Charles Villiers Stanford
(geb. Dublin, 30. September 1852 — gest. London, 29. März 1924)

Erste Irische Rhapsodie d-moll op. 78 (1902)
Hans Richter gewidmet

Allegro molto (p. 1) - Adagio non troppo (p. 25) - Tempo I (p. 41) - Allegro (p. 59)

Vorwort
Charles Stanford war einer der gefeiertsten und beliebtesten Komponisten der sogenannten 'English Musical Renaissance' des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Charles Hubert Parry (1848-1918) und Edward Elgar (1857-1934) gelang es Stanford, einen unverwechselbar englischen Kompositionsstil zu etablieren, der gewisse Aspekte der deutschen Romantik umfasste, in welche er viele Elemente von Volksliedern und traditioneller Musik der britischen Inseln integrierte.
Als einziges Kind von John James Stanford, einem der damals prominentesten Rechtsanwälte Dublins, und Mary Henn Stanford zeigte Charles im sehr frühen Alter bereits seine außergewöhnliche Begabung für die Musik. Beide Eltern waren weit fortgeschrittene Amateurmusiker, und also erhielt der junge Charles eine gründliche Ausbildung als Pianist, Geiger und Organist und Kompositionsunterricht in Dublin bei Sir Robert Stewart (1825-94), Joseph Robinson (1815-98) und Michael Quarry. Später setzte er in London bei Arthur O’Leary (1834-1919) sein Kompositionsstudium fort. Obwohl sein Vater wollte, dass er eine Karriere als Jurist anstreben sollte, schrieb er sich am Queens College zu Cambridge (von welchem er später ans Trinity College wechselte) im Hauptfach Musik ein, wo er schließlich Stipendien in Orgelspiel und Altphilologie erhielt. 1874 erwarb er den Bachelor of Arts und 1883 den Master of Arts (bald darauf sollte er von den Universitäten in Oxford [1883] und Cambridge [1888] mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet werden). In den Jahren 1874-75 studierte Stanford am Leipziger Konservatorium, wo ihn Carl Reinecke (1824-1910) in Komposition unterwies. Außerdem nahm er bei Friedrich Kiel (1821-85) in Berlin Kompositionsunterricht. Auf diese Weise fing seine langfristige Verbindung mit Deutschland an, wo Stanfords Werke regelmäßig aufgeführt wurden, häufig unter der Leitung des Komponisten.
Stanford erhielt bedeutende akademische Berufungen (1887 als Professor of Music in Cambridge; 1883 als Professor of Composition am Royal College of Music, London), die seine nationale Stellung als Komponisten untermauerten und ihn als einen der führenden Musikpädagogen seiner Zeit bestätigten. Zu den Komponisten, die bei ihm studierten, zählen u. a. Frank Bridge (1879-1941), Ralph Vaughan Williams (1872-1958), Gustav Holst (1874-1934), Eugene Goossens (1893-1962), Herbert Howells (1892-1983) und Arthur Benjamin (1893-1960). Stanfords einstige Studenten beherrschten die Musikabteilungen der englischen Universitäten bis nach dem Zweiten Weltkrieg und waren auch in Australien und den USA äußerst einflußreich.
Stanfords Ruf als Dirigent hob mit seinem Antritt als musikalischer Leiter der Cambridge University Musical Society an, wo er altehrwürdige musikalische Organisationen wiederbelebte und zahlreiche Reformen einführte, unter denen die Aufnahme von Frauen in den Chor die wichtigste war. Während seiner Amtszeit dirigierte Stanford die Society in den englischen Erstaufführungen von Robert Schumanns Szenen aus Goethes Faust und der Altrhapsodie sowie der Ersten Symphonie von Johannes Brahms, und er erweckte längst vergessene Meisterwerke von Henry Purcell und Georg Friedrich Händel zu neuem Leben.
Als Komponist kam Stanford zu erster öffentlichen Anerkennung mit seiner Schauspielmusik zu Tennysons Queen Mary (1876) und seinen frühen Opern The Veiled Prophet (Der verschleierte Prophet, Hannover 1881) und Savonarola (Hamburg 1884). Seine Berühmtheit wuchs mit vielen Aufträgen der örtlichen Musikfestivals in Leeds, Birmingham, Norwich, Hereford und anderen Städten.
Stanford war ein fruchtbarer Komponist in nahezu allen musikalischen Gattungen. Besonders sein symphonisches Schaffen wurde seinerzeit hoch angesehen. So wurde beispielsweise seine Dritte Symphonie, die Irish Symphony, 1888 für das offizielle Eröffnungskonzert des Concertgebouw in Amsterdam ausgewählt, und 1911 kam die Irish Symphony in New York unter Gustav Mahler zur Aufführung.
Heute jedoch ist Stanford in England vor allem für seine Chorsätze anglikanischer Liturgie, für seine Arrangements und Eigenschöpfungen von Volksliedern sowie für seine Kammermusik bekannt. Er war übrigens ganz besonders an der Musik Johann Sebastian Bachs interessiert, und seine Ausgabe der Bachschen Matthäus-Passion war seinerzeit eine bemerkenswerte musikwissenschaftliche Leistung.
Stanford war ein Musiker mit entschiedenen Ansichten und ein gewichtiger Polemiker gegen die moderne Musik. Obwohl ein starker Befürworter der neuen Musik des späten 19. Jahrhunderts, war er weniger zuversichtlich bezüglich der musikalischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Eine besondere Abneigung hatte er gegen die Musik von Richard Strauss und bemerkte einmal zu einem Journalisten: "Jedermann kann im extrem modernen Stil schreiben. Das ist vorwiegend eine Frage der Freizeit, die Sie haben, um viele Noten hinzukritzeln." Nicht zufrieden zu stellen mit bloßen Bekehrungsakten gegen Strauss’ Musik, ließ Stanford seinem groben Witz freien Lauf in der Komposition Ode to Discord (1908), einer wohlbeabsichtigten Parodie der exzessiveren Elemente der Strauss’schen Chromatik und Hypertrophie der Form. Stanfords polemische Schriften über Musik sind in zwei Sammelpublikationen vereint: Studies and Memories (1908) und Interludes, Records and Reflections (1922). Seine Autobiographie Pages from an Unwritten Diary erschien 1914.
1902 erhielt er vom Vereinigten Königreich seinen Adelstitel. Das hohe Ansehen, in welchem er zu Lebzeiten stand, ist dadurch bleibend vor Augen geführt, dass man ihn neben Henry Purcell (1659-95) in Westminster Abbey beisetzte.

Stanford schrieb sechs Irische Rhapsodien für Orchester. Die Dritte ist mit einem Cello-, die Sechste mit einem Geigensolopart geschmückt; die übrigen vier Rhapsodien wurden für Orchester alleine geschrieben. Die Erste Irische Rhapsodie d-moll op. 78 entstand 1902 als Auftragswerk des Norwich Festival und wurde, so des Komponisten Auskunft, von der altirischen Sage von der Liebe zwischen Cú Chulainn und seinem Weibe Emer inspiriert. Stanford widmete das Werk seinem Freunde Hans Richter (1843-1916), dem legendären Dirigenten des Hallé Orchestra in Manchester. Zur Uraufführung kam die Erste Irische Rhapsodie am 23. Oktober 1902 in Norwich, und bald war sie eine der meistgespielten Kompositionen Stanfords — eine Tatsache, die, so sagt man, Stanford später noch bedauern sollte.
Das einsätzige Stück entnimmt sein thematisches Material den zwei traditionellen irischen Volksliedern Leatherbags Donnell und Emer’s Farewell to Cú Chulainn (letzteres ist auch bekannt als Londonderry Air oder, gebräuchlicherweise, als Danny Boy). Das Werk ist als dreiteilige Form (Allegro molto - Adagio - Allegro) mit Coda gegliedert. Vom kompositorischen Standpunkt aus betrachtet ist es weniger rhapsodisch als variativ in der Form. Stanford schöpft seine zwei Hauptthemen sowohl augmentativ als auch diminutiv aus, und im Schlußteil kombiniert er die beiden und fragmentiert sie auf eine eher sonatenform-artig entwickelnde Weise. Von einem rein architektonischen Blickwinkel aus würde man diese Rhapsodie am besten als großformatigen, spätromantischen symphonischen Satz in erweiterter Sonatenform beschreiben. Stilistisch kann man das Werk als in starker Übereinstimmung mit ähnlich gelagerten Kompositionen von Antonín Dvorák (1841-1904), Johannes Brahms (1833-97) oder Robert Schumann lokalisieren.
Stanford selbst hat 1916 eine Plattenaufnahme seiner Ersten Irischen Rhapsodie dirigiert. 1974 wurde der erste Teil derselben von Pearl Records auf LP veröffentlicht. Bis heute ist diese Aufnahme nicht auf CD wiederveröffentlicht worden, und es ist zu vermuten, dass einige der originalen Master Discs von der damaligen Aufnahme verloren gegangen sind.
Übersetzung: Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Stainer & Bell, London, (www.stainer.co.uk) zu beziehen.

Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, 2004.

Sir Charles Villiers Stanford
(b. Dublin, 30 September 1852 – d. London, 29 March 1924)

Irish Rhapsody No. 1 in D minor, Op. 78 (1902)
To Hans Richter

Allegro molto (p. 1) - Adagio non troppo (p. 25) - Tempo I (p. 41) - Allegro (p. 59)

Preface
Charles Stanford was one of the most celebrated and popular composers of the so-called “English Musical Renaissance” of the late 19th and early 20th centuries. Along with C. Hubert Parry (1848-1918) and Edward Elgar (1857-1934), Stanford helped to establish a unique English style of composition that embraced certain aspects of German romanticism while incorporating many features of folksongs and traditional music from the British Isles.
The only child of John James Stanford, one of the most prominent lawyers in Dublin at the time, and Mary Henn Stanford, young Charles displayed an enormous talent for music at an early age. Both parents were accomplished amateur musicians, and young Charles received thorough training in piano, violin and organ and received tuition in composition from Sir Robert Stewart (1825-94), Joseph Robinson (1815-98) and Michael Quarry in Dublin. Later on Stanford studied composition with Arthur O’Leary (1834-1919) in London. Although his father wanted him to pursue a career in law, Stanford majored in music at Queens’ College (later transferring to Trinity College) in Cambridge where he received scholarships in both organ and classics, ultimately. Stanford received the B.A. in 1874 and the M.A. in 1883, and was later awarded honorary doctorate from both Oxford (1883) and Cambridge (1888). In the period 1874-75, Stanford studied at the conservatory in Leipzig where his composition professor was Carl Reinecke (1824-1910). He also studied composition under Friedrich Kiel (1821-1885) in Berlin. This began a long association with Germany where Stanford’s compositions were frequently performed, often with the composer himself conducting.
Stanford received important academic appointments (Professor of Music, Cambridge, 1887; Professor of Composition, The Royal College of Music, 1883) which solidified his national importance as a composer and established him as one of the leading musical pedagogues of his time. Stanford’s students included Frank Bridge (1879-1941), Ralph Vaughan Williams (1872-1958), Gustav Holst (1874-1934), Eugene Goossens (1893-1962), Herbert Howells (1892-1983), and Arthur Benjamin (1893-1960) among others. Stanford’s students dominated music departments in English universities until after the Second World War and were extremely influential as well in Australia and the United States.
Stanford’s reputation as a conductor began with his appointment as conductor of the Cambridge University Musical Society, where he revitalized a long-lived musical organization and initiated numerous reforms, chief among them the inclusion of women in the chorus. During his tenure with the society, Stanford conducted the first English performances of Robert Schumann’s Szenen aus Goethes Faust and Johannes Brahms’ Alto Rhapsody and the First Symphony, and revived long-forgotten masterpiece by Henry Purcell and George Frideric Handel.
As a composer, Stanford first gained public prominence with his Incidental Music for Tennyson’s Queen Mary (1876) and his early operas The Veiled Prophet (Hanover, 1881) and Savonarola (Hamburg, 1884). His reputation was further secured by his many commissions for provincial music festivals in Leeds, Birmingham, Norwich, Hereford and other cities.
Stanford was prolific in virtually all genres of musical composition. His symphonic works were especially well regarded during his lifetime. For example, his Irish Symphony (No. 3) was performed at the inaugural concert of the Concertgebouw in 1888 and was also conducted by Gustav Mahler with the New York Philharmonic in 1911.
Today, however, the composer is best known for his settings of music for the Anglican liturgy, his original and arranged folksongs, and his chamber music. Additionally, Stanford was particularly interested in the music of Johann Sebastian Bach, and his edition of the St. Matthew Passion was a remarkable musicological achievement for its day.
Stanford was a musician of strong views and a forceful polemicist against modern music. Although Stanford was a strong proponent of the “new” music of the late 19th century, he was less sanguine about 20th century musical developments. He particularly disliked the music of Richard Strauss and once remarked to a journalist: “Anyone can write in the extreme modern style. It’s largely a matter of having enough spare time to write lots of notes.” Not content with merely proselytizing against Strauss’ music, Stanford displayed his savage wit in his composition Ode to Discord (1908), a deliberate parody of the more excessive elements of Straussian chromaticism and hypertrophic form. Stanford’s polemical writings about music are contained in two compilations, Studies and Memories (1908) and Interludes, Records and Reflections (1922). His autobiography, Pages from an Unwritten Diary was published in 1914.
Stanford was knighted in 1902. The high esteem in which he was held during his lifetime is demonstrated by the fact that he was buried next to Henry Purcell (1659-1695) in Westminster Abbey.

Stanford composed six Irish Rhapsodies for orchestra. The third and sixth have cello and violin solos respectively, while the other four were composed for orchestra alone. The Irish Rhapsody No. 1 in D minor, Op. 78 was composed in 1902 for the Norwich Festival and was inspired, according to the composer, by the ancient Irish legend of the love between Cuchullin and his wife Emer. The work was dedicated to Stanford’s friend, Hans Richter (1843-1916), the conductor of the Hallé Orchestra in Manchester. The composition received its premiere in Norwich on 23 October 1902 and was one of the most often performed of Stanford’s works, a fact that the composer was said to have regretted in later life.
The single-movement work takes as its thematic material two traditional Irish folksongs, Leatherbags Donnell and Emer’s Farewell to Cuchullin (also known as Londonderry Air or more familiarly as Danny Boy). The work is structured in tripartite form (Allegro molto-Adagio-Allegro) with a coda. Compositionally speaking, the work is less rhapsodic than variational in form. Stanford explores his two major themes in both augmentation and diminution, and in the final section combines both themes and presents them in fragments in a more sonata form-like developmental mode. From a purely architectonic standpoint, the Rhapsody can be best described as a large-scale late Romantic symphonic movement in extended sonata form. Stylistically, the work can be seen to be very much in synch with similar compositions by Antonín Dvorák (1841-1904), Johannes Brahms (1833-97) and Robert Schumann.
Stanford himself conducted a recording of the Rhapsody in 1916. In 1974 the first part of the recording was released on LP by Pearl Records. To date, the recording has not been re-released on CD, and it is believed that some of the original master discs from the recording session are now lost.
William Grim, 2004.

For performance materials please contact the publisher Stainer & Bell, London (www.stainer.co.uk).

Reprint of a copy from the music library archives of the Münchner Stadtbibliothek, 2004.