Niels W. Gade
(geboren am 22. 2. 1817 in Kopenhagen, gestorben am 21. 12. 1890 in Kopenhagen)

„Hamlet“
Konzertouverture, Op. 37

Uraufführung: Musikforeningen, Kopenhagen 1861.

Vorwort

Der dänische Komponist Niels Wilhelm Gade wurde als einziges Kind des aus der Provinz Jütland in die Hauptstadt gezogenen Instrumentenmachers und Kunsttischlers Soeren Nielsen Gade in Kopenhagen geboren. Die Kindheitserlebnisse in der Werkstatt des Vaters, wo er von Streichinstrumenten und Gitarren umgeben war, erweckten sein Musikinteresse. Er durfte mit und auf den Instrumenten spielen und erhielt schon sehr früh Geigenunterricht. Noch als grosser Knabe wurde er Eleve in der Königlichen Kapelle von Kopenhagen – das Orchester der Königlichen Oper – und unternahm bereits als Jungendlicher mit einem Freund und Kollegen eine Konzertreise nach Schweden, die allerdings keine Engagements mit sich brachte. Nach der Heimkehr studierte er Musiktheorie und Komposition bei Andreas Peter Berggreen (1801-80), der in Dänemark für seine schönen Psalmen und international für das Sammeln und Herausgeben nordischer Volksweisen bekannt ist. Berggreen erweckte das Interesse seines Schülers am Volksliedgut und Gade komponierte viele Lieder im romantischen Volksliedstil, die neben den nordischen Klängen die gleiche Mischung aus Dramatik und Lyrik aufweisen, die man bei Schumann und Loewe findet. Nach einem misslungenen Versuch, eine Ouverture zu schreiben, machte er 1840 mit der Konzertouverture Nachklänge von Ossian (sein offizielles Op. 1) einen weiteren und erfolgreicheren und gewann völlig überraschend den ersten Preis eines vom Dänischen Musikverein ausgeschriebenen Wettbewerbs. Zwei Jahre später übermittelte Gade seine Symphonie Nr. 1 dem Musikverein, dem das Werk jedoch „zu deutsch“ war. Interessanterweise gilt eben dieses Werk heute als die erste dänische nationalromantische Symphonie überhaupt. Gade schickte in der Folge die Symphonie an Felix Mendelssohn in Leipzig, der so begeistert wurde, dass er sie sofort aufführen liess und den jungen Komponisten einlud, sie auch selbst dort zu dirigieren. Die Leipziger bewunderten den Dänen sowohl als Komponist als auch als Dirigent und Gade eroberte sich bald eine führende Position im Leipziger Musikleben. Unter anderem stand er bei der Uraufführung von Mendelssohns berühmtem Violinkonzert in e-Moll (13.3.1845) am Pult. 1847, nach Mendelssohns plötzlichen und frühen Tod, bot man Niels W. Gade die Leitung des Gewandhausorchesters an. Gade blieb jedoch nur ein knappes Jahr auf diesem Posten; kurz nach dem Ausbruch des Schleswig-Holsteinischen Krieges im Jahre 1848 musste er nach Dänemark zurückkehren. Ab jetzt wurde Kopenhagen seine Basis. Er wurde zum unumstrittenen Mittelpunkt des dänischen Musiklebens, obwohl der ehemals progressive, junge Komponist nun ziemlich konservativ und deutsch-romantisch geworden war. 1850 wurde er Leiter des Musikvereins und behielt den Posten bis zu seinem Tod vierzig Jahre später. Er baute ein ganz neues Orchester auf und hob den Standard des Chors, der aus Laien bestand und die Gade während der Proben mit Süssigkeiten belohnte, wenn ihn der Klang zufriedenstellte. Er war ein Naturtalent als Dirigent, der von seinen Musikern vergöttert wurde, obwohl er mit der Zeit geradezu diktatorisch wurde. Es hiess, er leide unter Minderwertigkeitskomplexen, weil sein zwölf Jahre älterer Schwiegervater und im Grunde auch Konkurrent, der Komponist J.P.E. Hartmann, im Gegensatz zu Gade selbst Akademiker war.
Im Musikverein leitete Niels W. Gade unter anderem die dänische Erstaufführung der von ihm sehr bewunderten 9. Symphonie Beethovens. Gade schrieb selbst acht Symphonien. Als er einmal gefragt wurde, ob er denn nicht daran dächte, eine Neunte zu schreiben, antwortete er: „Nein, das hat Beethoven ja bereits gemacht.“
1862 ernannte man ihn zum Kapellmeister des Königlichen Theaters, doch zu mehr als einer Produktion, Glucks „Iphigenie in Aulis“, kam es nicht, denn er sah schnell ein, dass er - wie sein Vorbild Mendelssohn - als Komponist und Dirigent eher in den Konzertsaal als in das Opernhaus gehörte. Er hatte zwar immer vor, Opern zu schreiben, näherte sich jedoch dem Genre nur ein einziges Mal mit dem Singspiel Mariotta (1848), das bei der Uraufführung im Königlichen Theater (1850) keinen Erfolg erzielte und nach neun Aufführungen für immer vom Spielplan verschwand. Noch ein paar Mal komponierte er für das Theater, nämlich als der grosse, in Dänemark lebende und arbeitende Choreograph August Bournonville ihn darum bat, zu neuen Balletten Musik zu schreiben: Napoli (1842, zusammen mit einer Reihe anderen Komponisten) und Et Folkesagn (Eine Volkssage, 1854, 1. und 3. Akt). Aus dem Letzteren stammt der populäre Brautwalzer. Gade „erfand“ das Konzertstück – die Bezeichnung ist seine eigene –, das nach dem Vorbild der „Ersten Walpurgisnacht“ von Mendelssohn entstand. Unter diesen Kompositionen ist die Kantate oder das „Balladen-Oratorium“ Elverskud (1853) Gades Meisterwerk.
Er schrieb viel für das Klavier, meist kleine Stücke, aber auch eine Sonate in e-Moll, Op. 28 (1850, jedoch etwa 1838 entstanden), die er Franz Liszt widmete. Auch Kammermusik gibt es von seiner Hand: Drei Sonaten für Violine und Klavier, ein Oktett, ein Sechstett und ein Quintett für Streicher, drei Streichquartette und zwei Klaviertrios. Er schrieb nordische Volkstänze für Violine und Klavier, ein Capriccio für Violine und Klavier in a-Moll (1878) und ein Violinkonzert (1880).
Nach Nachklänge von Ossian komponierte er noch zwei Konzertouverturen, Michelangelo und Hamlet, beide aus dem Jahr 1861.
Gade gastierte zeitlebens häufig im Ausland und war, so lange er lebte, eine europäische Berühmtheit. Er wurde als der grösste zeitgenössische dänische Komponist angesehen. Seine Musik gehörte in Deutschland und – besonders das Chorwerk – auch in England zum gängigen Konzertrepertoire. Er war stark beeinflusst von Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann. Brahms, der ihn in Dänemark besuchte, mochte er; Wagner weniger, obwohl er um 1860 Auszüge aus „Lohengrin“ und „Tannhäuser“ im Kopenhagener Musikverein aufführen liess und sich Spuren wagnerischen Einflusses in seiner Musik durchaus finden lassen. Ab 1858 arbeitete er auch als Organist an der Holmens Kirke, der königlichen Hof-Kirche, und als Mitbegründer des Königlichen Musikkonservatoriums in Kopenhagen wurde er 1867 dessen erster Direktor. Der alte Gade konnte noch den achtzehnjährigen Carl Nielsen als Musikstudent aufnehmen.
Als Niels W. Gade 1890 starb, ging die grosse Romantische Ära in der dänischen Musikgeschichte zu Ende. Sein Sohn, Axel Gade, wurde wie sein Vater ein Virtuose auf der Geige und in der Folge Konzertmeister der Königlichen Kapelle und Komponist. Doch erst nach gut zwanzig Jahren begann eine Neuzeit der dänischen Musik mit Carl Nielsens sogenanntem neuen Realismus.

Opus 37, Hamlet, ist nach Nachklänge von Ossian die bedeutendste Konzertouverture Niels W. Gades. Die Musik hat nichts typisch Dänisches oder Nordisches. Nach 1850 ist Gades Werk von seiner Zeit in Deutschland, von der deutschen, mendelssohnschen Romantik geprägt. Die Inspiration zu Hamlet kommt von William Shakespeares gleichnamigem Drama um den dänischen Prinzen. Das kurze Orchesterstück deutet die tragische Stimmung des Schauspiels an. In der Einleitung klingen dumpf und düster die Schritte des Geistes, Hamlets totem Vater, dem der Sohn nachts auf Schloss Kronborg begegnet. Unheilvoll ist die Mitteilung, die der Prinz vernimmt; Mutter und Onkel haben den Vater ermordet, bevor sie geheiratet haben, und Hamlet soll nun den toten König rächen. Ein Marsch folgt, Hamlets Kampflust ist erweckt, er rüstet sich für seinen privaten Krieg; die Musik ist energisch und voller ungestümer Auflehnung. Den Hauptteil der Ouverture dominieren zwei Themen: Das ausgeprägt männliche Hamlet-Thema und ein lyrisches Thema – vielleicht Ophelias -, ein Liebesthema, das sich auf romantische Art in chromatischer Steigerung entwickelt und Leidenschaft und Unglück beschwört; die Liebenden finden nicht zu einander, Hamlet tötet durch ein Missverständnis noch den Vater seiner Geliebten, Ophelia wird verrückt und ertränkt sich. Es wirbelt die Musik wie der Wind um die Mauern des öden Küstenschlosses. Die Tragödie liegt schwer über dem ganzen Werk, das mit dem Marsch, den wir am Anfang hörten, wieder schliesst, jedoch nun in einem langsameren Tempo, als Trauermarch für den edlen, toten Prinzen: Fortinbras und seine Männer tragen den aufgebahrten Hamlet aus dem Schloss.

Irmelin Mai Hoffer, 2005