Mily Alexeyevich Balakirev
(geb. Nishniy-Novgorod, 2. Januar 1837 - gest. St. Petersburg, 29. Mai 1910)

Bühnenmusik zu
«König Lear»
von William Shakespeare (1858-61)
Zweite Fassung (1902-05)

Vorwort
Am 31. Juli 1858 schickte der russische Kritiker und Schriftsteller Wladimir Stasov einen Brief an seinen Freund Milij Balakirev: «Vor allem anderen hätte ich gern gewußt, ob Du an Deiner Absicht festhältst, eine Bühnenmusik zu Lear zu schreiben, und wenn ja, ob es sich um Zwischenaktmusiken und Ouvertüre oder lediglich um eine Ouvertüre handelt, desweiteren ob Du tatsächlich bereits damit begonnen hast, ob alles gut läuft, oder wie oder was?» Die Fragen waren durchaus berechtigt, denn Shakespeares Drama stand kurz vor einer Neuinszenierung am Petersburger Aleksandrinskij-Theater und die Musik sollte möglichst noch vor den Proben vorliegen. Balakirevs Antwort wirkte unschlüssig: «König Lear schweigt zur Zeit. Ich habe mit der letzten Zwischenaktmusik bereits angefangen, die nun bis auf ein paar Takte fertig ist; es ist aber unmöglich, noch etwas in den Sommermonaten zu schreiben. Ich denke überhaupt nicht mehr an die Musik – zur Zeit ist mein Kopf mit diversen Lappalien vollgestopft.» Tatsächlich sollte ihn die Lear-Musik sein ganzes Leben lang beschäftigen.

Obwohl die Petersburger Inszenierung schließlich ohne Balakirevs Musik stattfand, ließ das Projekt dem 22jährigen Komponisten keine Ruhe. Am 25. September 1859 schloß er die Arbeiten an der Ouvertüre ab, die kurz darauf – am 27. November 1859 – in einem Konzert an der Petersburger Universität aus uraufgeführt wurde. Die Reaktion war einhellig und uneingeschränkt positiv: Das Werk wurde mit der Egmont-Ouvertüre Beethovens und der Manfred-Ouvertüre Schumanns verglichen und sollte zu den meistgespielten Werken seines Oeuvre zählen. Die beiden Zwischenaktmusiken wurden Januar 1860 skizziert, die vollständige Bühnenmusik dann schließlich 1861 in der ersten Fassung abgeschlossen. Einer der interessantesten Aspekte der neuen Partitur war nicht zuletzt die Verwendung einer Melodie aus Shakespeares Zeit: das «Lied des Narren» aus der Komödie Wie es euch gefällt, das ins Vorspiel zum Dritten Akt als Stretto in Imitationsverfahren eingebaut wurde. Es sollten beinahe 50 weitere Jahre verstreichen, bis ein englischer Komponist eine ähnliche Wirkung durch Volksweisen erzielte.

Trotz des Erfolgs seiner Lear-Musik weigerte sich Balakirev, das neue Werk in Druck erscheinen zu lassen, vor allem weil er mit der seiner Ansicht nach «kindischen» Handhabung des Orchesters unzufrieden war. Seine Kollegen Kjui und Rimskij-Korsakow waren allerdings anderer Meinung, und allmählich wuchs der Druck, das Werk aufgeführt und veröffentlicht zu sehen. Balakirev konnte sich nur zum ersteren entschließen: Die Ouvertüre sowie die Vorspiele zum 2. bis 5. Akt wurden anläßlich eines Shakespeare-Abends im Saal der Russischen Kaufmannsgesellschaft am 5. Mai 1864 aufgeführt, und die Ouvertüre alleine war auch später recht häufig im Konzert zu hören.

Erst 1902, am Ende seines Lebens, machte sich Balakirev daran, sein geniales Jugend-werk zu überarbeiten. Wie damals scheint auch hier der Auslöser ein Brief von Stassov (5. Juli 1901) gewesen zu sein: «Ich hätte allzu gerne gewußt, was aus dem Lear geworden ist. Für dieses Werk hege ich ein besonderes Interesse, denn erstens war es wunderbar originell und zweitens war ich gewissermaßen mit ihm verbunden. Dies ist alles ... fast vierzig Jahre her.» Bald darauf– zwischen 1902 und 1905 – überarbeitete Balakirev die Bühnenmusik, indem er unter anderem die Instrumentation retuschierte, einige neue Sätze hinzukomponierte und die berühmte Prozession zusätzlich für ein einziges Orchester statt Doppelorchester umarbeitete. Die Ergebnisse seiner Bemühungen – mit einer Widmung an Stassov anläßlich seines 80. Geburtstages – wurden zwischen 1902 und 1906 bei Julius Heinrich Zimmermann in Leipzig veröffentlicht. Am 23. April 1909 erlebte die Musik zu Lear unter Sergej Ljapunov eine Gesamtaufführung anlässlich eines Konzertabends in der Freien Schule in St. Petersburg.

Die Bühnenmusik Balakirevs zu König Lear gehört zu den wenigen Versuchen der Musikgeschichte, diese überwältigende Tragödie als Ganzes in Musik zu fassen – eine Aufgabe, vor dem selbst ein Genie wie Verdi zeitlebens zurückschreckte. Anders als die meisten Orchesterwerke Balakirevs zeigt sich die Ouvertüre als gelungenes Beispiel der Sonatenhauptsatzform, das einige der wichtigsten Stellen der Gesamtpartitur aufgreift: die Musik der Prozession, das Hauptthema Lears, die Prophezeiung Kents, die Musik der verruchten Schwestern Goneril und Regan, das anmutig-beschwingte Thema Cordeliens sowie ein weiteres Thema für den Narren. Dieses ganze Grundmaterial wird brillant miteinander verknüpft und verwoben, um einen knappen Überblick der gesamten Handlung des Dramas zu vermitteln. Besonders beeindruckend ist Balakirevs Handhabung der neuartigen Technik der thematischen Verwandlung, die damals lediglich von wenigen Anhängern der Neuen Deutschen Schule beherrscht wurde. Um mit dem Balakirev-Biographen Edward Garden zu sprechen (1967): «Wohl die faszinierendsten von allen Metamorphosen eines einzelnen Themas sind diejenigen, denen das Hauptthema des König Lear in der gleichnamigen Bühnenmusik Balakirevs widerfährt. Je nach der Situation im Handlungsverlauf des Dramas wirkt das Thema prahlerisch, tragisch, lächerlich, pathetisch, unendlich traurig. Das sind nur einige der Verwandlungen, die das Thema in dieser brillanten Studie zur Dramatik Shakespeares erlebt."

Bradford Robinson, 2005

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an den Verlag Zimmermann, Frankfurt. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtischen Bibliotheken.

Mily Alexeyevich Balakirev
(b. Nizhny-Novgorod, 2 January 1837 - d. St. Petersburg, 29 May 1910)

Incidental Music to Shakespeare’s King Lear (1858-61)
Second Version (1902-5)

Preface
On 31 July 1858 the Russian critic and littérateur Vladimir Stassov sent a letter to his friend Mily Balakirev: «I should like to know, more than anything, whether you are sticking to your intention to write music for Lear, and, if so, entr’actes and an overture or an overture only; and if you have in fact started working on all this, is it going well, and how and what?» The questions were certainly called for: the play was about to be staged at the Alexandrinsky Theater in St. Petersburg, and music was desperately needed in time for the rehearsals. Balakirev’s reply was dilatory: «King Lear is now silent. I have started the last entr’acte and, but for a few bars, finished it. But it is impossible that anything more will be written during the summer. I am not even thinking about music at all - my head is stuffed full of diverse petty nonsense.» In fact, the Lear music would occupy him for the whole of his creative life.

The St. Petersburg performance took place without Balakirev’s music, but the project refused to leave the composer in peace. On 25 September 1859 he completed the Overture, which was premièred separately at a St. Petersburg University concert on 27 November 1859. The praise was unanimous and unstinting: the work was compared favorably to Beethoven’s Egmont and Schumann’s Manfred, and the overture was to remain among the most frequently heard works in Balakirev’s oeuvre. The two entr’actes were roughed out in January 1860, and the incidental music was finally completed, in its first version, in 1861. One of its most interesting features was the use of a tune from Shakespeare´s own day, the «Fool’s Song» from As You Like It, which was incorporated into the Prelude to Act 3 in passages of imitative stretto. It was almost fifty years before an English composer would venture to use folk themes to similar effect.

Despite the success of his Lear music, Balakirev refused to have it published, being upset by what he considered to be the «childish» quality of the orchestration. His colleagues Cui and Rimsky-Korsakov disagreed, and pressure gradually mounted to have the work performed and issued in print. Balakirev agreed only to the former: the overture and the preludes to Acts 2, 3, 4, and 5 were given at a Shakespeare recital in the hall of the Russian Society of Merchants on 5 May 1864, and the overture was thereafter heard in concert on a fairly regular basis.

It was only at the end of his life, in 1902, that Balakirev began to revise this work of his youth. Once again, the stimulus was evidently a letter from Stassov (5 July 1901): «I should very much like to know what has become of Lear. This work is of particular interest to me. In the first place, it was splendidly original, and secondly, I was to a certain extent associated with it. This was ... nearly forty years ago.» Balakirev set to work and revised the whole of the score from 1902 to 1905, altering the orchestration, adding some new music, and arranging the famous Procession for single as well as double orchestra. The results were duly published by Julius Heinrich Zimmermann in Leipzig from 1902 to 1906, with a dedication to Stassov in honor of his eightieth birthday. The entire score was performed on 23 April 1909 at a concert of the Free School in St. Petersburg, conducted by Sergey Lyapunov.

Balakirev’s incidental music to King Lear is one of the few attempts in music history to encompass the whole of Shakespeare’s powerful tragedy, a work that ultimately thwarted even the musical genius of a Verdi. The overture is a fine essay in sonata form - one of the few examples in Balakirev’s oeuvre - that incorporates some of the important features of the score: the music of the Procession, Lear’s theme, Kent’s prophesy, the vicious theme of Goneril and Regan, a lilting theme for Cordelia, and yet another theme for the Fool. All of this material is brilliantly combined and intertwined to create a concise synopsis of the entire play. Especially impressive is Balakirev’s handling of thematic transformation, at that time a novel technique pursued only by adherents of the New German School. To quote Balakirev’s biographer, Edward Garden (1967): «Perhaps the most fascinating of all the metamorphoses of any one theme are those of King Lear’s own theme in Balakirev’s incidental music to that play. According to the stage in the play reached, the theme becomes pompous, tragic, ridiculous, pathetic, heartbreakingly sad. [These] are only a few of the changes it undergoes in the course of this brilliant study in Shakespeare’s drama.»

Bradford Robinson, 2005

For performance material please contact the publisher Zimmermann, Frankfurt. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtischen Bibliotheken.