Felix Draeseke
(geb. Coburg, 7. Oktober 1835 — gest. Dresden, 26. Februar 1913)

»Adventlied« nach Friedrich Rückert op. 30 (1875)
für Chor, Soloquartett und Orchester

Vorwort
Als bedeutender Komponist von Symphonik und Kammermusik war Felix Draeseke zwar lange vergessen, wird jedoch nach und nach wieder zur Diskussion gestellt. Den wesentlichsten Beitrag jedoch hat er zweifellos zur Kirchenmusik geleistet, zunächst mit dem hier vorliegenden Requiem h-moll op. 22, dann später mit dem Salvum fac regem op. 55 und dem 93. Psalm op. 56 für gemischten Chor a cappella (beide 1889), den Vier Gesängen für gemischten Chor [a cappella] op. 57 (1891), der Großen Messe fis-moll op. 60 für Soli, Chor und Orchester (1891), seinem magnum opus Christus. Ein Mysterium in einem Vorspiel und drei Oratorien opp. 70-73 (1896-99), dem 57. Psalm für Bariton, gem. Chor und Orchester (1907), der Großen Messe a-moll op. 85 für gemischten Chor a cappella (1908-09) und dem Requiem e-moll für fünf Gesangsstimmen a cappella (1909-10), sowie weiteren kleineren Kompositionen. Dieses geistliche Gesamtwerk lässt ihn als einen der bedeutendsten, originellsten und kunstfertigsten deutschen Meister seiner Zeit neben Anton Bruckner und Johannes Brahms erscheinen. Aus früherer Zeit ist zudem noch das noch vor dem Requiem op. 22 entstandene Adventlied (nach Rückert) op. 30 für Chor, Soloquartett und Orchester (1875) zu erwähnen.

Beim Studium am Leipziger Konservatorium entwickelte sich Draeseke zum Rebellen, ward schließlich ein enthusiastischer Lisztianer, schrieb eine revolutionäre Julius Caesar-Symphonie und verschaffte sich den vielgeschmähten Ruf eines radikalen Fortschritts-Musikers an vorderster Front. Die vehemente Ablehnung seiner "ungenießbaren" Musik führte dazu, dass er sich 1862 in die Schweiz zurückzog, wo er die nächsten vierzehn Jahre lebte, wie er später bilanzieren sollte "14 verlorenen Jahre". Zunächst wirkte er in Ifferten und begann mit der Komposition von Schwur im Rütli für Männerchor, Sopransolo und großes Orchester, womit er nicht das erhoffte Interesse fand (erst 1925 gelangte der erste Teil daraus in Dresden zur Uraufführung). Im Juni 1864 machte er erste Entwürfe zu seiner Christus-Tetralogie, die dann aber für mehr als dreißig Jahre in der Versenkung verschwanden. Dann zog er nach Lausanne um, wo er Anfang des Jahres 1865 die 1859 begonnene, dreisätzige Tondichtung Frithjof vollenden konnte. Er hegte letztlich vergebliche Hoffnungen, sein Opernerstling Sigurd könne auf die Bühne kommen. Am 12. Juli 1865 war er bei der Uraufführung von Richard Wagners Tristan und Isolde in München zugegen. Sein chronisches Gehörleiden, das später zu weitgehender Ertaubung führen sollte, verschlimmerte sich. Mit Beginn des Wintersemesters nahm er die Tätigkeit als Klavierlehrer am Lausanner Konservatorium auf. Wagner besuchte ihn auf der Durchreise nach Südfrankreich. In jener Zeit komponierte er 1865 sein erstes geistliches Werk, das Lacrimosa op. 10 für Chor- und Soloquartett, welches er später in das Requiem op. 22 übernehmen sollte. Draesekes Lacrimosa lehnt sich verehrungsvoll an das übermächtige Vorbild des von Süßmayer vollendeten Lacrimosa von Mozart an, was hinsichtlich Tonart (d-moll), Metrik, Melodie usw. unüberhörbar ist. Zur Uraufführung kam Draesekes Lacrimosa op. 10 am 27. Mai 1870 in Weimer unter der Leitung von Carl Müller-Hartung, worauf es beim Leipziger Verlag Kahnt im Druck erschien.

Im August 1875 übersiedelte Draeseke von Lausanne nach Genf, wo er – zehn Jahre nach dem Lacrimosa – innerhalb von drei Wochen das Adventlied nach Friedrich Rückert (1788-1866) für Chor, Soloquartett und Orchester vertonte und am 25. November in Partitur vollendete. (Rückert, einer der großartigsten deutschen Dichter überhaupt, war wie Draeseke ein gebürtiger Coburger.) Drei Jahre später, am 22. November 1878, wurde das einsätzige Werk in der Dresdner Frauenkirche durch die Dreyßigsche Akademie, welcher es zugeeignet ist, unter Friedrich Reichel (1833-89) uraufgeführt. Die Partitur des Adventlieds op. 30 erschien erst 1886 beim Leipziger Verlag Kistner im Druck.

1876 verließ Draeseke die Schweiz, besuchte im Juni die erste Gesamtaufführung von Wagners Ring des Nibelungen in Bayreuth und ließ sich im August in Dresden nieder, das ihm zur endgültigen Heimat wurde. Mittlerweile hatte er seine ersten beiden gültigen Symphonien vollendet (Nr. 1 G-Dur op. 12 [Repertoire Explorer Studienpartitur 240] und Nr. 2 F-Dur op. 25 [Repertoire Explorer Studienpartitur 142]) und auch mit einigen seiner Klavierwerke beachtliche Erfolge gefeiert. 1877 machte er sich kurzfristig wieder über das lange geplante Requiem. Doch nun konzentrierte er sich vor allem auf seine deutsche Heldenoper Herrat, die er 1879 abschloss (erst 13 Jahre später, am 10. März 1892, dirigierte Ernst von Schuch in Dresden die Uraufführung der Herrat). Dann schrieb er sein I. Streichquartett c-moll (beendet im Februar 1880), und danach endlich brachte der Protestant Draeseke das lateinische Requiem h-moll auf den Weg, welches er am 1. Mai 1880 vollenden konnte.

Hinsichtlich aufführungspraktischer Fragen möge der folgende, der Einführung in das Mysterium »Christus« entnommene, sehr diplomatisch gehaltene Hinweis Felix Draesekes nicht ohne Wirkung bleiben:
"Was endlich die Zeitmassbestimmung anbelangt, so ist auf das Metronomisieren verzichtet worden, indem der Komponist dieselbe den Dirigenten vertrauensvoll anheim giebt, zugleich sich aber die Bitte erlaubt, erwägen zu wollen, dass ein zu rasches Tempo dem Werke leicht den unverdienten Vorwurf weltlichen Stiles zuziehen könnte und eine gewisse Mässigung in dieser Beziehung, und zwar vielleicht eine etwas grössere, als sie gerade gegenwärtig üblich ist, sich […] recht wohl empfehlen würde."
In derselben Einführung findet sich auch das folgende, abschließende Bekenntnis, welches für Draesekes gesamtes kirchenmusikalisches Schaffen bezeichnend ist:
"Gewissen Anschauungen gegenüber, nach welchen der Contrapunkt in der Kirchenmusik sehr zu beschränken, womöglich gar aus ihr zu verbannen wäre, steht der Komponist auf dem alten Standpunkte, in dem ihm genanntes Kunstmittel für den kirchlichen Stil absolut so nötig dünkt, wie das Brot fürs tägliche Leben. Aber lebensvoll muss der Contrapunkt sich auch erweisen, mit dem ganzen Musikstile des Werkes zusammenstimmen; jeder Anstrich trockner Schulmässigkeit und Eckigkeit muss aus ihm verbannt sein, er selbst sich nur zu erkennen geben als ein Hilfsmittel, das die Ideen des Komponisten zu klarer Vernehmbarkeit gelangen lässt. Forderungen, nach denen der Contrapunkt in einer gewissen streng bestimmten Weise auszuführen wäre, ein unveränderliches Aussehen behalten müsse und die Verehrung einer wohlkonservierten alten Mumie in Anspruch zu nehmen habe, Forderungen, die auch in der letzten Vergangenheit noch erhoben worden sind, werden der belebenden Luft der Gegenwart nicht Trotz zu bieten vermögen, wie ja auch der Grossmeister des Contrapunktes, Joh. Sebastian Bach, sich sehr wenig um derartige Forderungen gekümmert haben dürfte. Denn als ein Kind seiner Zeit hat er für seine Zeit und mit Zuhilfenahme aller ihrer neuentdeckten Kunstmittel unbedenklich darauf losgeschrieben, seinem eignen Kunstgefühle mehr vertrauend, als hergebrachten Meinungen. Wer auf ihn schaut, wird kaum fehl gehen; möge er drum wie in vergangenen auch in folgenden Zeiten unser Leitstern bleiben."
Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Kistner & C. F. W. Siegel & Co., Köln zu beziehen.

Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtischen Bibliotheken, 2004.

 

 

Felix Draeseke
(b. Coburg, 7 October 1835 — d. Dresden, 26 February 1913)

‘Adventlied’ after Rückert, op. 30 (1875)
for Chorus, Quartet of Solo Vocalists, and Orchestra

Preface
Felix Draeseke, though once long forgotten, is gradually returning to the public eye as a leading composer of symphonies and chamber music. Yet his most significant work was undoubtedly accomplished in the field of church music, beginning with the present Requiem in B minor (op. 22). Other sacred works followed: Salvum fac regem (op. 55) and Psalm 93 (op. 56), both for mixed a cappella chorus and both composed in 1889; Four Songs for mixed a cappella chorus (op. 57, 1891); the Grand Mass in F-sharp minor for solo voices, chorus, and orchestra (op. 60, 1891); his magnum opus, Christus: a Mystery in One Prelude and Three Oratorios (opp. 70-73, 1896-9); Psalm 57 for baritone, mixed chorus, and orchestra (1907); the Grand Mass in A minor for mixed a cappella chorus (op. 85, 1908-9); and the Requiem in E minor for five a cappella voices (1909-10), as well as other compositions on a lesser scale. This sacred oeuvre places him among the most significant, original, and skillful German composers of his age, a worthy companion to Anton Bruckner and Johannes Brahms. Equally deserving of mention, from the period preceding his op. 22 Requiem, is the Adventlied (after Rückert, op. 30) for chorus, four solo voices, and orchestra (1875).

While studying at Leipzig Conservatory, Draeseke developed into a rebel and ultimately into a rabid Lisztian. He composed a revolutionary Julius Caesar Symphony and acquired the much-maligned reputation of being a radical progressive at the forefront of the avant-garde. The vehement rejection of his "unpalatable" music caused him in 1862 to withdraw to Switzerland, where he was to spend the next fourteen years — or, as he summed them up, "fourteen lost years." At first he worked in Ifferten and began to compose Schwur im Rütli for male chorus, soprano, and large orchestra. The work failed to satisfy the hopes he had placed in it (the first section had to wait until 1925 for an initial hearing in Dresden). In June 1864 he started the first drafts for his Christus tetralogy, only to let them lie fallow for more than thirty years. He then relocated to Lausanne, where, in the early part of 1865, he was able to complete the three-movement tone poem Frithjof he had begun in 1859. He cherished fond but ultimately futile hopes that his first opera Sigurd might be mounted on stage. On 12 July 1865 he was in Munich to attend the première of Richard Wagner’s Tristan und Isolde. A chronic hearing ailment that would later leave him almost totally deaf gradually worsened at this time. At the beginning of the winter semester he took up an appointment as a piano teacher at Lausanne Conservatory. Wagner paid him a visit there while en route to southern France.
It was at this time, in 1865, that Draeseke composed his first sacred work, Lacrimosa for chorus and four solo voices (op. 10), a piece he would later incorporate in his op. 22 Requiem. Whether in meter, melody, or choice of key (D minor), the Lacrimosa looks up in awestruck reverence at the towering example of Mozart’s Lacrimosa as completed by Süssmayr. It received its première in Weimar on 27 May 1870 under the baton of Carl Müller-Hartung and was published by Kahnt in Leipzig shortly thereafter.
In August 1875 Draeseke moved from Lausanne to Geneva. There, within the span of three weeks (and ten years after the Lacrimosa), he composed his Adventlied for chorus, quartet of solo vocalists, and orchestra, completing the score on 25 November. The piece is based on a poem by Friedrich Rückert (1788-1866), one of the greatest of all German poets and, like Draeseke, a native of Coburg. Three years later, on 22 November 1878, the single-movement work was given its première in the Church of Our Lady, Dresden, by the Dreyssig Academy (to which it is dedicated) under the baton of Friedrich Reichel (1833-1889). Publication of the score had to wait until 1886, when it was issued as Adventlied, op. 30, by Kistner in Leipzig.

In 1876 Draeseke left Switzerland. He attended the first complete performance of Wagner’s Ring in Bayreuth that June, and in August he settled in Dresden, which would become his permanent home. By that time he had completed the first two of his fully acknowledged symphonies — No. 1 in G major, op. 12 (Repertoire Explorer Study Score no. 240) and No. 2 in F major, op. 25 (Repertoire Explorer Study Score no. 142) — and had also enjoyed considerable success with several of his piano pieces. In 1877 he returned briefly to his long-projected Requiem; but above all he focused his attention on a heroic German opera, Herrat, which he completed in 1879 (its première had to wait another thirteen years before Ernst von Schuch conducted it in Dresden on 10 March 1892). He then turned out a First String Quartet in C minor (completed in February 1880). Only then did the staunch Lutheran finally get down to his Latin Requiem in B minor, completing it on 1 May 1880.

The following diplomatically worded note from Felix Draeseke, excerpted from his introduction to Christus, may prove useful in answering questions relating to performance practice:
"Finally, as far as the choice of tempo is concerned, we have refrained from providing metronome marks, which the composer hereby entrusts to the discretion of his conductors. At the same time, he asks them to bear in mind that an excessively quick tempo may easily draw upon the work the unmerited accusation of being secular in style, and recommends quite strongly that they exercise a certain restraint in this respect, indeed, perhaps somewhat more restraint than is customary, especially in the present age."
The same introduction also concludes with the following confession, which sheds revealing light on Draeseke’s church music as a whole:
"As opposed to certain points of view, according to which counterpoint in church music should be severely limited, if not banished altogether, the present composer endorses the earlier standpoint, holding this artistic technique to be as absolutely essential to the ecclesiastical style as is bread to our daily life. Yet counterpoint, too, must show itself to be vital and consistent with the musical style of the work as a whole; every semblance of arid scholasticism and clumsiness must be expunged from the contrapuntal fabric, and the counterpoint itself must appear as nothing but an aid that allows the composer’s ideas to become more intelligible and lucid. Demands have been raised — indeed, they have recently been raised again — that would force counterpoint to be carried out in a rigid and preconceived manner, retaining an unyielding appearance and claiming all the veneration due to a well-preserved mummy. Such demands are incapable of braving the invigorating air of the present day, just as the grand master of counterpoint, Johann Sebastian Bach, doubtless paid precious little attention to them. As a child of his age, Bach had to write for his age and to avail himself unhesitatingly of all its newly discovered techniques, placing greater trust in his artistic sensibilities than in conventional opinions. Those who look to him are in little danger of going astray; may he therefore continue, as in the past, to remain our lodestar in the ages to come."
Translation: Bradford Robinson, 2004.

For performance materials please contact the publisher Kistner & C. F. W. Siegel & Co., Cologne.

Reprint of a copy from the music department archives of the Leipzig Municipal Libraries, 2004.