Ernest Chausson
(geb. Paris, 20. Januar 1855 - gest. Limay bei Mantes, 10. Juni 1899)

Symphonie B-Dur op. 20 (1889/90)

Vorwort
Als Kind wohlhabender Eltern wuchs Ernest Chausson in der luxuriösen Umgebung des Pariser Großbürgertums auf und genoß eine private Erziehung durch einen fortschrittlichen Hauslehrer, der dem Jungen eine umfassende Bildung in allen Künsten vermittelte. Schon als Teenager schrieb Chausson einen Roman und zeigte eine beachtliche Meisterschaft im Zeichnen. Wichtiger jedoch waren sein herausragendes Klavierspiel und die vorwiegend autodidaktische Aneignung der Grundkenntnisse des Komponierens. Mit Rücksicht auf seinen gesellschaftlichen Stand erwarb er aber 1877 einen Doktortitel in Jura an der Universität Paris und wurde als Advokat zugelassen. Statt den Juristenberuf auszuüben, studierte er jedoch privat Komposition bei Massenet, der dem jungen Mann eine glänzende Karriere voraussagte.

Das Schlüsselerlebnis in Chaussons frühen Jahren kam jedoch aus einer ganz anderen Richtung: Im Jahre 1879 reiste er nach München, um den Aufführungen vom Fliegenden Holländer und dem Ring des Nibelungen beizuwohnen - selbst die Proben versäumte er nicht. Diese Begegnung stärkte seinen Entschluß, die Komponistenlaufbahn einzuschlagen, und sollte ihn später in die ersten Reihen der französischen Wagnerianer erheben. Einen Monat nach seiner Rückkehr nach Paris schrieb er sich am Conservatoire ein, wo er wiederum bei Massenet - vor allem aber
bei César Franck - studierte. Nachdem er 1881 mit einem ersten Versuch scheiterte, den Prix de Rome zu gewinnen, beendete er seine Studien am Conservatoire ohne Abschluß, brach mit Massenet und studierte bis 1883 als treues Mitglied einer grossen Jüngerschar privat bei Franck. Die beiden Leitsterne Wagner und Franck bestimmten fürderhin den musikalischen Horizont Chaussons bis zum Ende seines Lebens. Nach Ende seiner Studienzeit verbrachte Chausson regelmäßig die Sommermonate auf dem Lande in herrschaftlichen Landhäusern, wo er den Großteil seiner schöpferischen Arbeit vollbrachte, und die restliche Zeit in Paris, wo sein Haus zum beliebten Treffpunkt der schönen Welt der (noch unbekannten) großen Künstler seiner Zeit wurde: Gide und Mallarmé, Manet und Rodin sowie Komponisten wie Franck und Fauré, Chabrier und vor allem Debussy, der sein enger Freund und musikalischer Vertrauter wurde.

Von Natur her war Chausson ein bescheidener Mensch, der zu Schwermut und übertriebener Selbstkritik neigte. In einem früheren Brief kommen beide Eigenschaften deutlich zum Vorschein: «Neben großen Geistern gibt es auch Abertausende kleine Ameisen, die sich gewissenhaft schwitzend hindurchrackern, ohne je ein Wort der Anerkennung zu erhalten; alles, was sie machen, ist von wenig Belang, und dennoch können sie nicht anders. Warum zum Teufel bin ausgerechnet ich ein solches Getier?» Vor diesem Hintergrund ist begreiflich, daß er auf den Vorschlag seines Schwagers Henri Lerolle, eine Symphonie zu komponieren, zunächst scheu und zurückhaltend reagierte. Damals bedeutete nämlich eine Symphonie aus der Feder eines französischen Komponisten automatisch eine programmatische Erklärung zur wahren Richtung der französischen Musik. Zwar gab es schon einige Vorbilder - von d’Indy, Saint-Saëns, Lalo, vor allem aber die großartige Symphonie d-Moll (1888) von Franck, jedoch wurde jeder neue Beitrag zu dieser Gattung mit heißem Interesse von Kritikern und der musikalischen Öffentlichkeit erwartet. Durch die Ernsthaftigkeit des neuen Vorhabens beeindruckt zog sich Chausson aus Paris in eine Villa nahe der südfranzösischen Kleinstadt Cibourre zurück, um sich in aller Ruhe der Arbeit zu widmen. Bald geriet er in eine tiefe künstlerische Krise, die vorwiegend in der sehr persönlichen Bekenntnismusik des langsamen Satzes wurzelte. Die zahlreichen Skizzen und Entwürfe bezeugen nicht nur die schwierige Arbeit Chaussons bei besagtem Satz, sondern auch die Hindernisse, eine solche Musik in symphonische Form zu fassen. Schließlich verzichtete er ganz auf einen Scherzosatz und brachte ein fast manisches Finale hervor, das einiges von Klingsors Musik aus Parsifal anklingen läßt. Nach ausgiebigen Revisionen und penibler Detailarbeit wurde der langen Entstehungszeit im Dezember 1890 ein Ende gesetzt, und am 17. Februar des darauffolgenden Jahres organisierte der Komponist eine Privataufführung der Symphonie, die ihre Tragfähigkeit erfolgreich unter Beweis stellte. Am 18. April fand schließlich im glänzenden Rahmen des Pariser Salle Erard die Uraufführung durch das Orchester der Société Nationale de Musique unter der Leitung des Komponisten statt.

Die Symphonie B-Dur wurde sofort als persönlicher Triumph Chaussons und Markstein in der Geschichte der französischen Instrumentalmusik anerkannt. Um mit einem Rezensenten der Uraufführung zu sprechen: «Ich war umso glücklicher, diese Symphonie hören und loben zu können, als ich oft genug das frühere Schaffen des Komponisten kritisiert habe, der mir zu wenig Eigenständigkeit zu besitzen schien; nun, so glaube ich, hat sich seine Persönlichkeit offenbart, bewußter, klarer und farbiger. Es handelt sich jedenfalls um ein bedeutendes Werk von großartigem und schönem Zuschnitt, das unserer Schule alle Ehre erweist.» Bald wurde die neue Symphonie im In- und Ausland aufgeführt, namentlich 1897 in einem Pariser Gastspiel der Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres damaligen internationalen Stardirigenten Arthur Nikisch. Im gleichen Jahr wurde das Werk in einer vierhändigen Fassung des Komponisten bei E. Baudoux in Paris veröffentlicht.

Zwei Jahre später wurde der steile Aufstieg Chaussons in den Komponistenhimmel jäh durch einen tödliches Fahrradunfall beendet. Trotz des Engagements seiner vielen Freunde und Bewunderer verschwand seine Musik nach und nach aus dem Musikleben - bis auf die wenigen Meisterwerke, die die Erinnerung an ihn noch heute lebendig halten: Poème de l’amour et de la mer op. 19, ein Concert op. 21 für die ungewöhnliche Besetzung Violine, Streichquartett und Klavier, das unsterbliche Poème op. 25 für Violine und Orchester sowie die Symphony B-Dur op. 20. Veröffentlicht wurde letzteres Werk posthum in Stimmen (1908) und Partitur (1916) bei Lerolle in Paris, der 1947 auch die Partitur neu auflegte. Obwohl von Historikern lange Zeit als epigonales Werk der Franck-Nachfolge abgetan, wird Chaussons Symphonie B-Dur mittlerweile gepriesen als «eine der wenigen französischen Kompositionen, die den vielgestaltigen Herausforderungen der Gattung standhalten» (Laurence Davies). Zu den namhaften Verfechtern der Symphonie gehören u.a. Dirigenten wie Mitropolous, Monteux, Fournet, Dutoit und Serebrier.

Bradford Robinson, 2005

Aufführungsmaterial ist vom Salabert, Paris zu beziehen.

 

 

Ernest Chausson
(b. Paris, 20 January 1855 - d. Limay nr. Mantes, 10 June 1899)

Symphony in B-flat major op. 20 (1889-90)

Preface
Born to wealth, Ernest Chausson grew up in the Proustian surroundings of the Parisian grande bourgeoisie and was educated by an enlightened tutor who saw to it that the boy was properly trained in all the arts. Before he had advanced out of his teens Chausson had written a novel and proved himself to be an excellent draftsman; more importantly, he excelled on the piano and more or less taught himself the rudiments of composition. In deference to his family background, however, he took a doctorate in law from the University of Paris (1877) and was admitted to the bar. Rather than entering practice, he studied composition privately with Massenet, who predicted a radiant future for him as a composer.

The critical experience of Chausson’s early years came, however, from a different quarter: in 1879 he traveled to Munich, where he heard performances of The Flying Dutchman and The Ring and even went so far as to attend the rehearsals. The experience steeled his resolve to become a composer and later placed him in the front rank of French Wagnerians. One month after his return to Paris, Chausson enrolled at the Conservatoire, where he studied with Massenet and, more importantly, with César Franck. In 1881, after failing in his first attempt at the Prix de Rome, he abandoned his studies without a degree and broke with Massenet to study privately with Franck, becoming a devoted member of the composer’s inner circle of disciples. These two lodestars - Wagner and Franck - were to determine his musical perspectives for the remainder of his career. After completing his studies in 1883 he spent his summers on luxurious country estates, where he did much of his creative work, and his winters in Paris, where his home became the site of a celebrated artistic salon attended by the great, if still unrecognized, artistic lights of his day: Gide and Mallarmé, Manet and Rodin, and composers of the stature of Franck and Fauré, Chabrier and Debussy. The latter in particular became one of his closest friends and musical intimates.

Chausson was a naturally modest man who inclined to melancholy and self- deprecation. As he himself put it in one of his early letters: «Besides the great men, there are thousands of little ants which grind away, sweating conscientiously, without receiving any appreciation; what they do is of little consequence; it does not change anything and yet they cannot do otherwise. Why the deuce am I one of those beasts?» It is therefore understandable that when his brother-in-law, Henri Lerolle, proposed that he should compose a symphony, his first reaction should have been overawed reluctance. In those days a symphony from a French composer took on the character of a manifesto on the preferred direction of French music. There were few examples - by d’Indy, Saint-Saëns, Lalo, and of course Franck’s magnificent Symphony in D minor - and each new contribution to the genre was eagerly awaited by the critics and musical public alike. Impressed by the seriousness of the undertaking, Chausson withdrew from Paris to a villa near Cibourre in the south of France and set to work. Before long he had fallen into a severe artistic crisis, prompted mainly by the extraordinarily personal music of the slow movement. His many sketches attest both to the difficulty of this movement and to the problems of integrating it into a symphonic framework. In the end he dispensed entirely with a scherzo and chose to write an almost manic finale that owes more than a little to Klingsor’s music in Parsifal. After much rewriting and painstaking attention to detail, the work’s long gestation came to an end in December 1890, and on 17 February of the following year the composer arranged a private reading of the symphony that convinced him of its viability. On 18 April, in the sumptuous surroundings of Paris’s Salle Erard, Chausson conducted the Orchestra of the Société Nationale de Musique in the première of his Symphony in B-flat major, op. 20.

Chausson’s new symphony was immediately recognized as a triumph in his career and a major statement in French instrumental music. To quote one critic: «I was all the more delighted to hear and praise this symphony as I had often enough criticized this composer’s music in the past, which seemed, to my mind, to be lacking in independence; now I believe he has revealed his full personality - more conscious, lucid, and colorful. Whatever the case, this is a significant creation of magnificent and beautiful proportions that does every honor to our school.» The work was soon being performed elsewhere in France and abroad, perhaps most memorably in 1897 during a guest appearance of the Berlin Philharmonic and its internationally celebrated conductor, Arthur Nikisch. In that same year it was published in the composer’s version for piano four-hands by E. Baudoux in Paris.

Two years later Chausson’s resurgent career came to an abrupt end in an unfortunate cycling accident. Despite many efforts by his many friends and admirers to keep his music in the repertoire, it gradually vanished except for the few great works that keep his memory alive today: the Poème de l’amour et de la mer (op. 19), a Concerto for the unusual combination of violin, string quartet, and piano (op. 21), the immortal Poème for violin and orchestra (op. 25), and the Symphony in B-flat major (op. 20). The Symphony was published posthumously in parts (1908) and full score (1916) by LeRolle in Paris, who also reissued the score in 1947. Although formerly dismissed by historians as a derivative work in the Franck tradition, it is now recognized as «one of the few French works to measure up to the protean demands implied by the medium» (Laurence Davies) and has been championed by conductors as distinguished as Mitropolous, Monteux, Fournet, Dutoit, and Serebrier.

Bradford Robinson, 2005

 

For performance material please contact the publisher Salabert, Paris.