Marc-Antoine Charpentier - Judicium Salomonis
(b. Paris, 1643 - d. Paris, 24. February 1704)
Preface
The biblical story of the Judgment of Solomon (1 Kings 3:16–28) has long fascinated the Judeo-Christian world. Depicting two mothers arguing over an infant, with King Solomon threatening to cut the child in half, the story has attracted painters, poets, theologians, judges, and composers. Such was the Judgment’s popularity that many legal figures chose to decorate their courtrooms and personal chambers with statuary, miniatures, and grand paintings capturing moments from it – a reminder, perhaps, to pay attention to every detail and glean witnesses‘ true thoughts and intentions through similarly astute observation and careful testing.
In many respects, the Judgment is a psychological drama. Painters could capture individual moments on a canvas or in fresco; a composer, however, could spin out the whole affair while delving into characters‘ innermost, unspoken thoughts with arias and instrumental music. With the emergence of the oratorio genre in the 17th century – a large-scale vocal and instrumental medium for dramatizing Biblical episodes – many of Italy‘s greatest musical minds tried their hand at it. One of these was the lauded Giacomo Carissimi, a master whose work Marc-Antoine Charpentier knew well from his own studies in Rome. (Charpentier returned to France with many copies of Carissimi‘s scores, which Charpentier had painstakingly copied by hand.)
In the following decades, Charpentier composed music for noble and royal households, wrote theatre music for Molière, and penned reams of vocal and instrumental music for various Jesuit churches and royal chapels in Paris. He developed his own extensions to the oratorio form, creating 13 sweepingly expansive and expressive works called histoires sacrés, with instrumental passages taking a growing narrative role and innovations in the use of harmony and dramatic text setting. Charpentier’s Judicium Salomonis (1702) is the greatest of the composer’s histoires sacrés, the work of a master composer at his peak.
This Judicium Salomonis premiered at the Grande Salle of the Palais de Justice in Paris on November 11, 1702. The occasion was the annual convening of the Parlement de Paris, a judicial and legislative body that was in some respects the Supreme Court of France. Each year, the opening of the Parlement was celebrated with a Red Mass to bless the legal proceedings (this is still an annual tradition at many law schools around the globe). However, punctuating the Red Mass with 45 minutes of extra-liturgical music drama appears to have been a special treat for all in attendance, the Judicium opening with an invocation of God’s blessing and continuing with the unfolding story.
Despite France being at war with much of Europe at the time, the war was going well and no limits appear to have impeded Charpentier‘s musical resources. The score calls for an ample and shifting set of strings and woodwinds to accompany the vocal music, often with 2-4 parts. Nor is the continuo ensemble static: cellos, basses, and organ are employed as solo and tutti instruments, as suits the moment in the drama. While the surviving manuscripts do not clearly identify or distinguish between recorders and traverse flutes, Charpentier‘s notation elsewhere suggests that recorders and oboes were used at the premiere. Both vocal and instrumental parts are richly ornamented in the style of the day.
Basil Considine, 2018
For performance material please contact A-R Editions, New Haven.
Marc-Antoine Charpentier – Judicium Salomonis
(geb. Paris, 1643 - gest. Paris, 24. Februar 1704)
Vorwort
Die biblische Geschichte vom Urteil des Salomon (Erstes Buch Könige 3:16) hatte die jüdisch-christliche Welt schon lange fasziniert. Die Erzählung, die von zwei Müttern berichtet, die um ein Kind streiten, bis Salomon schliesslich droht, das Kind in zwei Teile zu schneiden, hat unzählige Maler, Poeten, Theologen, Richter und Komponisten inspiriert. So gross war die Popularität der Überlieferung, dass viele Juristen den Gerichtssaal oder ihre persönlichen Räume mit Statuen, Miniaturen und monumentalen Gemälden dekorierten, die Momente des Ereignisses einfingen - vielleicht als eine Ermahnung, jedem Detail Aufmerksamkeit zu schenken und die wahren Absichten und Gedanken der Zeugen zu sammeln, gleichzeitig scharf beobachtend und sorgfältig prüfend.
In vielerlei Hinsicht ist die biblische Erzählung ein psychologisches Drama. Maler konnten bezeichnende Momente auf ihrer Leinwand wiedergeben; ein Komponist jedoch verfügte über die Mittel, das gesamte Ereignis ausspinnen, indem er sich in die innersten, unausgesprochenen Gedanken mit Arien und instrumentaler Musik einfühlte. Mit dem Auftauchen der Gattung des Oratoriums - ein grossformatiges instrumentales Medium, das Episoden aus der Bibel dramatisierte - versuchten sich viele der grössten musikalischen Persönlichkeiten Italiens an der neuen Ausdrucksform. Einer von ihnen war der hochgelobte Giacomo Carissimi, ein Meister, dessen Werk Marc-Antoine Charpentier gut aus seinen Studien in Rom kannte (Charpentier kehrte mit vielen Kopien von Carissimis Werken nach Frankreich zurück, die er mit eigener Hand gewissenhaft abgeschrieben hatte).
In den folgenden Jahrzehnten schrieb Charpentier Musik für adlige und königliche Haushalte, komponierte für Molière und schuf Unmengen an vokaler und instrumentaler Musik für zahlreiche jesuitische Kirchen und herrschaftliche Kapellen in Paris. Er entwickelte seine eigene Form des Oratoriums, schuf dreizehn gewaltige expressive Werke, genannt histoires sacrés, mit instrumentalen Passagen, die zunehmend eine erzählerische Rolle übernahmen und innovativ in der Verwendung von Harmonie und dramatischer Textvertonung waren. Judicium Salomonis (1702) ist das grossartigste unter den histoires sacrés des Komponisten, das Werk eines Meisters auf dem Höhepunkt seines Schaffens.
Judicium Salomonis erlebte seine Premiere am 11. November 1702 im Grande Salle des Palais de Justice in Paris. Anlass war die jährliche Zusammenkunft des Parlement de Paris, einer juristischen und legislativen Institution, sozusagen der oberste Gerichtshof Frankreichs. Alljährlich eröffnete eine Rote Messe den Parlamentsbeginn, um die gerichtlichen Verfahren zu segnen (dies ist bis heute rund um den Globus an vielen juristischen Schulen eine jährliche Tradition). Jedoch muss die Unterstreichung einer Roten Messe mit einem 45-minütigen, ausserordentlich liturgischen Musikdrama ein besonderer Leckerbissen für alle Anwesenden gewesen zu sein, mit einem Judicium, das mit der Bitte um Gottes Segen begann, bevor es seine Geschichte entfaltete.
Obwohl Frankreich sich im Krieg mit halb Europa befand, verliefen die Auseinandersetzungen zufriedenstellend, so dass offenbar den musikalischen Ressourcen für Charpentiers Werk keine Grenzen gesetzt waren. Die Partitur verlangt nach einer üppigen und wechselnden Besetzung von Streichern und Holzbläsern, um den Gesang zu begleiten, oftmals mit zwei bis vier Stimmen. Auch das Continuo beileibe nicht statisch: Celli, Bässe und Orgel werden als solistisch und als Bestandteil des Tutti eingesetzt, wie es der jeweilige Moment innerhalb des Dramas erfordert. Während die überlieferten Manuskripte nicht eindeutig Blockflöten oder Traversflöten unterscheiden oder festlegen, macht Charpentiers Notation doch klar, dass sowohl Blockflöten wie auch Oboen bei der Premiere verwendet wurden. Vokale und instrumentale Parts sind im Stil der Zeit reich ornamentiert.
Übersetzung: Peter Dietz
Aufführungsmaterial ist von A-R Editions, New Haven zu beziehen.