Felix Mendelssohn Bartholdy
(geb. Hamburg, 3. Februar 1809 — gest. Leipzig, 4. November 1847)

»Die erste Walpurgisnacht« op. 60 (1831-32/rev. 1842-43)
nach Johann Wolfgang von Goethe
Kantate für Soli, gemischten Chor und Orchester

Vorwort
Mendelssohns Lehrer Karl Friedrich Zelter hatte von seinem verehrten Goethe im August 1799 den Text von »Die erste Walpurgisnacht« erhalten. Goethe, der das Werk zunächst als 'dramatische Ballade' oder 'Gespräch in Liedern', dann jedoch schließlich als Kantate bezeichnete, erwähnte »Die erste Walpurgisnacht« erstmals am 30. Juli jenen Jahres in seinem Tagebuch. Damals schrieb Goethe an Zelter: "Diese Produktion ist durch den Gedanken entstanden, ob man nicht die dramatischen Balladen so ausbilden könnte, dass sie zu einem größeren Singstück dem Komponisten Stoff gäben." Zelters Antwort lautete: "Die erste Walpurgis-Nacht ist ein sehr eigenes Gedicht. Die Verse sind musikalisch und singbar. Ich wollte es Ihnen in Musik gesetzt hier beylegen und habe ein gutes Theil hineingearbeitet, allein ich kann die Luft nicht finden, die durch das Ganze weht und es soll lieber noch liegen bleiben." Im November 1812 – das Projekt war nicht weiter gediehen – erbat Zelter von Goethe weitere Auskünfte. Goethe, der sich nicht mehr erinnerte, die Anregung zum Stoff aus Honemanns «Altertümer des Harzes« und dem »Archiv der Zeit« vom Dezember 1796 erhalten zu haben, antwortete am 3. Dezember 1812:
"So hat nun auch einer der deutschen Alterthumsforscher die Hexen und Teufelsfahrt des Brockengebirgs, mit der man sich in Deutschland seit unendlichen Zeiten trägt, durch einen historischen Ursprung retten und begründen wollen. Dass nämlich die Deutschen Heiden-Priester und Altväter, nachdem man sie aus ihren heiligen Haynen vertrieben und das Christenthum dem Volke aufgedrungen, sich mit ihren treuen Anhängern auf die wüsten unzugänglichen Gebirge des Harzes, im Frühlingsanfang begeben, um dort, nach alter Weise, Gebet und Flamme zu dem gestaltlosen Gott des Himmels und der Erde zu richten, um nun gegen die ausspürenden bewaffneten Bekehrer sicher zu seyn, hätten sie für gut befunden, eine Anzahl der Ihrigen zu vermummen, um hiedurch ihre abergläubischen Widersacher entfernt zu halten, und, beschützt von Teufelsfratzen, den reinsten Gottesdienst zu vollenden."
Zelter sollte diese Aufgabe musikalisch nie ausführen. Dies blieb seinem Schüler Mendelssohn überlassen, der am 22. Februar 1831 an seine Schwester Fanny schrieb, seit Monaten sei er mit dem Plan befasst, Goethes Kantate zu vertonen. Dann schrieb er aus Rom an Goethe in Weimar, der ihm freundlichst antwortete und zum Gegenstand der Komposition bemerkte:
"Es ist im eigentlichen Sinne hochsymbolisch intentioniert; denn es muss sich in der Weltgeschichte immerfort wiederholen, dass ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und wo nicht getilgt, so doch in den engsten Raum eingepfercht werde. Die Mittelzeit, wo der Hass noch gegenwirken kann und mag, ist hier prägnant genug dargestellt, und ein freudiger, unzerstörbarer Enthusiasmus lodert noch einmal in Glanz und Wahrheit hinauf."

Eric Werner gibt in seinem bahnbrechenden Standardwerk »Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht« (Zürich, 1980), welchem die vorstehenden Informationen entnommen sind, die folgende Interpretation:
"Goethes «dramatische Ballade» […] stellt sich auf die Seite der dem alten Glauben und Brauch ergebenen Germanen oder Kelten […] Es ist also eine milde Satire auf mittelalterlich-kirchliche Bigotterie und Aberglauben und stellt einen reinen, aus der Erkenntnis der Natur entsprungenen Monotheismus gegen die abergläubischen Sitten der frühen europäischen Kirche. Geboren aus dem Geist der Aufklärung, wächst das Stück weit über einen hier naheliegenden Rationalismus hinaus und nimmt in seiner Art schon Gedanken Nietzsches voraus. Es ist ein im tiefsten Sinn humanistisches Gedicht."
Und zu Mendelssohns Umsetzung schreibt Werner: "Hier ist es ihm gelungen, den inneren Konflikt zwischen reinem Monotheismus und traditioneller Kirchengläubigkeit aufzulösen; das Medium, das er in genialer Einsicht zur Darstellung und Lösung des Konflikts verwendete, ist das Element des Humors. Die Walpurgisnacht ist eines der seltenen Großwerke, in den Humor, Geist, Majestät und Anmut untrennbar miteinander verflochten sind. Nur Haydns viel größer angelegte Jahreszeiten können mit der Walpurgisnacht verglichen werden – doch der Vergleich ist schief, denn in dem Oratorium Haydns handelt es sich um Gegensätze in der Natur, in der Walpurgisnacht um Konflikte zwischen Ideologien. Beiden Werken gemeinsam ist aber ein subtiler Humor."
Werner bezeichnet das Werk, das ohne Gattungsvorbild frei gestaltet dasteht, als "das bedeutendste weltliche Oratorium des 19. Jahrhunderts". Im Konzertsaal freilich ist sie, aller viel gepriesenen Qualitäten ungeachtet, nach wie vor ziemlich selten zu hören.

In der ersten Fassung vollendete Mendelssohn »Die erste Walpurgisnacht« am 13. Februar 1832 und brachte sie am 10. Januar 1833 in Berlin mit der Berliner Singakademie zur Uraufführung. Die umfangreiche Überarbeitung erstreckte sich vom Dezember 1842 bis zum 15. Juli 1843. Die revidierte Fassung erklang erstmals unter Mendelssohns Stabführung im Leipziger Gewandhaus am 2. Februar 1844 (die meisten Quellen geben 1843 an). Im Druck erschien »Die erste Walpurgisnacht« 1844 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig.
Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (www.breitkopf.de) zu beziehen.

Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, 2004.

Felix Mendelssohn-Bartholdy
(b. Hamburg, 3 February 1809 — d. Leipzig, 4 November 1847)

Die erste Walpurgisnacht Op. 60 (1831-32/rev. 1842-43)
after Johann Wolfgang von Goethe
Cantata for Solo Voices, Mixed Chorus, and Orchestra

Preface
In August of 1799, Karl Friedrich Zelter, Mendelssohn’s teacher, received from his admired Goethe the text of Die erste Walpurgisnacht (The First Walpurgis Night).
[Walpurgisnacht originated as a pagan festival celebrating Spring’s defeat of Winter. With the arrival of Christianity the pagan rituals were abolished and the date, fixed as the night before the 1st of May, became a night of superstitions aimed at driving away witches and evil spirits.]
Goethe, who subtitled it first as a “dramatic ballad” or a “conversation in songs,” and finally as a “cantata,” mentioned it first in his journal on July 30 of that year. Goethe wrote Zelter: “This work is conceived in order to test the concept that the dramatic ballads might be formed in such a way so as to provide a composer with the material for a larger vocal work.” Zelter answered: “Die erste Walpurgisnacht is a very unique poem. The verses are musical and singable. I would like to set it to music and present it to you, and have worked out a goodly part of it, but I cannot catch the breeze that breathes through the piece as a whole, and so I would prefer to let it sit for now.” In November, 1812 – the project had developed no further – Zelter requested further details. Goethe, who had forgotten that in 1797, he had been inspired to produce this piece by Honemann’s Altertümer des Harzes (Ancients of the Harz) and the Archiv der Zeit (Archive of Time), replied on December 3, 1812:
“Presently, a German researcher of ancient history wishes to preserve and justify the historical origins of the witchcraft and devilry of the Brockengebirge (Brocken Mountains), a thing that Germans have carried within themselves since eternity. Namely, that the German heathen priests and forebears, after having been driven out of their sanctified paganism and forced into the Christianity of the people, returned with their faithful supporters to the deserted and inaccessible Harz mountains at the beginning of each Spring, and there, as in the ancient fashion, offered prayers and flames to the formless god of the heavens and the earth. And to protect themselves from the armed converts who would ferret them out, they determined to disguise a number of themselves in order to deter their superstitious opponents so that, protected by the grimaces of their costumed devils, they could perform to completion the holiest of their rituals.”
Zelter would never complete this work. It fell to his student Mendelssohn, who wrote his sister Fanny on February 22, 1831, with news that he had been occupied with a plan to set Goethe’s cantata to music. From Rome he wrote Goethe in Weimar, who kindly replied regarding the composition:
“Its actual sense is intentioned to be highly symbolic; for the history of the world is henceforth bound to continually repeat itself; that something ancient, established, proven and reassuring, being crushed beneath arising innovations, is forced and dislocated -- when not completely obliterated -- into the narrowest of spaces and then completely repressed. The Middle Ages, when the spirit of hate was frequently wielded, are concisely represented here, and a joyful, indestructible enthusiasm blazes and shines forth in truth once again.”

Eric Werner, in his revolutionary and standard-setting work Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht (Mendelssohn, Life and Work in a New View), from which much of the important information for this preface is taken, provides the following interpretation:
“Goethe’s ‘dramatic ballad’…sides with the old beliefs and devoted customs of the early Germanic tribes and the Celts….It is therefore a mild satire of the Church’s bigotry and superstition during the Middle Ages which pits a pure monotheism sprung from Nature against the superstitious morals of the early European Church. Born out of the spirit of the Enlightenment, the piece evolves from obvious rationalism and hence in its own manner pre-figures the work of Nietzsche. It is in the deepest sense a humanistic poem.”
Regarding Mendelssohn’s setting, Werner writes:
“Here he successfully resolves the inner conflict between pure monotheism and traditional Christian beliefs. The medium he uses to uncover, display and resolve the conflict is the element of humor. Walpurgisnacht is one of those unusual masterpieces in which humor, spirit, majesty and grace are inseparably intertwined. Only Haydn’s much larger-scaled Die Jahreszeiten (The Seasons) can be compared with Walpurgisnacht, but the comparison is not completely accurate, for Haydn’s oratorio deals with the contrasts found in nature, while Walpurgisnacht deals with the conflict between ideologies. Both works, however, possess a common subtle humor.”
Werner calls the work “one of the most important oratorios of the 19th Century, for it was shaped without regard for existing musical forms.” In the concert hall, despite all its prized qualities, it is still, as before, heard relatively infrequently.

Mendelssohn completed the first version of Die erste Walpurgisnacht on February 13, 1832, and brought it to Berlin on January 10, 1833, for its premiere performance with the Berliner Singakademie. Extensive revisions were made by Mendelssohn during the period between December of 1842, and July 15, 1843. The revised version was first heard at the Leipzig Gewandhaus on February 2, 1844 (though many sources list the date as 1843), under Mendelssohn’s baton. Die erste Walpurgisnacht was first published in 1844, by the firm of Breitkopf & Härtel of Leipzig.
Translation: Jeremy Wance, 2004.

For performance materials please contact the publisher Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (www.breitkopf.de).

Reprint of a copy from the Music Library Archives of the Munich Municipal Library, 2004.