Frank Martin
(geb. Genf, 15. September 1890 — gest. Naarden [Niederlande], 21. November 1974)

»Der Cornet« (1942-43)

für Alt-Solo (oder Bariton-Solo) und Kammerorchester

nach Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
von Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Vorwort
Frank Martin war einer der eminentesten Schweizer Komponisten aller Zeiten, und zusammen mit Arthur Honegger der wohl bedeutendste Vertreter seiner Zunft in der französischen Schweiz. Insbesondere auf dem Gebiet der großformatigen Vokalkomposition zählt er zu den bemerkenswertesten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts. Unter anderem schuf er die Opern Der Sturm (nach Shakespeares The Tempest, komp. 1952-54; UA: Wien, 17. Juni 1956) und Monsieur de Pourceaugnac (nach Molière, komp. 1960-62; UA: Genf, 23. April 1963), die Oratorien Le Vin herbé (nach der Tristan-Legende, komp. 1938-41), In terra pax (komp. 2944-45), Golgotha (komp. 1945-48) und Le Mystère de la Nativité (1957-59) sowie ein Requiem (komp. 1971-72). Einige dieser Werke erfreuen sih schon lange außergewöhnlicher Popularität, und die Tendenz der Aufführungen, insbesondere von Golgotha, ist dreißig Jahre nach seinem Tode weiterhin steigend. Aber auch als Instrumentalkomponist muss er zu den herausragenden Erscheinungen seiner Zeit gerechnet werden, und eine Vielzahl seiner Werke ist lebendiger Bestandteil des internationalen Konzertrepertoires. Einige seiner Kompositionen, darunter auch das hier vorliegende, werden in der Serie Repertoire Explorer erstmals im Studienpartitur-Format veröffentlicht.

Nach Le Vin herbé für 12 Solostimmen, 7 Streicher und Klavier und unmittelbar anschließend an die Cantate pour le 1er août, ein Gelegenheitswerk für Chor mit Orgel oder Klavier von 1941, komponierte Martin den Cornet, eines seiner Hauptwerke. Frank Martin selbst berichtet darüber (postum erschienen in A propos de…, commentaires de Frank Martin sur ses œuvres, hrsg. von Maria Martin, Neuenburg 1984):
"Im Jahre 1942 war ich auf der Suche nach einem Text, der mir als Grundlage für einen Liederzyklus mit Klavier dienen könnte, als meine Frau [Maria] mich mit dem wunderschönen Gedicht in Prosa von Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke bekannt machte. Bei dem französischsprachigen Publikum ist dieses Werk sehr wenig bekannt; es ist fast unübersetzbar, und die Übersetzungen, die man im Buchhandel findet, entstellen es denn auch. Gleich beim ersten Kontakt begeisterte ich mich für diese Dichtung, die so stark und gleichzeitig so knapp und doch zart ist; zunächst aber lehnte ich sie ab, weil sie nicht meinen Absichten entsprach: eine Suite von mehr als zwanzig Liedern, war das nicht etwas viel? Außerdem umfasst Rilkes Novelle, obwohl in kleine Bilder aufgeteilt, eine epische Handlung, schildert miteinander verknüpfte Ereignisse und nicht die Entfaltung eines Gefühls, was mir als die notwendige literarische Grundlage für einen Liederzyklus scheint. Schließlich fürchtete ich, einen Text in einer Sprache zu vertonen, die nicht meine eigene ist, da ich mich in einem Gesangsstück immer daran gehalten habe, die genaue Form und den Ausdruck der Sprache wiederzugeben.
Doch die Eindringlichkeit und der Zauber des Rilkeschen Werkes erschütterten meinen Widerstand. Die damalige Begegnung mit Elisabeth Gehri und die Möglichkeit, sie als Interpretin zu gewinnen, bestimmten mich, auf meinen Liederzyklus zu verzichten und eine umfassendere Arbeit zu unternehmen. Paul Sachers Aufmunterungen führten schließlich die Entscheidung herbei [Sacher wandelte Martins Plan in einen Auftrag für sein Basler Kammerorchester um] und verliehen meinem Projekt seine endgültige Form; denn durch ihn bot sich mir als Partner für die Altstimme die Zartheit und Durchsichtigkeit eines Kammerorchesters an. Nichts konnte besser zu diesem Text passen — dieser epischen Dichtung in unendlich knapper und feinfühliger Wiedergabe, ganz in Schattierungen, sogar in der Rauhheit der kriegerischen Szenen. Das kleine Orchester konnte dieser Stimmung gerecht werden, ohne Gefahr zu laufen, sie schon allein durch die Masse der Musiker zu erdrücken. Was die Form anbelangt, so war die Aufteilung in Bilder, die ich in Le Vin herbé vorgenommen hatte — ohne den Text von Bédier zu verändern — bei Rilke von vornherein vorhanden, vom Dichter selbst noch klarer, noch entschiedener durchgeführt. Das Problem der deutschen Sprache wurde durch die enge Zusammenarbeit mit meiner Frau gelöst, für die sie eine zweite Muttersprache ist. So haben wir oft darüber diskutiert und gemeinsam die Wichtigkeit, die Dauer und die relative Höhe der verschiedenen Silben des Textes festgelegt, wie auch all diese immer so feinen, oft schwierigen und flüchtigen Abstufungen im Ausdruck, die den Zauber Rilkes ausmachen.
Über die Musik kann ich nur sagen, dass ich versucht habe, für jedes Bild eine musikalische Form zu finden, die so weit wie möglich der literarischen Form entspricht und die außerdem die Eigenart jedes einzelnen Fragments bewahrt, ob es sich um eine einfache Erzählung, eine Beschreibung, einen lyrischen Ausbruch oder um die Vertiefung innerster Gefühle handelt. […] Ein Jahr in der Gesellschaft dieses Textes gelebt zu haben, dabei Wort für Wort in ihn einzudringen, all seine Feinheiten und die Tiefe dieser Gefühle mitzuempfinden, mehr noch, diesen Text immer wieder neu erlebt zu haben — das bedeutet für mich mehr als die Erinnerung an eine fesselnde Arbeit und einen geistigen Genuss; es ist, als ob dieser Text ein Teil meines Lebens geworden wäre. Es ist mein innigster Wunsch, dass ein paar Menschen in meiner Musik etwas von dem finden mögen, was Rilkes Dichtung mir gegeben hat."
An anderer Stelle beschreibt Martin, wie er merkte, dass das neue Werk "notwendigerweise eine Orchesterbegleitung verlangte. Der Stoff schien mir die Verwendung eines Chors auszuschließen, und so blieb ich meiner ersten Idee treu, das ganze für eine Singstimme allein zu schreiben. Ich wollte damit der Interpretation eine vollkommene Einheitlichkeit verleihen und dem Werk Rilkes den Charakter der Erzählung erhalten, den Charakter einer 'chanson de geste', die ein Trouvère rezitiert. Auf diese Weise konnte ich den theatralischen Eindruck vermeiden, den ein Wechselgespräch mehrerer Singstimmen unfehlbar hervorrufen muss. Dieses kurze epische Gedicht besteht aus rund zwanzig Gesängen, von denen jeder seine eigene Farbe, seinen besonderen Rhythmus hat. Es bewahrt sogar in der Schilderung der brutalen Rohheiten des Krieges eine unglaubliche Sensibilität. Diese Sensibilität ist so überfeinert, dass ich mich oft fragte, ob die Musik überhaupt fähig sei, allen Schwingungen der Rilkeschen Gedanken und den zarten Linien seines Ausdrucks zu folgen. Ich habe mich nach Kräften bemüht, mich an die Dichtung anzulehnen, und beständig versucht, eine musikalische Form zu erreichen, die das Porträt der literarischen Form sein würde."

Anschließend an den Cornet schrieb Martin 1943 die Musik zum Ballett Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943, die erstmals bei den Aufführungen auf dem Basler Münsterplatz vom 27. Mai bis zum 10. Juni 1943 erklang. Dann nahm er sofort, durch die Arbeit mit dem Cornet ermutigt, das nächste deutschsprachige Projekt in Angriff: die Sechs Monologe aus Jedermann (1943-44) nach Hofmannsthal, die am 6. August 1944 in Gstaad durch den Bariton und Widmungsträger Max Christmann mit dem Komponisten am Klavier zur Uraufführung kamen (1949 legte Martin dann noch die beliebte Orchesterfassung der Jedermann-Monologe nach).
Der Ausbruch einer schweren Erkrankung war die Urache dafür, dass die Sängerin Elisabeth Gehri, für die Martin den Cornet gedacht hatte, dieses Werk, an dem ihr so viel lag, niemals öffentlich vortragen konnte. Bei der Uraufführung von Der Cornet am 14. Mai 1945 in Basel wurde die Altistin Elsa Cavelti vom Basler Kammerorchester unter Paul Sacher begleitet, und in kurzer Zeit folgten viele weitere erfolgreiche Aufführungen des außergewöhnlichen Werks.
Höchst aufschlussreich ist es, Martins wundervolles Werk in der Gegenüberstellung mit der unvollendet gebliebenen Vertonung desselben Gedichts, dem 1944 in Terezín entstandenen letzten Werk von Viktor Ullmann (1898-1944), der in Auschwitz zu Tode kam, zu hören (Partitur und Stimmen von Ullmanns Melodram Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke für Sprechstimme und Orchester sind beim Verlag Schott erhältlich). Welch unterschiedliche Tonsprachen doch mit einem solch spezifischen literarischen Meisterwerk zu überzeugender Ausdruckseinheit zu verschmelzen imstande sind!
Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com) zu beziehen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2004.

Frank Martin
(b. Geneva, 15 September 1890 — d. Naarden [the Netherlands], 21 November 1974)

‘Der Cornet’ (1942-43)

for alto solo (or baritone solo) and chamber orchestra

after Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke
by Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Preface
Frank Martin was one of the most distinguished Swiss composers of all times and probably, along with Arthur Honegger, the supreme representative of his métier in French-speaking Switzerland. His large-scale vocal works in particular place him among the most remarkable composers of the twentieth century. His compositions include two operas, Der Sturm after Shakespeare’s The Tempest (1952-4, premièred in Vienna on 17 June 1956) and Monsieur de Pourceaugnac after Molière (1960-62, premièred in Geneva on 23 April 1963); the oratorios Le Vin herbé on the Tristan legend (1938-41), In terra pax (1944-5), Golgotha (1945-8) and Le Mystère de la Nativité (1957-9); and a setting of the Requiem (1971-2). Some of these works have long been extraordinarily popular, and the number of performances, especially of Golgotha, continues to increase a full thirty years after his death. His instrumental music likewise places him among the outstanding figures of his day, and a large number of his works have become a living part of the international concert repertoire. Several of his compositions, including the one in the present volume, will appear for the first time in miniature score in the Repertoire Explorer series.

Having finished Le Vin herbé for twelve solo voices, seven strings and piano, and having just completed his Cantate pour le 1er août, an occasional piece for chorus and organ or piano (1941), Martin embarked on one of his major creations, Der Cornet. Its genesis is recounted in his posthumously published memoirs A propos de ...: Commentaires de Frank Martin sur ses oeuvres (ed. by Maria Martin, Neuenburg, 1984):
"In 1942 I was looking for a text to serve as the basis for a song cycle with piano accompaniment when my wife [Maria] drew my attention to Rilke’s exquisite prose-poem Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. This work is hardly known among French-speaking readers; it is virtually untranslatable, and the translations one finds in bookshops even go so far as to disfigure it. I was excited by Rilke’s novella — so powerful, and yet so concise and tender — from my very first reading. Yet initially I rejected it as being inconsistent with my intentions: a suite of more than twenty songs — wasn’t that a bit much? Besides, Rilke’s novella, though divided into short scenes, has an epic plot; it depicts interlocking events rather than the unfolding of an emotion, which I considered to be the essential literary prerequisite for a song cycle. Finally I was afraid to set a text in a language not my own, as it has always been my precept in any vocal piece to reproduce the exact form and expression of the words.
"But the urgency and the magic of Rilke’s book shattered my resistance. My encounter at that time with Elisabeth Gehri, and the possibility of gaining her as a performer, convinced me to abandon my song cycle and to undertake a more extensive project. My decision was ultimately brought about by Paul Sacher’s words of encouragement [Sacher transformed Martin’s plan into a commission for his Basle Chamber Orchestra], which lent my project its definitive form. Through Sacher, the tenderness and translucency of a chamber orchestra could now pose as a counterfoil to the alto voice. Nothing could have better suited the text — this epic poetry with its infinitely concise and sensitive delivery, where everything, even the brutal scenes of war, is depicted in delicate hues. The small orchestra could due justice to this mood without running the risk of stifling it through the sheer number of musicians. As for the form, the division into scenes that I had undertaken in Le Vin herbé — without altering Bédier’s text — was already given in Rilke’s work, where it was accomplished more clearly and more decisively by the poet himself. The problem of the German language was solved by my close collaboration with my wife, for whom German is a second mother-tongue. We often discussed it; and together we defined the emphasis, duration and relative pitch of the various syllables in the text as well as the ever-refined, often difficult and fugitive gradations of expression that constitute the magic of Rilke.
"All that I can say about the music is that, for each scene, I tried to find a musical form that matched the literary form as closely as possible while preserving the character of each and every fragment, whether a simple narrative, a description, a lyrical outburst or a deepening of innermost emotions. […] To have spent a year living in the company of this text, probing it word by word, feeling all its refinements and emotional depths — nay, to have experienced it anew time and time again: all this means more to me than my recollections of spellbinding labor and intellectual enjoyment. It is as if Rilke’s words had become part of my life. It is my most earnest desire that a few people will find in my music something of what Rilke’s work gave to me."
Elsewhere Martin describes how he noticed that the new work "ineluctably cried out for an orchestral accompaniment. To me, the material seemed to preclude the use of a chorus, and thus I remained true to my initial idea, which was to write the entire piece for solo voice. I wanted to lend perfect unity to the interpretation and to give Rilke’s work the character of a narrative, of a chanson de geste declaimed by a troubadour. This allowed me to avoid the theatrical impression that inevitably arises when several voices alternate in conversation. Rilke’s short epic poem consists of some twenty cantos, each with its own color and special rhythm. It retains an incredible sensitivity even when depicting the brutalities of war. This sensitivity is so ethereal that I often asked myself whether music is capable at all of following all the nuances of Rilke’s thoughts and his delicate lines of expression. I did my utmost to adhere to the poem and constantly tried to attain a musical form that would be a portrait of the literary form."

In 1943, after finishing Der Cornet, Martin wrote the music to a ballet, Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943 ("A Dance Macabre in Basle, 1943"), which was heard for the first time during the performances on Basle’s Münsterplatz from 27 May to 10 June 1943. Encouraged by his work on Der Cornet, he then set out on another project in German, the Sechs Monologe aus Jedermann ("Six Monologues from Everyman," 1943-4) after Hofmannsthal. The new work received its premiere in Gstaad on 6 August 1944, when it was sung by its dedicatee, the baritone Max Christmann, with the composer at the piano. (Martin’s popular orchestral version of the Monologues was added in 1949.)
Owing to the onset of a serious illness, Elisabeth Gehri, for whom Martin had originally conceived Der Cornet and who was so emotionally attached to its music, was never able to sing the work in public. The première, given in Basle on 14 May 1945, was taken by the alto Elsa Cavelti and the Basle Chamber Orchestra, conducted by Paul Sacher. Many other successful performances of this extraordinary piece followed in rapid succession.
It is extremely revealing to compare Martin’s magnificent work with the unfinished setting of the same poem by Viktor Ullmann (1898-1944). Ullmann’s melodrama, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke for narrator and orchestra, was composed in Theresienstadt in 1944 and was his final work before perishing in Auschwitz. (It is available from Schott in full score and parts.) Who could imagine that these contrasting musical idioms would be capable of blending with the same unique literary masterpiece to achieve such convincing unity of expression!
Translation: Bradford Robinson, 2004.

For performance materials please contact the publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com).

Reprint with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2004.