Robert Schumann
(geb. Zwickau, 8. Juni 1810 - gest. Endenich, 29. Juli 1856)

Requiem für Mignon op. 98b (1849)
nach Wilhelm Meisters Lehrjahre von J. W. von Goethe
für Soli (SSAAB), gemischten Chor und Orchester

Vorwort
Am 3. Mai 1849, inmitten einer blühenden Schaffensperiode mit einer beeindruckenden Zahl von Werken aller Gattungen, kehrte Schumann von einem Familienausflug nach Dresden zurück und fand die Stadt in einem Zustand revolutionären Aufruhrs. Zwei Tage später verließ er Dresden fluchtartig, um nicht in das Kampfgeschehen verwickelt zu werden, und begab sich in die naheliegende Kleinstadt Kreischa, wo er sich einen Monat aufhielt. Während der ganzen Zeit fuhr er fort zu komponieren: Eines der Werke, die während dieses Exils entstanden, - eine Vertonung des Gedichts Kennst du das Land aus dem halbautobiographischen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von Johann Wolfgang von Goethe - wurde das letzte Lied des Liederalbum für die Jugend op. 79. Schon damals war er sich dessen bewußt, daß das Mignon-Lied über die schlichten Vertonungen des Liederalbums weit hinausweist.

In Goethes Roman ist Mignon ein schmachtendes italienisches Waisenkind, das sich hoffnungslos in den Titelhelden verliebt und im Laufe des Werkes allmählich vor Kummer dahinsiecht. Neben dem Mädchen steht der unheimliche, bardenähnliche «Harfner», der - ohne daß die beiden Figuren es wissen - das Mädchen in einer Geschwisterliebe gezeugt hatte. Beide - Vater wie Tochter - besingen in ergreifend schönen Gedichten die eigene Seelenqual. Diese Lyrik hat die deutschen Liedkomponisten von Beethoven bis Hugo Wolf zu einigen ihrer größten Liedvertonungen inspiriert. Schumann bildet hierin keine Ausnahme.

Am 12. Juni, nachdem der Dresdener Aufstand blutig niedergeschlagen war, kehrte Schumann mit seiner Familie nach Dresden zurück. In seinen Gedanken nahm das Goethe-Projekt immer größere Ausmaße an: Zwischen dem 18. und 22. Juni vertonte er die restlichen Mignon-Lieder, dazu die Ballade des Harfners und auch das Lied der lebensfrohen Philine, Singet nicht in Trauertönen. Am 6. und 7. Juli folgten die drei noch fehlenden Harfnerlieder. Davor, am 2.-3. Juli, hatte Schumann jedoch in einem wahren Schaffensrausch ein berückend schönes Oratorium en miniature - Requiem für Mignon - skizziert, für das es kaum kompositorische Vorbilder gab.

Der Text des Requiem stammt aus dem 8. Kapitel des 8. Buches von Goethes Roman. Dort, nachdem Wilhelm die kindliche Mignon aus dem Sinn verloren hatte, stößt er in einer Abtei unversehens auf ihre Trauerfeier. Die Schilderung der Feierlichkeiten grenzt an eine Bühnendichtung mit Spielanweisungen, Kostümbeschreibungen und Worten, die in altgriechischen daktylischen Rhythmen einen stichomythischen Dialog bilden. Um die Bahre herum stehen vier Knaben, umgeben von wehenden Straußenfedern und einer Gruppe von Erwachsenen, die den Chor bilden. Es handelt sich um ein Trauerlied um den Verlust eines Kindes, bei dem die Erwachsenen den Kindern Worte des Trostes zusprechen:

CHOR: Wen bringt ihr uns zur stillen Gesellschaft?
KNABEN: Einen müden Gespielen bringen wir euch; laßt ihn unter euch ruhen, bis das Jauchzen himmlischer Geschwister ihn dereinst wieder aufweckt.
CHOR: Erstling der Jugend in unserm Kreise, sei willkommen! mit Trauer willkommen! Dir folge kein Knabe, kein Mädchen nach! Nur das Alter nahe sich willig und gelassen der stillen Halle, und in ernster Gesellschaft ruhe das liebe, liebe Kind!
KNABEN: Ach! wie ungern brachten wir ihn her! Ach! und er soll hier bleiben! laßt uns auch bleiben, laßt uns weinen, weinen an seinem Sarge!
CHOR: Seht die mächtigen Flügel doch an! seht das leichte reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt! seht die schöne, die würdige Ruh!
KNABEN: Ach! die Flügel heben sie nicht; im leichten Spiele flattert das Gewand nicht mehr; als wir mit Rosen kränzten ihr Haupt, blickte sie hold und freundlich nach uns.
CHOR: Schaut mit den Augen des Geistes hinan! in euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf, über die Sterne das Leben trägt.
KNABEN: Aber ach! wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht mehr. Laßt uns weinen, wir lassen sie hier! laßt uns weinen und bei ihr bleiben!
CHOR: Kinder! kehret ins Leben zurück! Eure Tränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen.
KNABEN: Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt und der nächtliche Schlaf uns erquickt.
CHOR. Kinder! eilet ins Leben hinan! In der Schönheit reinem Gewande begegn euch die Liebe mit himmlischen Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit!

Sobald die Kinder die Bühne verlassen, spricht der Abbé eine düstere Grabrede für das beinahe unbekannte Mädchen, dessen wahre Ursprünge - und das ganze Ausmaß der Tragödie - dann durch einen melodramatischen Coup de théâtre bekannt werden. In Schumanns Oratorium, das bereits mit den vier «ins Leben eilenden» Kindern endet, spielen diese späteren Geschehnisse jedoch keine Rolle.

Über die engen Beziehungen zwischen den neun Wilhelm-Meister-Liedern und dem Requiem war sich der Komponist völlig im klaren. Schon das letzte Lied der Mignon - So laßt mich scheinen - nimmt das weiße Todesgewand vorweg und weist auf den nagenden Kummer des Mädchens, der schliesslich in den frühen Tod führen wird (auf ewig wieder jung). So bildet das Lied einen nahtlosen Übergang zur anschließenden Trauerfeier. Demnach beschloß Schumann, die beiden Werke als ein einziges Opus zu veröffentlichen, wobei die neun Lieder als «Erste Abtheilung» (op. 98a), das Requiem hingegen als «Zweite Abtheilung» (op. 98b) erschienen. Ob die beiden Abteilungen auch als in sich geschlossener Zyklus aufzuführen sind, ist allerdings weniger eindeutig: Die Lieder op. 98a zählen gemeinhin nicht zu den Liederzyklen Schumanns, vielleicht nur deswegen, weil sie abwechselnd von einer Männer- und einer Frauenstimme vorgetragen werden. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Einheitlichkeit des Grundgestus, der Entstehungszeit und der literarischen Vorlage die verschiedenen Einzelteile in ein Ganzes vereinen.

Das Requiem für Mignon erlebte am 21. November 1850 in Düsseldorf seine Uraufführung, und zwar in einem Abonnementskonzert unter der Leitung des Komponisten. Bereits ein Jahr darauf erschien das Werk als Partitur, Stimmensatz und Klavierauszug zusammen mit den Wilhelm-Meister-Liedern beim Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel. Die Wiener Erstaufführung leitete kein geringerer als Johannes Brahms während seiner ersten und einzigen Spielzeit als Leiter der Wiener Singakademie (1863/64), und seit den 1880er Jahren waren in der englischsprachigen Welt gleich zwei Übersetzungen im Umlauf: Requiem for Mignon in der Übersetzung von Natalia Macfarren (1880) und Mignon’s Requiem in einer Übertragung des berühmt-berüchtigten Reverend Troutbeck (1882). Seitdem hat sich das Requiem op. 98b im Repertoire nur wenig behaupten können, wegen seiner Kürze, die eine Platzierung im Programm schwierig macht, und wegen der impliziten Kenntnis der Schriften Goethes. Den Hauptgrund aber wußte der deutsche Musikgelehrte Hermann Kretzschmar bereits 1890 wehmütig zu nennen: «Diese Begräbnissscene wird nur Denen völlig fasslich sein, welche das Porträt des wunderbar holden fremd-artigen Wesens aus Goethe’s ‘Wilhelm Meister’ liebevoll im Innern tragen.»

Bradford Robinson, 2005

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. zu beziehen.
Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Robert Schumann
(b. Zwickau, 8 June 1810 - d. Endenich, 29 July 1856)

Requiem for Mignon op. 98b (1849)
after Goethe’s Willehm Meisters Lehrjahre
for SSAAB, four-voice mixed chorus, and orchestra

Preface
On 3 May 1849, during a richly productive period that saw an impressive outpouring of music in all genres, Schumann returned from an excursion with his family to find Dresden in a state of insurrection. Two days later he fled the city to avoid conscription and settled in the nearby town of Kreischa, where he remained for a month, continuing all the while to compose. One of the several pieces he wrote during his temporary exile was a setting of the poem Kennst du das Land from Goethe’s semi-autobiographical novel, Wilhelm Meister, as the final song in his Song-Album for the Young (op. 79, no. 29). Even at the time he was aware that the Mignon setting pointed beyond the otherwise simple songs in this volume: «At the end comes Mignon, bending her baleful gaze upon a more complex emotional life.»

Mignon, in Goethe’s novel, is a wraith-like Italian orphan who develops a hopeless romantic attachment to the hero and gradually wastes away as the novel progresses. At her side is the Harper, a strange, bard-like figure who, unbeknownst to both, is in fact her father by an incestuous liaison. Both these characters are given lyric moments of supreme beauty in which they sing of their tormented mental states. The poems have fired the imaginations of German lied composers, from Beethoven to Hugo Wolf, to produce some of their greatest songs. Schumann was no exception.

On 12 June, the Dresden uprising having been bloodily suppressed, Schumann and his family returned to the city. The Goethe project loomed ever larger in his mind, and from 18 to 22 June he set the remaining Mignon songs, at the same time adding the Harper’s ballad and Philine’s lied Singet nicht in Trauertönen. The three remaining Harper songs followed on 6 and 7 July. But before then, on 2 and 3 July, in a white heat of inspiration, he sketched Requiem for Mignon, an exquisite small-scale oratorio for which there were no compositional precedents.

The text for the Requiem is taken from Book 8, Chapter 8 of Goethe’s novel. Wilhelm, having long lost sight of the unhappy Mignon, chances upon the funeral obloquies for the deceased girl in an abbey. The depiction of the scene is almost theatrical, with stage directions, notes on costuming, and the words, written in the dactyls of ancient Greek tragedy, broken down into stichomythic dialogue. Four boys stand at the sides of the girl’s bier, surrounded by ostrich plumes, amidst a group of adults who form the chorus. It is a children’s song of grief, to which the adults speak words of consolation:
CHORUS: Who are you bringing into our silent gathering?
BOYS: We bring you a weary playmate; let her rest amongst you until such time as the joyous cries of her heavenly siblings should awaken her.
CHORUS: First of youth to enter our midst, welcome! welcome with sadness! Let no boy or girl follow upon you! Let old age alone approach the silent hall, willingly and calmly, and let the dear, dear child rest in our midst!
BOYS: Ah! how unhappily we have brought her here! Ah! and here she should remain! Let us remain, too, let us cry, cry beside her coffin!
CHORUS: Look at the mighty wings! look at the robe, light and pure! how the golden band shines from her brow! look at her lovely, dignified peace!
BOYS: Ah! the wings do not lift her; her robe no longer flutters in lighthearted play; when we wreathed her brow with roses she looked upon us, sweet and friendly!
CHORUS: Look with the eyes of the spirit! let the formative strength live within you that bears life, the most beautiful, the supreme, upward and beyond the stars.
BOYS: But ah! we miss her here, no longer does she walk in the gardens and gather the flowers of the meadow. Let us cry, we leave her here! let us cry and remain with her!
CHORUS: Children! return to life! Let the fresh air that dallies about the twirling water dry your tears. Flee the night! Day and joy and duration is the lot of the living.
BOYS: Onwards, we return to life. Let the day give us labor and joy until evening brings us peace and nocturnal sleep refreshes us.
CHORUS. Children! hurry on to life! Let Love, in the pure gown of Beauty, greet you with celestial gaze and the wreath of immortality!

Once the children have left the scene, the Abbot launches into a gloomy panegyric for the nearly anonymous girl, whose true origins, and the full extent of her tragedy, are then disclosed in a melodramatic coup de théâtre. But none of this entered Schumann’s oratorio, which ends with the four children «hurrying into life.»

Schumann found Goethe’s scene perfectly laid out for a musical setting: the four boys were assigned to four female solo voices - two sopranos and two altos - while the adults were personified by a mixed chorus. As his only departure from the original, the lines from «Children! return to life!” are intoned by a solo bass, who thereby assumes the role the Abbé in Goethe’s novel. The harp is prominently featured in the orchestra, in reference partly to the Harper, partly to Mignon’s costume (she is clad as an angel, hence the «wings» in the text), and partly to Mignon’s assumption into the starry firmament. The result is a delicate miniature oratorio of enchanting beauty that gradually brightens from the C-minor funeral march of the opening to F-major radiance at the final words: «Onwards, we return to life!»

Schumann was fully aware of the close relation between his Wilhelm Meister songs and the Requiem. Mignon’s final lied, So laßt mich scheinen, already hints at the white winding sheet and the gnawing sorrow that will lead to her early death, where she shall be «young for all eternity,» and thus forms a natural transition to the funeral exequies of the Requiem. He therefore chose to publish the two works in a single opus, with the nine lieder appearing as Part 1 (op. 98a) and the Requiem as Part 2 (op. 98b). Whether they were likewise meant to be performed as a cycle is a moot question: the lieder of op. 98, perhaps because they call alternately for male and female voice, have not established themselves among Schumann’s song cycles. But there can be no doubt that the continuity of mood, setting, and literary model links all these disparate members into a unified whole.

The Requiem for Mignon received its first performance in Düsseldorf on 21 November 1850, during a subscription concert under Schumann’s direction. The follow-ing year, along with the Wilhelm Meister songs, it was published in full score, parts, and piano reduction by Breitkopf & Härtel in Leipzig. Brahms conducted the Vienna première of the work during his first and only season as director the Vienna Singakademie (1863-4), and in the 1880s there were two competing translations circulating in the English-speaking world: Requiem for Mignon by Natalia Macfarren (1880) and Mignon’s Requiem by the redoubtable Reverend Troutbeck (1882). But since then Schumann’s op. 98b has maintained only the most fragile of footholds in the repertoire, partly because of its brevity, making it difficult to program, and partly because it presupposes a close acquaintance with Goethe’s writings. As the German scholar Hermann Kretzschmar ruefully noted as early as 1890, «This burial scene will be fully intelligible only to those who keep the portrait of the wonderfully sweet and alien being from Goethe’s Wilhelm Meister lovingly in their hearts.»

Bradford Robinson, 2005

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden.
Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München