Anton Rubinstein
(geb. Wychwatinez, Ukraine, 28. 11. 1829
gest. Peterhof bei St. Petersburg, 20. 11. 1894)

Vierte Symphonie d-Moll (“Die Dramatische”) op. 95 (1874)

Vorwort
«Der unheimliche, barbarisch anmutende Meister und Zauberer des Klaviers mit seiner überwältigenden Künstlermähne und seinen ungehobelten Körperbewegungen, jedoch ohne den leisesten Anflug eines Lächelns oder überhaupt ein Anzeichen davon, daß er irgend etwas außerhalb der einzigen Absicht seiner Musik zur Kenntnis nimmt, und mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der von der Intensität einer lebenslangen Verinnerlichung seiner Kunst verzehrt wurde, als ob der ganze Ausdruck nach innen wuchs und alles, was man davon sah, lediglich das leblose Scheinbild des eigentlichen Menschen darstellt, nahte sich seinem Instrument, dem Publikum gegenüber höflich, wenn auch nicht sonderlich freundlich, von einem Applaus umhüllt, der lediglich eine dumpfe Ahnung von den Beifallsstürmen vermittelte, die darauf folgen sollten.» (Dwight’s Journal, 19. Oktober 1872)

Soweit ein Augenzeugenbericht über den wohl einzigen Pianisten des 19. Jahrhunderts, der einem Vergleich mit Liszt standhielt. Rubinstein wurde zum Wunderkind nach klassischer Manier erzogen: Seit seinem 11. Lebensjahr bereiste er die musikalischen Hauptstädte Europas (1840-43), machte die Bekanntschaft von Liszt und Chopin, knüpfte gewinnbringende Beziehungen zur königlichen Familie Rußlands und bekam von Queen Victoria eine Audienz. Danach liess er sich - noch halbwüchsig - in Berlin nieder, um eine umfassende Ausbildung zum Komponisten zu absolvieren (1844-46). Zehn Jahre darauf, nachdem sich die Familie des Zaren seiner als Hauspianist angenommen hatte, baute er allmählich eine alles bestimmende Machtstellung im öffentlichen Musikleben seiner Heimat Rußland sowie im allgemeinen Bewußtsein der Weltöffentlichkeit auf. Er gründete und leitete die Russische Musikgesellschaft (später die Leningrader Philharmoniker) ab 1859, wurde zum Mitgründer und musikalischen Leiter des Petersburger Konservatoriums (1862-67) und zum Chefdirigenten der Wiener Philharmoniker (1871/72), machte 1872 eine Amerikatournee und wurde schließlich zum internationalen Inbegriff für höchste Klavierkunst - ähnlich, wie es später etwa Paderewski oder Horowitz werden sollten. Trotz seines übermenschlichen Arbeitspensums fand er ausreichend Zeit, um ein grosses kompositorisches Oeuvre zu schaffen, darunter nicht weniger als 20 Opern. Folgender Text entstammt teilweise einer Broschüre, die 1889 anläßlich seines Jubiläums in Druck erschien - ein Anlaß, der von allen Gesellschaftsschichten im riesigen Zarenreich gefeiert wurde:

In seiner musikalischen Produktion erfreute sich Rubinstein einer bemerkenswerten, beinahe gefährliche Leichtigkeit. Lieder und kleinere Klavierstücke brachte er zu Papier, als schriebe er Postkarten. Von letzteren haben die berühmte Melodie in F (op. 3 Nr. 1) und Kamennoi-Ostrov (op.10 Nr.22) auch in unzähligen Bearbeitungen Unsterblichkeit erlangt und sind mittlerweile fester Bestandteil des kollektiven Unterbewußtseins der westlichen Kultur. Wenn seinen größeren Werken weniger Glück beschert war, so liegt der Hauptgrund wohl im überbordenden Reichtum der russischen Musik – vom «Mächtigen Häuflein» über Tschaikowsky, Rakhmaninov und Strawinsky bis zu Prokofiev und Schostakowitsch – der sein vielgestaltiges Werk bald in den Schatten stellte.

Die Bedeutung Rubinsteins als Komponist läßt sich am ehesten in Verbindung mit seinem brillantesten Schüler und ewigen Rivalen Tschaikowsky verstehen. Der jüngere Komponist machte keinen Hehl daraus, daß er seinem geschätzten Lehrer die Beherrschung des kompositorischen Handwerks verdankte. Auch brachte Tschaikowsky eifrig vierhändige Bearbeitungen zweier Tondichtungen Rubinsteins hervor - Iwan der Schreckliche (op. 79) und Don Quixote (op. 87). Selbst im späteren Leben hielt er sich nicht zurück, Rubinstein als einen der zwei größten Symphoniker seiner Zeit zu bezeichnen (der andere war Joachim Raff). Umgekehrt war Rubinstein von den studentischen Arbeiten des jungen Tschaikowsky wenig begeistert und distanzierte sich intuitiv von dessen späteren Werken. Andererseits aber zögerte er nicht, die russische Erstaufführung des Zweiten Klavierkonzerts am 30. Mai 1882 zu dirigieren, wie er überhaupt häufig die Musik Tschaikowsky in seinen vielen Konzerten spielte. In den 1890er Jahren gab es keinen Zweifel mehr daran, daß es sich bei Rubinstein und Tschaikowsky – trotz ihrer unzähliger Meinungsverschiedenheiten – um die berühmtesten und meistgeehrten russischen Komponisten ihrer Zeit handelte.

Die Dramatische Symphonie op. 95 ist die vierte der sechs Symphonien Rubinsteins. Sie entstand 1874 - im gleichen Jahr wie das Fünfte Klavierkonzert - und wurde im darauffolgenden Jahr in Partitur und als Ausgabe für Klavier zu vier Händen bei B. Senff in Leipzig veröffentlicht. Besonders geschätzt wurden diese Symphonie sowie ihr Schwesterwerk, die Ozean-Symphonie (op. 42), von Tschaikowsky, der nachweislich die vierhändige Fassung mit seinem lebenslangen Freund Herman Laroche bewundernd durchspielte. Die Dramatische ist nie ganz aus dem Konzertrepertoire verschwunden und zur Zeit in einer CD-Einspielung des Dirigenten Robert Stankovsky bei Naxos erhältlich.
Bradford Robinson, 2004

Aufführungsmaterial ist von Benjamin Musikverlage, Hamburg zu beziehen.
Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leibziger Städtischen Bibliotheken.

Anton Rubinstein
(b. Vikhvatinets, Ukraine, 28 Nov.1829 - d. Peterhof nr. St. Petersburg, 20 Nov. 1894)

Symphonie No. 4 in D minor
(“The Dramatic”), op. 95 (1874)

Preface
«The weird, barbaric looking master and magician of the pianoforte, with his immense mass of hair and awkward movement, without smile, or any sign of consciousness apparently of aught beside the single purpose of his music, and with a look upon his face as of one eaten up by the intensity of a life-long absorption in his art, as if all the expression had struck inward, and what you saw was but the lifeless simulacrum of the man, approached his instrument, courteous to his audience if not gracious, amid applause which was but the forerunner of the outbursts that were to follow.» (Dwight’s Journal, 19 October 1872)

Thus a contemporary description of perhaps the only nineteenth-century pianist who could brook comparison with Liszt. Rubinstein was groomed to be a child prodigy in the classical mould: he toured the capitals of Europe from the age of eleven (1840-43), made the acquaintance of Liszt and Chopin, established fruitful contacts with the Russian royal family, and was received by Queen Victoria. He thereupon settled as a teenager in Berlin, where he completed a solid study of composition (1844-6). Later, after being taken up by the tsar’s family as pianist-in-residence, he gradually assumed a towering position in the musical life of his native Russia and in the consciousness of the world. He founded and conducted the Russian Musical Society (later the Leningrad Philharmonic) in 1859, co-founded and directed the St. Petersburg Conservatory (1862-7), conducted the Vienna Philharmonic (1871-2), toured America in 1872, and became a worldwide household name for transcendent pianism, comparable to Paderewski or Horowitz in later ages. Despite his Herculean workload he also managed to produce a huge volume of compositions, including some twenty operas. The following text was translated partly from the pamphlet issued for his 1889 jubilee, which was celebrated by all classes of society throughout the vast expanse of the Russian Empire.

Rubinstein, as a composer, had a remarkable, indeed almost dangerous facility. He produced songs and short piano pieces almost as if he were writing postcards. Of the latter, the famous Melody in F (op. 3, no. 1) and Kamennoi-Ostrow (op. 10, no. 22) have achieved immortality in countless arrangements and have virtually entered the collective unconscious of Western civilization. If the larger works have been less fortunate in this respect, the reason may be found in the great flowering of Russian music, from the «Mighty Handful» via Tchaikovsky, Rakhmaninov, and Stravinsky to Prokofiev and Shostakovich, that soon cast his enormous output onto the sidelines.

Rubinstein’s importance as a composer is perhaps best viewed in relation to his most brilliant pupil and perennial rival, Tchaikovsky. It was to Rubinstein that Tchaikovsky, as he freely admitted, owed his craft as a composer. He assiduously prepared piano reductions of his teacher’s tone poems Ivan the Terrible (op. 79) and Don Quixote (op. 87), and he had no doubts, even later in life, in proclaiming Rubinstein one of the two great symphonists of the age (the other was Joachim Raff). Rubinstein took fright at the young Tchaikovsky’s student works and intuitively backed off from his later creations, even failing to acknowledge Tchaikovsky’s dedications. But he had no qualms about conducting the Russian première of his pupil’s Second Piano Concerto (30 May 1882) and frequently placed other works by Tchaikovsky on his many concert programs. By the 1890s it was clear to all that Rubinstein and Tchaikovsky, whatever their personal differences, were the most famed and respected Russian composers of their age.

Rubinstein’s “Dramatic Symphony” op. 95 is the fourth of his six symphonies. It was composed in 1874, the same year as the Fifth Piano Concerto, and was published the following year in full score and an arrangement for piano four-hands by B. Senff in Leipzig. The work and its companion, the «Ocean Symphony» (op. 42), were especially prized by Tchaikovsky, who is known to have played through op.95 admiringly on the piano with his lifelong friend Herman Laroche. The symphony has never entirely vanished from the concert repertoire and is currently available on a recording conducted by Naxos by Robert Stankovsky.

Bradford Robinson, 2004

For performance material please contact Benjamin Musikverlage, Hamburg.
Reprint of a copy from the music departments archives of the Leipzig Municipal Libraries, Leipzig.