Milij Balakirev
(geb. Nishnij-Novgorod, 21. Dezember 1836/2. Januar 1837 — gest. St. Petersburg, 29. Mai 1910)

»Islamey«
Orientalische Fantasie (1869)

orchestriert im Jahre 1912 von
Sergej Liapunov
(geb. Jaroslavl, 30. November 1859 — gest. Paris, 8. November 1924)

Vorwort
Von seinem Sommerurlaub 1868 im Kaukasus hatte Milij Balakirev einige frisch notierte Volksweisen mitgebracht. Die im Kaukasus als 'Islamey' bekannte Weise freilich, die Balakirev im Jahr darauf als Hauptthema seiner gleichnamigen Komposition verwenden sollte, hat er wahrscheinlich schon während einer Kaukasus-Reise im Jahre 1863 aufnotiert, ist die originale 'Islamey' doch ein kabardischer Tanz aus dem Nordkaukasus, und sämtliche anderen nordkaukasischen Melodien stammen von jener früheren Reise. Das Thema des langsamen Mittelteils seiner Islamey ist eine tatarische Melodie von der Krim, die Balakirev im Sommer 1869 im Hause Pjotr Tschaikowskys in Moskau aus dem Munde des armenischen Schauspielers de Lazar vernommen hatte. (Die Informationen zur Originalfassung für Klavier sind der Standard-Monographie von Edward Garden Balakirev. A Critical Study of his Life and Music, London 1967, entnommen.)
Balakirev begann mit der Komposition seiner Fantaisie Orientale »Islamey« für Klavier am 9./21. August 1869 (das frühere Datum entspricht dem damals im Bereich der Ostkirche gebräuchlichen Kalender, das spätere dem heute allgemein gültigen, gregorianischen). Während der Entstehung spielte er das Werk mit Tschaikowsky durch, der die Basspartie übernahm. Vollendet wurde Islamey nach wenig mehr als einem Monat am 13./25. September in St. Petersburg, dem Autograph zufolge abends um halbzehn. Sofort schickte Balakirev das Stück an den großen Pianisten Nikolai Rubinstein (1835-81; Bruder von Anton Rubinstein). Tschaikowsky schrieb am 2./14. Oktober an Balakirev: "Deine armenisch-georgisch-jerichoische Fantasie [Balakirev pflegte Moskau 'Jericho' zu nennen] ist eingetroffen, und Rubinstein spielt sie tagtäglich am Konservatorium durch." Und Rubinstein ließ den Komponisten wissen: "Ich arbeite — armer, elender Tropf, der ich bin — an Deinem Stück, welches mich mit schrecklicher Wonne erfüllt, und wofür ich Dir danke; ich werde es jedenfalls in meinem Moskauer Konzert spielen; aber es ist so schwer, dass nur wenige damit zurecht kommen werden; ich will einer dieser wenigen sein."
Nikolai Rubinstein brachte Islamey am 30. November/12. Dezember 1869 im 'Freien Schul-Konzert' in Moskau zur Uraufführung. Alexander Borodin berichtete: "Der Saal war voll, und es gab große Ovationen für Rubinstein und für Balakirev, dessen Stück übrigens klar nicht den Publikumsgeschmack traf. Die Mehrheit war verdutzt angesichts dieser östlichen Fantasie und verstand nichts davon. Dieses Stück ist nun tatsächlich ziemlich lang und durcheinander; die technische Seite ist zu offensichtlich; sogar Balakirevs Bewunderer geben das zu. Es ist schade, aber da kann man nichts machen." Islamey sollte in seiner schaurigen Virtuosität schnell Balakirevs weithin erfolgreichstes Werk werden, vorgetragen von Rubinstein in Paris und anderen westlichen Metropolen, und bald auch häufig aufgeführt von Franz Liszt. Tschaikowsky hatte Balakirev in Moskau mit seinem Verleger Pjotr Jurgenson (1836-1904) bekanntgemacht, der das neue Werk annahm. 1870 erschien Islamey bei Jurgenson mit der Widmung an Nikolai Rubinstein im Druck.

Eine erste Orchestration von Islamey unternahm 1907 mit erheblicher Virtuosität Alfredo Casella (1883-1947). Balakirev und Alexander Siloti waren begeistert und gaben ihre Empfehlung an Jurgenson. Nachdem Balakirev noch zwei Änderungen durchgesetzt hatte, erschienen Partitur und Stimmen von Islamey in Casellas Orchestration 1908 mit Widmung an Siloti beim Hamburger Verlag Rahter (heute Boosey & Hawkes/Benjamin) im Druck, und Anfang Mai 1908 kam diese Fassung in Paris unter Casellas Leitung zur Uraufführung. Die russische Erstaufführung in den Siloti-Konzerten am 10. Oktober 1909 leitete Alexander Siloti.

Sergej Liapunov, Freund und Schüler Balakirevs und Professor am St. Petersburger Konservatorium, orchestrierte Islamey Anfang 1912, nach dem Tode seines Meisters. Laut autographer Angabe vollendete er die revidierte Partitur am 6. Juli 1912. Er schrieb seine Orchestration als Ballett für das Kaiserliche Theater (Marinskij) zu St. Petersburg anlässlich einer Benefizveranstaltung für den russischen Schriftstellerfond, nachdem die Witwe Nikolai Rimsky-Korsakovs nicht genehmigt hatte, dessen Scheherazade als Ballettmusik zu verwenden. Da Islamey als Musik geeignet erschien, um auf der Bühne ein ähnliches Thema zu behandeln, bat man Sergej Liapunov um eine Orchestration. Dieser war spontan gegen eine solche "Entweihung", fand dann aber doch Geschmack daran. Die Uraufführung fand am 10. März 1912 im St. Petersburger Marinskij-Theater statt, in der Choreographie von M. Fokine und mit Dekorationen des Malers Anisfelda, mit folgenden Tänzern in den Hauptrollen: Gerdt (der Scheich), Karsavina [später Fokina] (seine Frau), Fokine [später Romanov] (ihr Liebhaber). Das Ballett Islamey war zunächst äußerst erfolgreich und ging sofort ins ständige Repertoire ein. Partitur und Stimmen erschienen 1914 bei Jurgenson im Druck. (Danach hat noch der Dirigent Franz Schalk [1863-1931] eine Orchestration von Islamey präsentiert, für die sich später Lovro von Matacic [1899-1985] einsetzen sollte.)

Über die Handlung des Balletts schrieb M. Fokine in einem Brief vom 2. Mai 1925, sie stamme aus '1001 Nacht': Die Frau des Scheichs schüttet diesem ein Schlafpulver in den Wein. Er durchschaut ihre List, schüttet den Wein in einem unbeobachteten Moment weg und tut so, als ob er einschliefe. Sie verbirgt den Schlafenden hinter einem Vorhang und empfängt ihren Liebhaber. Als die beiden auf dem Höhepunkt ihres Liebesakts anlangen, springt der Sultan, der alles mitangesehen hat, hervor und tötet den Liebhaber. Die Frau stürzt sich in ihrer Angst aus dem Fenster in die Schlucht.
Über die Szene schreibt Fokine, dass sie vorwiegend aus Tänzen der Haremsfrauen und junger Sklaven bestand. Sobald der Sultan erscheint, sind die Massen in Schrecken versetzt. Es ist ein äußerst bewegtes und farbenreiches Ballett, sei aber leider zu kurz (nur sieben Minuten), weshalb sich die Eindrücke überstürzten und es hieß, man müsse es mehrmals gesehen haben, um zu verstehen, was überhaupt vor sich geht.
Christoph Schlüren, 2004.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Forberg / Jurgenson, Bonn zu beziehen.

 

Mily Balakirev
(b. Nizhny-Novgorod, 21 December 1836/2 January 1837 — d. St. Petersburg, 29 May 1910)

»Islamey«
Oriental Fantasy (1869)

orchestrated in 1912 by
Sergey Liapunov
(b. Yaroslavl, 30 November 1859 — d. Paris, 8 November 1924)

Preface
Mily Balakirev returned from his summer vacation in the Caucasus in 1868 with a number of recently notated folk melodies. One these melodies was widely known in the Caucasian mountains as ‘Islamey’. The fact that Balakirev would use this tune the following year as the main theme of his composition of the same name, makes it likely that he had already notated the theme during a Caucasus trip in 1863. The original ‘Islamey’ is actually a Kabardian dance from the North Caucasus, and all of the other North Caucasian melodies date from that earlier trip. The theme of the slow middle section of his Islamey is a Tartar melody from the Krim, which Balakirev took directly from the mouth of the Armenian actor de Lazar in Tchaikovsky’s house in Moscow in the summer of 1869. (Information on the original edition for piano is from the standard monograph by Edward Garden, Balakirev: A Critical Study of his Life and Music, London, 1967.)
Balakirev began composing his Fantaisie Orientale ‘Islamey’ for piano on August 9/21, 1869. (The earlier date represents the Orthodox calendar, the latter is the now universal Gregorian date.) During the work’s composition he played through the work with Tchaikovsky, who played the left-hand parts. Islamey was completed in less than a month on September 13/25 in St. Petersburg, at 9:30 in the evening, according to the autograph manuscript. Balakirev immediately sent the piece to the great pianist Nikolai Rubinstein (1835-81, brother of Anton Rubinstein). Tchaikovsky wrote on October 2/14 to Balakirev: "Your Armenian—Georgian—Jericho fantasy [Balakirev used to call Moscow “Jericho”] has been received, and Rubinstein is already playing it through every day at the conservatoire." Rubinstein let the composer know, "I am working, poor wretched fellow that I am, at your piece, which fills me with terrible delight, and for which I thank you; I shall certainly play it at my concert in Moscow; but it is so difficult that few will cope with it; I want to be one of those few."
Nikolai Rubinstein premiered Islamey on November 30/December 12, 1869 in the “Free School Concert” in Moscow. Alexander Borodin reported: "The hall was full and there were great ovations both for Rubinstein and for Balakirev, whose piece, by the way, was clearly not to the public’s taste. The majority were perplexed by this eastern fantasy and understood none of it. This piece of music, anyway, is actually rather long and confused; the technical side is too obvious; even Balakirev’s admirers admit this. It’s a pity, but there is nothing to be done." Islamey quickly became Balakirev’s most successful work by far with its frightening virtuosity, performed by Rubinstein in Paris and other western metropoli, and soon thereafter was often performed by Franz Liszt. Tchaikovsky had introduced Balakirev to his publisher in Moscow, Peter Jurgenson (1836-1904), who took on this new work. Islamey appeared in print in 1870 by Jurgenson with a dedication to Nikolai Rubinstein.
Alfredo Casella undertook a first orchestration of Islamey in 1907 with substantial virtuosity. Balakirev and Alexander Siloti were enthusiastic about the work and gave their recommendation to Jurgenson. After Balakirev had pushed through two corrections, the score and parts to Casella’s orchestration (1908) were published by the Hamburg Publisher, Rahter, (which today is Boosey & Hawkes/Benjamin) with a dedication to Siloti. This edition was premiered the beginning of May, 1908 under Casella’s direction. The Russian premiere was conducted by Alexander Siloti on October 10, 1909 in the “Siloti Concerts.”

Sergey Liapunov, friend and student of Balakirev and professor at the St. Petersburg Conservatory, orchestrated Islamey during the beginning of 1912, after the death of his master. According to primary sources, he completed the edited score on July 6, 1912. He wrote his orchestration as a ballet for the Royal Theater (Marinsky) of St. Petersburg for a benefit performance for the Russian novelist fund, after Nicolai Rimsky-Korsakov’s widow denied the use of Scheherazade as ballet music. Since Islamey seemed to be perfect, as it is based on the same theme, Sergey Liapunov was requested for an orchestration of the work. He was initially against such a “defilement” of the piece, but later found a sense of taste in the project. His orchestration was premiered on March 10, 1912 in the St. Petersburg Marinsky Theater, with choreography by M. Fokine and with stage decoration by the painter Anisfelda. The following dancers were principals: Gerdt (the Sheik), Karsavina [later Fokina] (his wife), Fokine [later Romanov] (her lover). The ballet Islamey was initially a huge success and immediately became part of the standard repertoire. The score and parts were published by Jurgenson in 1914. (Afterwards the conductor Franz Schalk presented an orchestration of Islamey, which was later conducted by Lovro von Matacic [1899-1985].)

M. Fokine described the plot of the ballet in a letter from May 2, 1925 as derived from “1001 Nights”: The wife of the Sheik puts sleeping powder in her husband’s wine. He sees through her deceitful plan, pours his wine out when she isn’t watching, and pretends to sleep. She conceals her sleeping husband behind a curtain and receives her lover. As the two climax during their lovemaking, the Sultan, who has seen everything, jumps up and kills his wife’s lover. The wife, in fear, throws herself out of the window into the ravine.
Fokine described the scenes as consisting mainly of dances for the harem girls and young slaves. As soon as the Sultan appears, the masses are set into terror. It is an unusually moving and colorful ballet, which is unfortunately too short (only seven minutes long). Due to the brevity of the ballet, one’s impressions are hurried, which means that one must see the ballet several times in order to understand at all what has taken place.
Translation: Sara Heimbecker, 2004.

For performance materials please contact the publisher Forberg / Jurgenson, Bonn.