Mikalojus Konstantinas Ciurlionis
(b. Varéna, 2. September 1875 - d. Pustelnik 10 April 1911)

Jura («The Sea»)

Preface
Mikalojus Konstantinas Ciurlionis was born in Varèna in southern Lithuania on 10 September 1875. His father was an organist and gave the boy his first lessons on the organ. After moving to Druskininkai in 1878 the boy attended elementary school, but was forced to leave in 1885 at the age of ten owing to shortage of money. A friend directed him to a piano teacher who, however, soon found that there was nothing more she could teach him.

At the age of fourteen, at the recommendation of the same friend, Ciurlionis was sent to the orchestral school of Prince Oginski in Plungé, where he studied plainchant and music theory in addition to several instruments. It was in these years that he began to receive recognition for his compositions - short mazurkas and polonaises dedicated to Prince Oginski, who was to become a close friend. It was also here that the boy produced his first drawings and small-scale paintings.

In 1895, at the age of twenty, Ciurlionis enrolled at the Warsaw Music Institute. There he began to improve his general knowledge through self-instruction. He undertook an intensive study of physics, astronomy, literature, philosophy, history, mineralogy, and numerology, all of which would later find expression in his paintings. In Warsaw he met Eugeniusz Morawski, the subsequent director of the Music Institute, with whom he formed a lifelong friendship.

During his Warsaw years Ciurlionis produced a number of preludes, canons, fugues, four sets of piano pieces, and a string quartet. In the final year his tuition fees were waived in view of his outstanding academic record, and he finished his studies in 1899 with a degree in composition for which he wrote the cantata De profundis; he also received a new piano, a gift from his friend, Prince Oginski. His first published work, a Nocturne in F-sharp minor, appeared in the periodical Meloman.

On 16 October 1901 Ciurlionis enrolled at Leipzig Conservatory and began to study composition with Carl Reinecke and counterpoint with Salomon Jadassohn. Before long he had completed several canons and fugues as well as a string quartet performed as early as December 1901. While in Leipzig the young man, as in early years, suffered severely from homesickness compounded by a lack of recognition from his fellow students. Many letters to his family and friends date from this period. Nonetheless, he plunged into his studies and became thoroughly acquainted with Berlioz and Strauss. Handel, Liszt, Tchaikovsky, and Wagner also left lasting impressions on the young composer.

At this time Ciurlionis also turned increasingly to painting. His melancholy disposition became so obvious that even Reinecke admonished him to write something «cheerful» for a change: «You’re still so young, and yet you write such sad and dreary music.» He finally ended his studies in Leipzig with a teacher’s certificate.

Having at last returned to his home country, Ciurlionis produced his first symbolist paintings in 1903. To improve his painterly skills he attended the newly founded Warsaw School of Fine Arts from the spring of 1904. Now he devoted himself primarily to painting, yet without neglecting music entirely. The first exhibitions of his paintings soon took place, most notably one in St. Petersburg that attracted great attention.

The folksong movement then emerging in eastern and western Europe became the mainspring of his music from this period. He composed folksongs, choral works, and piano pieces. He also founded and directed a folk chorus in Vilnius, where he settled in 1908. On 1 January 1909 he married Sofia Kymantaite. During this period Ciurlionis composed and painted to the point of total exhaustion like a man possessed.

Soon manic symptoms began to appear in Ciurlionis’s behavior, and his friends considered having him confined in a sanatorium. Despite orders from his doctors, he refused to reduce his workload, and his mental condition took a sharp turn for the worst. On 30 May 1910 his wife gave birth to their only daughter, Danaté, and his health showed signs of slight improvement. Nonetheless, in his weakened condition he caught a severe cold that quickly developed into pneumonia, causing his death on 28 March 1911. He was buried in Vilnius on 13 April.
It was only after his death that Ciurlionis’s works received the recognition appropriate to their stature in the musical life of his native Lithuania. Today he is regarded as the founding father of Lithuania’s painting and music. His catalogue of works contains more than 350 compositions, mainly for piano. His output falls into two periods of creativity: an early period from 1896 to 1903, and a later one from 1904 to 1911, when he produced works of great maturity. In general, he was a master of small forms; although stylistic ties to Chopin are easily found, he developed a style fully his own. «The influence of Tchaikovsky, Chopin or Richard Strauss is no longer felt in this music. What we hear is an entirely new and unusual idiom ... One more step, and the composer will come into his own, will find new means to translate the world of painting into his music, just as he achieved their reverse correlation in his painting.» (V. Karatygin)*

Jura («The Sea»), the second and last of Ciurlionis’s symphonic poems, falls into his second period, originating between the years 1903 and 1907. «His symphonic poems Jura and Miske are not only vast canvases depicting nature but a complex world of spiritual existence. A profound philosophy of human existence speaks to us from these thoughtful and monumental compositions.» (L. Sepetys)

Compared to his first symphonic poem, Miske, it is far more mature and intelligible. Its structure reveals many references to Richard Strauss and Debussy. This undoubtedly reflects the fact that it postdates his Leipzig period, when he mastered their works while studying orchestral music, absorbing many scores and recasting his impressions in his own compositional language. His lessons with Jadassohn and Reinecke also led to a solidification of his idiom that is clearly manifest in the music of this period. «Jura is composed in an original version of sonata-allegro form. It is full of distinct and psychologically significant scenes and purely musical ideas . [...] On the other hand, this tone-poem, in which the sonata-form pattern is lightly concealed, sometimes recalls a free fantasy. The associations of natural landscapes and psychological impressions are not without fantastic and contemplative features. The dramatic form and the majestic overall conception acquire an underlying philosophical dimension.» (V. Landsbergis)

His works from these years are noteworthy for a love of experimentation and counterpoint, with Jura standing out in particular for its brilliance and maturity. Here Ciurlionis takes up the themes of the sea in a grand romantic manner: a great wealth of orchestral colors and motifs enable the listener to embark on an ocean journey and partake of its joys, hopes, and perils. The large orchestra is handled with enormous variety and in masterly fashion, like a great vessel safely steered through dangerous shoals by a seasoned captain. It seems as if Ciurlionis were attempting, in Jura, to break the shackles of the «small-scale form» of his previous works. It is a step that he unquestionably achieved.

«I would like to compose a symphony of rustling waves, of the mysterious speech of a centuries-old forest, of shimmering stars, of our songs and my vast longing.» (M.K. Ciurlionis)

Niko Dörr, Sterzhausen, 2005

For questions of performance material please contact Ciurlionis National Art Museum, Kaunas.