Robert Schumann
(geb. Zwickau [Sachsen], 8. Juni 1810 – gest. Endenich bei Bonn, 29. Juli 1856)

»Verzweifle nicht im Schmerzensthal«
Op. 93, Motette für doppelten Männerchor a cappella,
mit Begleitung der Orgel (ad libitum), oder mit Begleitung des Orchesters (ad libitum)

Vorwort
Robert Schumanns anspruchsvolle Motette Verzweifle nicht im Schreckensthal gehört zu den zahlreichen Werken für Männerchor des 19. Jahrhunderts, die in unserer Zeit leider fast völlig vergessen sind – aber nicht nur, weil das Männerchorwesen in unserem Klassik-Konzertleben nahezu keine Rolle mehr spielt: Sie zählt außerdem bereits zu jenem Kreis später Schumann-Werke, die das Schicksal der Herabwürdigung durch die Nachwelt miteinander geteilt haben. Mehr als ein Jahrhundert lang hielt man Schumanns Spätwerk nurmehr für eine traurige Frucht seiner letzten Jahre, geprägt durch Krankheit und geistigen Verfall. Erst in den letzten Jahren setzte langsam eine Neubewertung ein, und heute werden viele dieser Kompositionen – darunter die späten Ouvertüren, Der Rose Pilgerfahrt, das Requiem, die Missa Sacra und weitere Vokal- und Kammermusik – als reife Meisterwerke anerkannt, die in der Schumann-Rezeption einen besonderen Rang verdienen.

Das Libretto der umfangreichen, fünfteiligen Motette op. 93 entstammt Friedrich Rückerts freier Übertragung der Dichtung von Abu Mohammed al Kasim Harîrî (1054–1121), erschienen 1826 als Die Wandlungen des Abu Seid von Serug oder die Makamen des Hariri. Schumann hatte dieses Buch aus der Bibliothek seines Freundes, des Dresdener Malers Eduard Bendemann, ausgeborgt – im Revolutions-Jahr 1848. Kummer und Sorgen dieser stürmischen Zeiten mögen Schumanns Auswahl mit begründen, zusammengestellt aus dem Ende der 16. Makâme, in der ein Kranker für seine Genesung dankt. Ungeachtet des weltlichen Text-Hintergrundes sprach Schumann selbst übrigens stets von einem «geistlichen Gedicht» oder einem «religiösen Text» – wohl nicht zuletzt, weil Rückert seine Nachdichtung mit christlichen Metaphern gespickt hatte. Er skizzierte die Komposition «in ungeheuerer Schnelligkeit» zwischen dem 23. und 31. Mai 1849, in Kreischa bei Dresden, wo die Familie Schumann vor den Unruhen verhältnismäßig sicher war. Ursprünglich war sie lediglich für Männerchor a cappella entworfen worden, wenngleich Schumann auch von Beginn an eine Orchester-Begleitung ins Auge gefaßt hatte.

Die Gelegenheit zur Erstaufführung bot sich bereits ein Jahr später: Hermann Langer, Direktor des Universitäts-Gesangsvereines St. Pauli zu Leipzig, bat Schumann um ein Männerchorwerk anläßlich der Festlichkeiten zum 25. Bestehen des Chores am 4. Juli 1850. Der Komponist hatte gehofft, die Orchester-Begleitung bald einrichten zu können, doch er fand dafür zunächst keine Zeit, nicht zuletzt, weil im Mai 1850 nach Monaten der Verspätung endlich die Proben für die Uraufführung seiner Oper Genoveva in Leipzig begannen. Schließlich ergänzte Schumann am 29. Juni 1850, nur zwei Tage vor Probenbeginn der Motette, eine Stimme für Orgel-Begleitung. Er hatte die Premiere persönlich zu dirigieren, denn zu seiner eigenen Überraschung ernannte ihn der Sängerverein gleichzeitig zum Ehrenmitglied. Im weiteren Jahresverlauf begann Schumann, mit dem Leipziger Verleger Friedrich Whistling über eine Veröffentlichung der Motette zu verhandeln. Es scheint allerdings, das Whistling nicht an einer Orchesterfassung davon interessiert war, denn am 31. Oktober 1850 übersandte Schumann lediglich die Chorpartitur mit Orgelbegleitung ad libitum sowie einen kompletten Satz Chorstimmen nach Leipzig, wo das Werk im Mai 1851 erschien. Die Orchester-Bearbeitung entstand erst viel später: Am Ende der Autograph-Partitur vermerkte der Komponist «Vom 10–15ten Mai 1852 für Orchester instrumentirt R. Schumann» – kurz nach Beendigung der Partitur der Missa sacra op. 147 und der Entwürfe zum Requiem op. 148. Es war wiederum der Pauliner Universitäts-Gesangsverein, der das Werk in dieser Form am 8. März 1853 aus der Tafe hob, diesmal unter Leitung von Hermann Langer selbst. Doch trotz der guten Aufnahme durch Publikum und Kritik war der Motette kein großer zukünftiger Erfolg beschieden: Nur eine einzige weitere Leipziger Aufführung ließ sich für den 28. Januar 1861 im Gewandhaus nachweisen, und die Orchesterpartitur erschien erst 1887 im Rahmen der von Clara Schumann betreuten ersten Gesamtausgabe, die auch für diesen Nachdruck herangezogen wurde. Die Bezeichnung «für doppelten Männerchor mit Begleitung des Orchesters und der Orgel (ad libitium)» war allerdings doppeldeutig und irreführend: Erst die Kritische Neuausgabe des Werkes (Schott, 2000) konnte nachweisen, daß hier von drei unabhängigen Fassungen der Motette op. 93 gesprochen werden muß – a cappella (1849), mit Orgel- (1850) und mit Orchester-Begleitung (1852) –, die der Komponist allesamt als gleichwertige Alternativen betrachtete.

© Benjamin-Gunnar Cohrs, 2005

Aufführungsmaterial ist vom Original-Verlag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, zu beziehen. Die kritische Neuausgabe von Brigitte Kohnz and Matthias Wendt mit Werk-Kommentar und Revisionsbericht erschien in Robert Schumann, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Werkgruppe 3, Band 1 – Teilband 1, Schott International, Mainz 2000 (www.schott-international.com). [Käufliches Aufführungsmaterial: Nr. 1032-10]. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Robert Schumann
Motette op. 93

Gesungener Text
(Friedrich Rückert)

[I.]
Verzweifle nicht im Schmerzensthal,
wo manche Wonne quillt aus Qual.
Verzweifle nicht!

Oft braust der Sturm, und hinter ihm
ein Säuseln Gottes allzumal.
Die Wolke droht, da fällt aus ihr
ein Lichtstrahl, nicht ein Wetterstrahl.

Verzweifle nicht im Schmerzensthal,
wo manche Wonne quillt aus Qual.
Verzweifle nicht!

[II.]
Viel Winter sind dir über’s Haupt
gegangen, und noch ist’s nicht kahl.
Viel Stürme haben dir das Laub
gerüttelt, und noch ist’s nicht fahl.

Die Zeit hat dir so manche Lust
geschenkt, die dir so manche stahl,
und hat den Kelch mit Bitterkeit
gewürzt, dass er nicht werde schal.

Vertrau Du der verhüllten Hand,
die keinen führt nach seiner Wahl;
und sei auf Wchsel stets gefasst,
denn Wechsel heisst das Weltschicksal.

[III.]
Harr’ aus im Leid, bis weichen es
der heisst, der ihm zu nah’n befahl.

[IV.]
Und hoffe Gut’s vom Hauch des Herrn,
der Gnaden spendet ohne Zahl,
[V.]
und Freuden ohne Zahl lässt blüh’n
im Menschen-Leben eng und schmal.
Verzweifle nicht im Schmerzensthal,
wo manche Wonne quillt aus Qual.

Und hoffe Gut’s vom Hauch des Herrn,
der Gnaden spendet ohne Zahl,
und Freuden ohne Zahl lässt blüh’n.
Verzweifle nicht!

Robert Schumann
(b. Zwickau [Saxony], 8 June 1810 – d. Endenich near Bonn, 29 July 1856)

»Verzweifle nicht im Schmerzensthal«
Op. 93, Motet for Doubled Men’s Chorus a cappella,
with Organ Accompaniment (ad libitum), or with Orchestral Accompaniment (ad libitum)

Preface
Robert Schumann’s demanding motet Verzweifle nicht im Schreckensthal (i. e., «Despair not in this vale of pain») belongs to those numerous works for men’s chorus of the 19th Century which are almost completely forgotten in our days – but not only due to the fact that male choral singing is practically irrelevant in ourdays’ classical concert life: The motet belongs also to that circle of Schumann’s late compositions which shared the misfortune of posterior disparagement. For more than a century, most of those works were believed to be the sad fruit of Schumann’s years of disease and mental decline. Only in recent years a re-evaluation begun; today many of them – such as the late Overtures, Der Rose Pilgerfahrt, the Requiem, the Missa Sacra and much vocal and chamber music – are recognized as mature masterworks which deserve a special place in the reception of Schumann.

The libretto of the long, five-movement motet op. 93 was choosen from Friedrich Rückert’s adaptation of poems by Abu Mohammed al Kasim Harîrî (1054–1121), published as The Metamorphoses of Abu Seid from Serug or the Makamen of Hariri in 1826. Schumann had borrowed this book from the library of his friend, the painter Eduard Bendemann (Dresden), in the year of revolution, 1848. The grief and pain of those troubled times may also explain Schumann’s selection, adapted from the end of the 16th Makâme, in which a patient expresses his gratitude for recovering. However, despite its secular origin, Schumann himself spoke from it as a «spiritual poem» or «religious text» – perhaps because Rückert added various christian metaphors. He sketched the composition in «an incredible speed», from 23–31 May 1849, in Kreischa near Dresden, where the Schumann family was quite safe of the riots. Originally it was sketched for men’s chorus a cappella only, even if Schumann from the outset had considered to write an orchestral accompaniment as well.

The occasion for its first performance came only one year later: Hermann Langer, director of the St. Paul’s University Choral Society in Leipzig, asked Schumann for a contribution for men’s chorus to the celebration to mark the 25th anniversary of the founding of the society, to be held on 4 July 1850. The composer had hoped to arrange the orchestral accompaniment quickly, but did not find the time for it, because in May 1850 rehearsals for the first peformance of his opera Genoveva began in Leipzig, after months of delay. Only two days before the beginning of the rehearsals for the motet, on 29 June 1850, Schumann added a part for organ accompaniment. He had to conduct the premiere himself, since to his own surprise he was made an honorary member of the Choral Society at the same time. Later in the year, Schumann started negotiations with Friedrich Whistling (Leipzig) concerning the publication of the motet. It seems as if Whistling was not interested in an orchestral version of it, since on 31 October 1850 Schumann sent a vocal score including the organ as well as a complete set of choral parts to Leipzig, where it appeared in May 1851. The orchestral arrangement, however, was finished much later only: The dating at the end of the autograph score reads «Orchestrated from 10–15 May 1852 R. Schumann» – shortly after finishing the Missa sacra op. 147 and sketching the Requiem op. 148. It was again the St. Paul’s University Choral Society which gave the first performance on 8 March 1853, this time conducted by Hermann Langer himself. But despite a warm welcome by the audience and critics, the work was not very successful in due course: We have evidence of one single further performance in the Gewandhaus (28 Januar 1861), and the orchestral score was published by Clara Schumann within the first Schumann Complete Edition in 1887 only, as being reprinted here. However, the title «for doubled men’s chorus with the accompaniment of the orchestra and the organ (ad libitium)» was ambiguous and misleading. Only the New Critical Edition (Schott, 2000) has proven that in fact we have three independent versions of op. 93 – a cappella (1849), with organ accompaniment (1850) and with orchestral accompaniment (1852), all regarded as equally valid by the composer himself.

© Benjamin-Gunnar Cohrs, 2005

The performing material of this edition is available from the original publisher, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. The New Critical Edition by Brigitte Kohnz and Matthias Wendt, including Commentary and Critical Report, appeared in Robert Schumann, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Werkgruppe 3, Band 1 – Teilband 1, Schott International, Mainz 2000 (www.schott-international.com). [Performing Material on sale: Nr. 1032-10]. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Robert Schumann
Motette op. 93

Vocal Text
(Friedrich Rückert)

[I.]
Despair not in this vale of pain,
whence come many joys of torment.
Despair not!

Oft howls the storm, and from behind
a constant murmuring of God.
The cloud threatens, then from it falls
a light ray, not a lightning streak.

Despair not in this vale of pain,
whence come many joys of torment.
Despair not!

[II.]
Many a winter over your head
has passed, and yet ’tis still not bare.
Many a storm your foliage
has shaken, and yet ’tis still not sere.

Time to you such delights has
given, that from you so many stole,
and has the cup with bitterness
seasoned, so that it’s not become stale.
Rely upon the hidden hand,
that leads no man by his own choice,
and be for Change always prepared,
since Change is the fate of the world.

[III.]
Await in suffering till ’tis bid
to yield by him, who bade it come.

[IV.]
And hope for Good from the breath of the Lord,
who mercies without number gives,

[V.]
And lets uncounted pleasures flow’r
in human life so small and narrow.
Despair not in this vale of pain,
whence come many joys of torment.

And hope for Good from the breath of the Lord,
who mercies without number gives,
and lets uncounted pleasures flow’r.
Despair not!