Frank Martin
(geb. Genf, 15. September 1890 — gest. Naarden [Niederlande], 21. November 1974)

Sechs Monologe aus 'Jedermann' (1943/orchestr. 1949)
für Bariton- oder Alt-Solo und Orchester

I Ist alls zu End das Freudenmahl p. 1
II Kann der die Seel’ im Leib uns morden? p. 16
III Ist als wenn eins gerufen hätt’ p. 45
IV So wollt’ ich ganz vernichtet sein p. 49
V Ja! ich glaub’: solches hat er vollbracht p. 56
VI O ewiger Gott! O göttliches Gesicht! p. 61

Vorwort
Frank Martin war einer der eminentesten Schweizer Komponisten aller Zeiten, und zusammen mit Arthur Honegger der wohl bedeutendste Vertreter seiner Zunft in der französischen Schweiz. Insbesondere auf dem Gebiet der großformatigen Vokalkomposition zählt er zu den bemerkenswertesten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts. Unter anderem schuf er die Opern Der Sturm (nach Shakespeares The Tempest, komp. 1952-54; UA: Wien, 17. Juni 1956) und Monsieur de Pourceaugnac (nach Molière, komp. 1960-62; UA: Genf, 23. April 1963); »Der Cornet« (1942-43) für Alt-(oder Bariton-)Solo und Kammerorchester nach Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Rainer Maria Rilke (Repertoire Explorer Studienpartitur 325); Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943 (Getanzte Freilichtaufführung für Knabenchor, Streichorchester, Jazzensemble und Basler Trommler); die Oratorien Le Vin herbé (nach der Tristan-Legende, komp. 1938-41), In terra pax (komp. 2944-45), Golgotha (komp. 1945-48) und Le Mystère de la Nativité (1957-59) sowie ein Requiem (komp. 1971-72). Einige dieser Werke erfreuen sich schon lange außergewöhnlicher Popularität, und die Tendenz der Aufführungen, insbesondere von Golgotha, ist dreißig Jahre nach seinem Tode weiterhin steigend. Aber auch als Instrumentalkomponist muss er zu den herausragenden Erscheinungen seiner Zeit gerechnet werden, und eine Vielzahl seiner Werke ist lebendiger Bestandteil des internationalen Konzertrepertoires. Einige seiner Kompositionen, darunter auch die hier vorliegende, werden in der Serie Repertoire Explorer erstmals im Studienpartitur-Format veröffentlicht.

Die Sechs Monologe aus Jedermann nach Hofmannsthal gehören zu Frank Martins meistaufgeführten Werken. Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) verfasste Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes in den Jahren 1903-11 in Anlehnung an die anonyme englische morality Everyman (1509) und Hans Sachs’ Comedi von dem reichen sterbenden Menschen unter Hinzufügung in aktuelle Sprachform gebrachter, mittelalterlicher Lieder. Das Stück wurde am 1. Dezember 1911 im Zirkus Schumann zu Berlin in der Regie von Max Reinhardt uraufgeführt. 1920 diente es als Eröffnungsspiel für die neugegründeten Salzburger Festspiele, wo es seither bis heute als alljährliche Tradition zu sehen ist.
Mit dem Cornet nach Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (UA Basel, 9. Februar 1945; Elsa Cavelti [Alt], Basler Kammerorchester, Paul Sacher) hatte Martin in den Jahren 1942-43 erstmals einen deutschsprachigen Text — obendrein einen sehr anspruchsvollen! — für Singstimme gesetzt, und noch im Frühjahr 1943 vollendete er das zweistündige Freilicht-Tanz-Spektakel Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943, ein Ballett von Mariette von Meyenburg (UA Basel, 27. Mai 1943). Die erworbenen Erfahrungen in der deutschen Sprache bildeten die Grundlage für die Sechs Monologe aus Jedermann. Martin erzählt (postum veröffentlicht in A propos de…, commentaires de Frank Martin sur ses œuvres, hrsg. von Maria Martin, Neuenburg 1984):
"Als mich der Bariton Max Christmann 1943 darum bat, einen Liederzyklus für seine Stimme zu schreiben, suchte ich geraume Zeit erfolglos nach einem Gedicht, das mich zur Arbeit anregen könnte. Und als ich auf den Gedanken kam, den Text von Hofmannsthals Jedermann durchzublättern, hatte ich nicht viel Hoffnung, in einem Theaterstück etwas Geeignetes für einen Liederzyklus zu finden. Ich hatte jedoch Glück und konnte ihm sechs Monologe [diese Bezeichnung stammt von Martin und findet sich bei Hofmannsthal nicht] entnehmen, die in sich so abgeschlossen waren, dass sie auf ergreifende Weise die psychologische und geistige Entwicklung der Hauptperson zusammenfassten — angefangen bei der Angst des Geschöpfs vor dem Tod bis zu seiner vollkommenen Hingabe im Vertrauen auf die Vergebung, seine allmähliche Loslösung von den irdischen Gütern und seinen Aufstieg in Furcht und Leid in die geistige Welt. Angesichts eines solchen Themas hätte ich nur schweigen können, hätte der Dichter mich nicht geleitet, hätte er mich nicht jene Haltung völliger Einfachheit und Demut gelehrt, die er selbst dazu eingenommen hatte: In seinen achtfüßigen Versen lässt der Dichter nicht nur die schlichte Sprache der uralten menschlichen Ängste aufklingen, sondern auch die Sprache, in der uns das Evangelium die Erlösung durch die Liebe lehrt. Er lüftet den Vorhang also nur so weit, dass sich das Drama von Tod und Leben, von Sünde und Heil im Geist eines jeden Zuhörers entrollen kann. Bei der Suche nach einer dieser einfachen und so sinnträchtigen Sprache angemessenen Musik konnte ich mich von der herrlichen Anordnung dieses dramatischen Gedichts überzeugen, von seinem tiefgehenden psychologischen Verständnis, verbunden mit der volkommenen Schönheit von Sprache und Form und dem reinen Rhythmus der Verse, die so geschmeidig in ihrer wunderbaren Monotonie und so wahrhaft mittelalterlich sind."
Martin vollendete die Sechs Monologe aus Jedermann in der Originalfassung für Bariton oder Alt und Klavier am 13. Dezember 1943 und widmete sie Max Christmann (1907-78). Die Oktavtransposition für die Altstimme ist zwar als Alternative vorgesehen, doch favorisierte Martin die ursprünglich vorgesehene Baritonlage. Bei der Uraufführung in Gstaad am 6. August 1944 wurde Max Christmann vom Komponisten am Klavier begleitet.
Im Juli 1949 orchestrierte Frank Martin die Sechs Monologe aus Jedermann und erstellte so die nachhaltig bekannt gewordene, hiermit als Partitur-Erstdruck nach seinem Manuskript vorliegende Fassung für Bariton oder Alt solo und Orchester. Zur Uraufführung gelangte die Orchesterfassung am 9. September 1949 in Venedig durch die Altistin Elsa Cavelti (1914-2001), die schon den Cornet aus der Taufe gehoben hatte, unter der Leitung von Rafael Kubelík (1914-96).
Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com) zu beziehen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2004.

 

 

Frank Martin
(b. Geneva, 15 September 1890 — d. Naarden [the Netherlands], 21 November 1974)

Sechs Monologe aus 'Jedermann' (1943/orchestr. 1949)
für Bariton- oder Alt-Solo und Orchester

I Ist alls zu End das Freudenmahl p. 1
II Kann der die Seel’ im Leib uns morden? p. 16
III Ist als wenn eins gerufen hätt’ p. 45
IV So wollt’ ich ganz vernichtet sein p. 49
V Ja! ich glaub’: solches hat er vollbracht p. 56
VI O ewiger Gott! O göttliches Gesicht! p. 61

PrefaceFrank Martin was one of most eminent Swiss composers of all times, and together with Arthur Honegger probably the most important composer from the French part of Switzerland. Particularly in the genre of the large-scale choral works he ranks as one of the most remarkable composers of the 20th century. Among his compositions are the opera Der Sturm (after Shakespeare's The Tempest, composed 1952-54; premiéred: Vienna, 17 June 1956) and Monsieur de Pourceaugnac (after Moliére, composed 1960-62; premiéred: Geneva, 23 April 1963); Der Cornet (1942-43) for alto (or baritone) solo and chamber orchestra after Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke by Rainer Maria Rilke (Repertoire Explorer Study Score 325); Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943 (Getanzte Freilichtaufführung for boys choir, string orchestra, jazz ensemble and Basel drums); the oratorio Le Vin herbé (after the Tristan legend, composed 1938-41); In terra pax (composed 1944-45); Golgotha (composed 1945-48); Le Mystère de la Nativité (1957-59); and a Requiem (composed 1971-72). Some of these works already have enjoyed unusual popularity for quite awhile, and the frequency of performances, in particular of Golgotha, is still rising thirty years after Martin's death. But as an instrumental composer he must also be ranked among the most outstanding of his time, and a large number of his works are featured in the current standard international concert repertoire. Some of his compositions, including this one, are being published in study score format for the first time in the Repertoire Explorer series.

The Sechs Monologe aus Jedermann after Hofmannsthal are among Frank Martin's most oft-performed works. Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) wrote Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (Everyman. The Play of the Rich Man's Death) in the years 1903-11 as an adaptation of the anonymous English morality play Everyman (1509) and Hans Sachs' Comedi von dem reichen sterbenden Menschen, adding contemporary language and medieval-style music. The piece was premiéred on 1 December 1911 in the Zirkus Schumann in Berlin under the direction of Max Reinhardt. In 1920 it served as the opening play for the newly reopened Salzburg Festival, where it continues to be an annual tradition to this day.

With Der Cornet after Rainer Maria Rilke's Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (premiéred: Basel, 9 February 1945; Elsa Cavelti [Alto], Basler Kammerorchester, Paul Sacher), for the first time Martin had in 1942-43 a German-language text - and a very demanding one! - set for Singstimme, and in the Spring of 1943 he completed his two-hour open-air dance spectacle Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943, a ballet by Mariette von Meyenburg (premiére: Basel, 27 May 1943). The experience he acquired in the German language formed the basis for Sechs Monologe aus Jedermann. Martin commented (posthumously published in A propos de, commentaires de Frank Martin sur ses Œuvres, ed. by Maria Martin, Neuenburg 1984): "When the baritone Max Christmann asked me in 1943 to compose a song cycle for his voice, I looked unsuccessfully for a long time for a poem which could energize me about the project. And when it occurred to me to leaf through the text of Hofmannsthal's Jedermann, I did not have a lot of hope that I would find something suitable in the play for a song cycle. I was lucky, however, and was able to extract six monologues [this designation comes from Martin and is not found in the Hofmannsthal], which were so complete in themselves, that they summarized in a moving way the psychological and mental development of the main character - beginning with the creature's fear of death up to his perfect surrender in trust in forgiveness, his gradual detachment from earthly things, and his ascent in fear and sorrow into the spiritual world. In the face of such themes I could only have been silent, if the poet had not led me, if he had not taught me that attitude of total simplicity and humility, to which he took himself: In his octosyllable verses the poet not only lets the simple language of age-old human fears resound but also the language of the Gospel of Redemption which teaches us through love. He opens the curtain just far enough that the drama of death and life, of sin and healing in the spirit of each listener, can unroll itself. Through the search for appropriate music to set this simple and meaningful language, I became even more aware of the wonderful construction of this dramatic poem, from its deep psychological understanding to the perfect beauty of language and form and the pure rhythm of the verse, so supple in their wonderful monotony and so truly medieval."

Martin completed Sechs Monologe aus Jedermann in the original version for baritone or alto and piano on 13 December 1943 and dedicated it to Max Christmann. The octave transposition for the alto voice is provided as an alternative, but Martin preferred the original baritone range. At the premiére in Gstaad on 6 August 1944 Max Christmann was accompanied at the piano by the composer. In July 1949 Frank Martin orchestrated Sechs Monologe aus Jedermann and in so doing created the version with lasting fame, printed here from the first edition of the score based on the manuscript for baritone or alto solo and orchestra. The premiére of the orchestra version took place on 9 September 1949 in Venice by the alto Elsa Cavelti (1914-2001), who had also christened Der Cornet, under the direction of Rafael Kubelik (1914-96).

Translation: Lynn Gaubatz, 2004.

For performance materials please contact the publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com).

Reprint with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2004.