Henri Vieuxtemps
(geb. Verviers, Belgien, 17. Februar 1820 - gest. Mustapha, Algerien, 6. Juni 1881)

Violinkonzert Nr. 5 a-Moll, op. 37 (“Le Grètry”) 1860/61

Vorwort
Leibvirtuose des Zaren, Gastsolist bei der Krönung des schwedischen Königs Karl XIV., Privataufführung auf besonderen Wunsch des türkischen Sultans, offizielle Ehrungen durch die Könige von Belgien und Sardinien: Henri Vieuxtemps´ Lebens-lauf klingt wie das Märchen eines legendären Musiker-Heros des 19. Jahrhunderts. Frühreif wie Menuhin beginnt das dreizehnjährige Wunderkind Vieuxtemps seine Karriere mit einer Tournee durch Deutschland, die Publikum wie Musikerkollegen gleichermaßen den Atem verschlägt. Während der junge Geiger den Winter 1833/34 in Wien verbringt, kommt er mit dem ehemaligen Beethoven-Kreis in Kontakt und triumphiert vierzehnjährig mit der Wiederaufnahme des jahrelang verschmähten Violinkonzerts des Meisters. In Leipzig scheut sich Robert Schumann 1834 nicht, Vieuxtemps mit Paganini zu vergleichen, der seinerseits nach einem Londoner Konzert des jungen Virtuosen im gleichen Jahr dem Vergleich bereitwillig zustimmt. So beginnt die internationale Laufbahn des Musikers und soll vierzig Jahre andauern, bis der Virtuose 1873 wegen eines Hirnschlags frühzeitig von der Bühne abtreten muss. Bis dahin hatte er Amerika dreimal (1843/44, 1857/58, 1870/71) bereist, dem Zaren 1846 bis 1851 als Privatvirtuose gedient, die bereits erwähnten Ehrungen der europäischen Königshauser entgegengenommen und Ruhm als einer der führenden Musiker des Jahrhunderts genossen. Hector Berlioz, der auf jegliches Mittelmaß stets scharfzüngig reagierte, brachte bereits 1840 die allgemeine Meinung seiner Zeit auf den Punkt: «Monsieur Vieuxtemps ist ein ungeheuerlicher Violinist im wahrsten Sinne des Wortes. Er bringt Dinge zustande, die ich noch nie von einem anderen erlebt habe. Er geht Risiken ein, die die Zuhörer zwar in Angst und Schrecken versetzen, ihn selber jedoch nicht im geringsten beunruhigen, da er genau weiß, daß er heil davonkommen wird».

Ebenfalls überzeugt war Berlioz von der Begabung Vieuxtemps’ als Komponist, wobei er die Behandlung des Orchesters und die geschickte Integration des Solo-instruments im symphonischen Satz besonders hervorhebt - was vom Komponisten eines Harald in Italien etwas heißen soll. Wenn sich der heutige Musikliebhaber von Vieuxtemps’ grosser Produktion an Virtuosenmusik für Geige und Klavier - beispielsweise von einem Souvenir de Amerique, das aus Variationen über Yankee Doodle besteht - leicht irritiert abwendet, so steht heute einer Würdigung seiner damals als mustergültig geltenden sieben Violinkonzerte oder seiner beiden Cellokonzerte nichts im Wege. Von den Violinkonzerten werden damals wie heute das Vierte und das Fünfte als seine kompositorischen Glanzleistungen gesehen: Kein geringerer als Berlioz bezeichnete das Vierte Violinkonzert als «eine großartige Symphonie für Orchester mit violon principal».

Bei der Entstehung des Fünften Violinkonzerts spielte wiederum Berlioz eine wichtige, wenn auch indirekte Rolle. Vieuxtemps wurde vom großen Komponisten eingeladen, bei einem von ihm organisierten Konzert in Baden-Baden in Juni 1860 mitzuwirken. Er willigte ein und nutze die Gelegenheit, mit der Arbeit an einem neuen Violinkonzert zu beginnen. Beauftragt wurde das neue Werk vom befreundeten Geigenvirtuosen Hubert Léonard, der ein «pièce de concours» für die Abschlußprüfung seiner Violinklasse am Königlichen Konservatorium Brüssel suchte. Seiner Bestimmung entsprechend ist das neue Werk kürzer als die anderen Violinkonzerte Vieuxtemps’ (es handelt sich um eine dreisätzige Anlage, nach Liszt’scher Manier in einem Satz zusammengefaßt), außerdem werden sämtliche Spieltechniken eines Absolventen einer führenden Musikhochschule systematisch abgefragt. Dennoch ist das Konzert durchaus symphonisch angelegt und wurde, nachdem es im Juni 1861 seinen Zweck als Prüfungsstück erfüllt hatte, gleich ins Konzertrepertoire aufgenommen. Die öffentliche Uraufführung mit Vieuxtemps als Solisten fand im September des gleichen Jahres statt, als es auf Wunsch des belgischen Königs zur Feier des belgischen Unabhängigkeitstags aufgeführt wurde. Später wurde das Werk durch die Konzertreisen des großen polnischen Geigers und Vieuxtemps-Freundes Henri Wieniawski (1835-1880) weltweit bekannt gemacht. Die von Vieuxtemps selbst gespielte Pariser Erstaufführung 1862 wurde abermals von Berlioz besprochen: «Wäre Vieuxtemps kein so großer Virtuose, würde man ihn als großen Komponisten feiern. Das Publikum ist jedoch so geschaffen, daß es nur nach reichlicher Überlegung seine Werke gebührend anerkennen kann. Ich hingegen werde anders verfahren ... und auf die Schönheit und den geschickten Aufbau seiner Kompositionen aufmerksam machen ... Statt eine analytische Untersuchung dieses großartigen Violinkonzertes - geschweige denn seiner neuen Polonaise - hier abzugeben, werde ich mich darauf beschränken zu konstatieren, daß mir das Ganze grandios und originell vorkommt, daß die ganze Faktur bewundernswert dazu dient, das Hauptinstrument strahlen zu lassen, ohne daß seine Vorherrschaft je bedrückend wirkt. Auch das Orchester hat etwas zu sagen und sagt es mit einer seltenen Beredsamkeit; es zwingt uns nicht dazu, dem leeren Gerede einer Menschenmenge zuzuhören; und wenn es doch eine Menschenmenge darstellt, so besteht sie aus lauter Oratoren.”

Das Fünfte Violinkonzert wurde dem Herzog von Brabant gewidmet und erschien bereits 1862 als Partitur, Stimmensatz und Klavierauszug bei Bote & Bock in Berlin. Seitdem hat es dem Werk an Neuausgaben - Peters, Breitkopf & Härtel, Universal, Steingräber, Eulenburg, Kalmus, Ries & Erler - nie gemangelt, und das Fünfte Violinkonzert hat einen kleinen, jedoch ehrenvollen Platz im Repertoire behalten. Der Beiname Le Grètry stammt vom Hauptthema des zweiten Satzes, das dem berühmten Quartett Où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille aus der komischen Oper Lucille (1769) des damals als belgischem Nationalkomponisten gefeierten André-Ernest-Modeste Grètry (1741-1813) entliehen wurde. So stellt das Zitat eine patriotische Verbeugung eines begnadeten Musiker dar, der selbst einer der grossen Inspiratoren der belgischen Schule des Violinspiels war.

Bradford Robinson, 2005

Aufführungsmaterial ist von der Bote & Bock, Berlin zu beziehen.

Henri Vieuxtemps
(b. Verviers, Belgium, 17 February 1820; d. Mustapha, Algeria, 6 June 1881)

Violin Concerto No. 5 in A minor (“Le Grètry”) op. 37, 1860-61

Preface
Personal violinist to the Czar of Russia, featured virtuoso at the coronation of Charles XIV of Sweden, a command performance before the Sultan of Turkey, official decorations by the kings of Belgium and Sardinia: the life of Henri Vieuxtemps reads like a storybook tale of the quintessential nineteenth-century musician-hero. A prodigy of Menuhin-like precocity, Vieuxtemps began his international career at the age of thirteen with a tour of Germany that left audiences and musicians spellbound. Spending the winter of 1833/4 in Vienna, he fell in with Beethoven’s former circle and triumphed at the age of fourteen with a revival of the great master’s Violin Concerto, which had for years been woefully neglected. Schumann, in Leipzig, felt no qualms about comparing him to Paganini; and Paganini was happy to accept the comparison when he heard the boy play in London that same year (1834). Vieuxtemps’s international career was launched, and it would sustain him for the next forty years until he was unhappily incapacitated by a stroke in 1873. By that time he had toured America three times (1843/4, 1857/8, and 1870/71), served as the Czar’s violinist-in-waiting (1846-51), enjoyed the above-mentioned honors from Europe’s royalty, and was generally accepted as one of the towering musicians of the century. Berlioz, always quick with an acid pen when confronting mediocrity, summed up the opinion of his age in 1840: «Monsieur Vieuxtemps is a prodigious violinist in the strictest sense of the term. He does things I have never heard from anyone else. He affronts dangers which are frightening for the listener, but which do not disturb him in the least, certain that he will get through them safe and sound.»

Berlioz was equally convinced of Vieuxtemps’s genius as a composer, particular-ly singling out his handling of the orchestra and his deft integration of the solo instrument into a symphonic fabric - no mean praise from the composer of Harold in Italy. If a modern sensibility balks at Vieuxtemps’s large output of virtuoso music for violin and piano (a Souvenir de Amerique, say, consisting of a set of variations on «Yankee Doodle»), there is today nothing to stand in the way of an appreciation of his seven violin concertos and two cello concertos, all of which were once regarded as supreme examples of their genre. Of the violin concertos, the Fourth and Fifth are generally regarded, then as now, as his masterpieces: Berlioz called the Fourth «a magnificent symphony for orchestra with principal violin.»
Berlioz also played a role, if indirectly, in the origin of the Fifth. The great composer invited Vieuxtemps to take part in a concert he had organized in Baden-Baden in June 1860. Vieuxtemps willingly complied, and used the occasion to start work on a new concerto, which had been commissioned by his friend Hubert Léonard to write as an examination piece for the latter’s violin class at the Royal Conservatoire in Brussels. As befitted its purpose, the work is shorter than Vieuxtemps’s other concertos, being essentially a three-movement piece compressed (in the Lisztian fashion) into a single movement, and it systematically covers the technical achieve-ments to be expected of graduates from a great conservatory. The piece is neverthe-less symphonic in conception, and after serving its original purpose for the graduating class of 1861 it duly entered the concert repertoire. It received its première the following September, with Vieuxtemps as soloist, having been selected by the King of Belgium to celebrate the anniversary of Belgium’s independence. Later it was taken all over the world by Vieuxtemps’s great Polish colleague and friend Henri Wieniawski (1835-1880). The first performance in Paris in 1862 was again reviewed by Berlioz: «If Vieuxtemps were not such a great virtuoso he would be acclaimed a great composer. But the public is fashioned in such a way that only upon reflection does it do justice to his works. I shall do the opposite ... and point out the beauty and skillful organization of his compositions. ... I shall not enter here into an analytic discourse on this magnificent concerto, nor of the new ‘Polonaise’; let us limit ourselves to saying that everything about it seems to me grand and novel, that the whole of it is admirably contrived to make the principal instrument shine without its domination ever becoming overbearing. The orchestra speaks, too, and it speaks with a rare eloquence; it does not make us listen to the empty clamor of the crowd; and if it is a crowd, it is a crowd of orators.»

The Fifth Concerto, dedicated to the Duke of Brabant, was published in score, parts, and piano reduction by Bote & Bock, Berlin, in 1862. Since then there have been many new editions - Peters, Breitkopf & Härtel, Universal, Steingräber, Eulenburg, Kalmus, Ries & Erler - and the work has managed to retain a small but dignified place in the repertoire. It owes its nickname Le Grètry to the theme of its second section (or movement), a quotation of the famous quartet Où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille from the comic opera Lucille (1769) by André-Ernest-Modeste Grètry (1741-1813), who was at that time regarded virtually as Belgium’s national composer. It was a fittingly patriotic gesture from a man of genius who stands at the fountainhead of the Belgian School of the violin.

Bradford Robinson, 2005

For performance material please contact the publisher Bote & Bock, Berlin.