Edmund von Borck
(geb. Breslau, 22. Februar 1906 - gest. bei Nettuno, 4. Februar 1944)

Thema, Variationen und Finale für Orchester op. 16 (1935-36)

Thema. Lento p. 3
I. Variation. Molto vivace p. 10
II. Variation. Adagio p. 22
III. Variation. Allegro risoluto - Più mosso p. 25
IV. Variation. Andante (ruhig fließende Achtel) p. 40
Finale. Allegro vivace - Maestoso - Tranquillo - (stringendo al) Assai vivo p. 46

Vorwort
Edmund von Borcks allzu früher Tod als Soldat bei den Gefechten um den Landekopf Nettuno in Italien bedeutete — ähnlich dem Freitod Hugo Distlers 1942 und dem ungeklärten Schicksal Heinz Schuberts kurz vor Kriegsende 1945 in Mecklenburg — einen der eminentesten Verluste für die deutsche Musik. Nach dem Zeugnis Hans Gressers (in der einzigen Monographie über den Komponisten: Hans Gresser, Edmund von Borck. Ein Fragment, Laumann-Verlag Dülmen 1989, ISBN 3-87466-127-X), sagte von Borck bei der ersten Begegnung der beiden im Sommer 1942 in Breslau: "Ich stehe irgendwo zwischen Hindemith und Alban Berg."
Als Komponist war Edmund von Borck freilich ein Einzelgänger, der sich auf keine überragende Lehrerfigur berufen sollte. In Breslau hatte er mit dem 1891 geborenen Musikwissenschaftler und Schlagerkomponisten Ernst Kirsch Komposition und bei Bronislaw von Pozniak (1887-1953) Klavier studiert. Dann ging er in Berlin bei Julius Prüwer (1874-1943) als Dirigent in die Lehre. 1930 nahm er ein Engagement als Dirigent an der Frankfurter Oper an, und schnell folgten Verpflichtungen als Gastdirigent bei führenden Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw Orkest in Amsterdam oder dem Augusteum-Orchester in Rom. Doch zog er sich bald weitgehend vom Dirigieren zurück und wendete sich fast ausschließlich der Komposition zu, wo er seinen Durchbruch mit der sehr erfolgreichen Uraufführung der Fünf Orchesterstücke op. 8 auf dem Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) am 13. Juni 1933 in Amsterdam feiern konnte. Dies ist umso erstaunlicher, als er erst zu Beginn der dreißiger Jahre ernsthaft mit dem Komponieren begonnen hatte. Am 28. November 1931 hatte er mit der Uraufführung der Symphonischen Suite aus der gemeinsam mit dem 1908 geborenen Freund Werner Seelig-Bass (der später im amerikanischen Exil den Namen Warner S. Bass führen sollte) komponierten Oper Kommisar Rondart am Pult der Berliner Philharmoniker sein Debüt als Orchesterkomponist gegeben (gefolgt von Bruckners Neunter Symphonie). 1932 war für Sigurd Raschèr (1907-2001) das Konzert für Altsaxophon und Orchester op. 6 (uraufgeführt im selben Jahr beim Musikfest in Hannover durch Raschèr unter Leitung des dortigen Chefdirigenten Rudolf Krasselt [1879-1954]) entstanden. Außer Kammermusik schuf von Borck in der Folge vor allem Orchesterwerke.
Karl H. Wörner hat in Neue Musik in der Entscheidung (Mainz 1954) die Entwicklung des Orchesterkomponisten Edmund von Borck folgendermaßen skizziert: "Die Fünf Orchesterstücke op. 8 gehören der Sphäre des 'vitalen Expressionismus' (Siegfried Borries) an. Die Bändigung der Kontraste erfolgt zunächst im Anschluß an den 'Neu-Barock' deutscher Ausprägung. In opus 10, Präludium und Fuge (1934), bindet sich von Borck an die historisch geprägte Form. Das Konzert für Orchester op. 14 [1935, uraufgeführt am 4. Februar 1936 im Kurzwellensender Berlin, noch im selben Jahr als erstes Werk bei der Universal Edition verlegt und bald international erfolgreich] wendet den linearen, dissonanten Stil ins Musikantische und Spielerische. Polyphone Zweistimmigkeit herrscht vor, das lineare Stimmengefüge ist rhythmisch fließend bewegt. Werk 16, Thema, Variationen und Finale, will die Verschmelzung des bisher Erreichten an der Variationenform des 19. Jahrhunderts abwandeln. [Es folgen (außer dem Concertino für Flöte und Streichorchester op. 15a) bis 1940 Zwei Fantasiestücke op. 17 (beide unter Eugen Jochum uraufgeführt) sowie das Symphonische Vorspiel zur Oper Napoleon op. 18, welches Herbert von Karajan am 12. Oktober 1940 in Aachen aus der Taufe hebt.] Über das Konzert für Klavier und Orchester op. 20 [uraufgeführt im Mai 1941 in Berlin mit dem Solisten Conrad Hansen, der sich auch nach dem Kriege noch für das Werk einsetzte], ein als Solokonzert effektvolles, aber durchaus sinfonisch angelegtes dreisätziges Werk, führt der Weg zu den Orphika op. 21 [postum uraufgeführt am 21. Februar 1949 in Leipzig]. Die Apollinische Transformation für Orchester nach Zeichnungen von Hans Wildermann ist eine sinfonische Dichtung. Der mystisch-philosophische Vorwurf zeigt den Weg der Menschheit von niederen Anfängen zur göttlichen Ordnung und Vergeistigung. Die Umsetzung in Musik erfolgt nur mit musikalischen Mitteln in der Form eines freien Sonatenhauptsatzes. Die Meisterschaft der Disposition ist erreicht." 1943-44 war von Borck mit einer Tragischen Ouvertüre beschäftigt, von welcher nur eine Skizze zum zweiten Thema erhalten geblieben ist. Über die Oper Napoleon op. 18, die am 19. September 1942 in Gera zur Uraufführung kam, schreibt Wörner: "…ein zeitgeschichtliches Bild voll dramatischer Spannung, mit großen Volksszenen, packend von dem revolutionären Ton des Anfangs bis zur Einsamkeit des Schlachtfeldes von Belle-Alliance. […] Als Ganzes beurteilt, ist das Werk der wichtigste Beitrag der jüngeren Generation in Deutschland zur Oper, der an Hindemith anschließt. Die Inspiration von der Passacaglia bis zum Volkslied, der Arie bis zum Hymnus, von der Liebes- bis zur Sterbeszene ist überzeugend."
In Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG, Kassel 1952) schreibt Herbert Hübner: "Stilistisch knüpft v. Borck an die Errungenschaften der vorangegangenen Generation an (deutscher Frühexpressionismus, Hindemith der frühen und mittleren Periode). Es ist eine Musik von sehr ernster Grundhaltung, konzessionslos in ihrer klanglichen Schroffheit und in ihrer rücksichtslosen Stimmführung, getragen von einer eigentümlich massiven Vitalität, die eine rhapsodisch freie, oft sich überstürzende Rhythmik, leidenschaftlich erregte Steigerungen und Kräfteballungen von pathetischer Massigkeit bevorzugt. Der Sinn für den großen dramatischen Linienwurf offenbart sich früh schon in den zahlenmäßig überwiegenden Orchester-Kompositionen […]."
Thema, Variationen und Finale für Orchester op. 16, entstanden 1935-36, wurde am 21. April 1936 beim Dresdner Musikfest durch die Dresdner Philharmonie unter Paul van Kempen zur Uraufführung gebracht. Im selben Jahr noch erschien die Partitur als zweites Werk von Borcks bei der Universal Edition im Druck. Schnell folgten weitere Aufführungen in Vichy, Scheveningen, Berlin (Berliner Philharmoniker unter Carl Schuricht am 12. Oktober 1936), Utrecht, Prag, Amsterdam, Hilversum, Rotterdam, Hamburg, Hannover, Cottbus und Frankfurt. In der oben erwähnten Monographie Edmund von Borck. Ein Fragment bespricht Hans Gresser das Opus 16 ausführlich und weist die Nähe zur symphonischen Form plausibel nach. Er konstatiert u. a.:
"Das Interessanteste und für das Werk Wichtigste ist die Tonfolge des Beginns, vor allem die sich bei Extrahierung von Wiederholungstönen ergebende Folge G - B - C - D - Ges. Sie ist — bei gewissen Veränderungen in der Mitte wie Fortlassen des einen, Vertauschen zweier Töne — das eigentliche Thema des gesamten Werkes […] Derartige 'Urmotive' oder 'Themenkerne' sind in der Literatur sehr zahlreich […] Das charakteristische, scharf hervortretende Intervall ist hier die verminderte Oktave G - Ges."
Die Universal Edition kündigte von Borcks Thema, Variationen und Finale op. 16 in einem Prospekt, mutmaßlich vom Komponisten autorisiert, folgendermaßen an:
"Das Thema wird in Form einer Passacaglia eingeführt, während die vier Variationen […] thematische und rhythmische Bestandteile des Themas verwenden. Das Finale wird mit dem figurierten Thema in den Streichern eröffnet (fugato) und steigert sich zu einem sakralen Höhepunkt, dessen Abgesang die Zusammenkoppelung von fünf in den Variationen und im Finale selbst bereits verwendeten Themen bringt. Die Reprise wird bis zum Schluß in steter Steigerung geführt und findet mit einer furiosen Stretta ihren Abschluß."
Der Kritiker von Den Vooruit, Den Haag, befand 1936 über das Werk: "Geistvoll und fesselnd entwickelt Borck das Thema, wobei auch der Humor zu seinem Recht kommt. Die Behandlung des Orchesters ist von meisterhafter Leichtigkeit und das Klangbild stets klar und durchsichtig. Bewundernswert ist die tiefgründige Entwicklung des Themas!"
Möge die erstmalige Herausgabe der Partitur im Studienformat im Juli 2003 als erste Folge einer umfangreicheren Edmund-von-Borck-Edition wesentlich dazu beitragen, daß diese großartige, vergessene Musik wieder studiert und gespielt wird.
Christoph Schlüren, 2003.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com) zu beziehen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2003.

 

 

Edmund von Borck
(b. Breslau (Wroclaw), 22 February 1906 - d. near Nettuno, 4 February 1944)

Theme, Variations, and Finale for Orchestra Op. 16 (1935-36)

Theme. Lento p. 3
I. Variation. Molto vivace p. 10
II. Variation. Adagio p. 22
III. Variation. Allegro risoluto - Più mosso p. 25
IV. Variation. Andante (calmly flowing eighths) p. 40
Finale. Allegro vivace - Maestoso - Tranquillo - (stringendo al) Assai vivo p. 46

Preface
Edmund von Borck’s premature death as a soldier at the battle for the Nettuno beachhead in Italy counts as one of the greatest losses for German music, comparable to the suicide of Hugo Distler in 1942 and the uncertain fate of Heinz Schubert in Mecklenburg shortly before war’s end in 1945. According to the testimony of Hans Gresser (in the only biography on the composer: Hans Gresser, Edmund von Borck. Ein Fragment, Laumann-Verlag Dülmen 1989, ISBN 3-87466-127-X), von Borck stated during their first meeting in summer of 1942 in Wroclaw: "I stand somewhere between Hindemith and Alban Berg."
It is fair to say that, as a composer, Edmund von Borck was a maverick who never belonged to the lineage of a great teacher. In Wroclaw he studied composition with the musicologist and schlager composer Ernst Kirsch (b. 1891), and piano with Bronislaw von Pozniak (1887-1953). Then he underwent training as a conductor in Berlin under Julius Prüwer (1874-1943). In 1930 he accepted an engagement as conductor with the Frankfurt opera, and there quickly followed stints as guest conductor with leading orchestras such as the Berlin Philharmonic, the Concertgebouw Orkest in Amsterdam and the Augusteum Orchestra in Rome. Nevertheless he soon largely withdrew from conducting and devoted himself almost exclusively to composition, where he was able to celebrate his breakthrough with the very successful premiere of Fünf Orchesterstücke op. 8 (Five Orchestral Pieces) at the music festival of the International Society for Contemporary Music (ISCM) on 13 July 1933 in Amsterdam. This is all the more astounding given that he only took up composing seriously in the early 30’s. On 28 November 1931 he made his debut as an orchestral composer conducting the Berlin Philharmonic with the premiere of the Symphonic Suite from the opera Kommisar Rondart he had composed together with his friend Werner Seelig-Bass (b. 1908; it appears he later went by the name Warner S. Bass whilst in American exile). The programme closed with Bruckner’s Ninth Symphony. In 1932 there appeared the Concerto for Alto Saxophone and Orchestra op. 6 written for Sigurd Raschèr (1907-2001), which was first performed in the same year by Raschèr at the music festival in Hanover under the direction of the chief conductor Rudolf Krasselt (1879-1954). Apart from chamber music, von Borck subsequently composed mainly orchestral works.
In Neue Musik in der Entscheidung ('New Music at the Crossroads', Mainz 1954) Karl H. Wörner sketched the development of the orchestral composer Edmund von Borck in the following manner: "The Fünf Orchesterstücke op. 8 belong to the realm of 'vital expressionism' (Siegfried Borries). The taming of contrasts first took place in the wake of the 'neo-Baroque' style of German provenance. In opus 10, Präludium und Fuge (Prelude and Fugue, 1934), von Borck allies himself with a renewal of the established form. The Konzert für Orchester op. 14 [Concerto for Orchestra, 1935, first performed on 4 February 1936 on Kurzwellensender Berlin, appearing in that same year as his first publication from Universal Edition, and soon internationally successful] transforms the linear, dissonant style into something playful and minstrelesque. Two-part polyphony predominates, the linear interplay of parts moves rhythmically and fluidly. Opus 16, Thema, Variationen und Finale, attempts to modify the blending of the recent stylistic achievements on the basis of the variation form of the 19th century. [There followed (aside from the Concertino for Flute and String Orchestra op. 15a) Zwei Fantasiestücke op. 17 of 1937-38 (Two Fantasy Pieces, both first performed under Eugen Jochum) and the Symphonic Prelude to the opera Napoleon op. 18 of 1940, which was first performed under Herbert von Karajan on 12 October 1940 in Aachen.] From the Concerto for Piano and Orchestra op. 20 [first performed in Berlin in May of 1941 with the soloist Conrad Hansen, who also continued to commit himself to the work after the war], a work of three movements which is effective as a solo concerto but is designed symphonically throughout, the way led to Orphika op. 21 [first performed posthumously on 21 February 1949 in Leipzig]. This Apollinische Transformation für Orchester nach Zeichnungen von Hans Wildermann (Apollonian Transformation for Orchestra on Drawings by Hans Wildermann) is a symphonic poem. The mystical-philosophical dimension of the drawings shows the path of humanity from lowly beginnings to divine order and spiritualization. Its musical realization succeeds through purely musical means in free sonata form. The mastery of the architecture is achieved." In 1943-44 von Borck was busy with a Tragic Overture, from which only a sketch for the second theme is still extant. Concerning the opera Napoleon op. 18, which was first performed in Gera on 19 September 1942, Wörner writes:"…a contemporary picture full of dramatic tension, with grand scenes of the masses, gripping from the revolutionary tone of the beginning until the loneliness of the battlefield of Belle-Alliance. […] Judged as a whole, the work is the most important contribution to opera of the younger generation in Germany following Hindemith. The inspiration from the passacaglia to the folk song, from the aria to the hymn, from the love scene to the death scene, is convincing."
In the standard German encyclopedia Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG, Kassel 1952) Herbert Hübner writes: "Stylistically von Borck builds upon the achievements of the preceding generation (German Early Expressionism, Hindemith of the early and middle periods). It is a music emerging from a very austere essential attitude, without making any concessions in its harsh world of sound and in its ruthless voice-leading, built upon an originally massive vitality which prefers a rhapsodically free, often self-precipitating rhythm, passionately inflamed upsurges and agglomerations of forces in emotive accumulation. The instinct for the great dramatic unity of design is revealed already at an early stage in the orchestral compositions which are the main body of his output […]."
Theme, Variations and Finale for Orchestra op. 16, written from 1935-36, was played for the first time on 21 April 1936 at the Dresden music festival by the Dresden Philharmonic under Paul van Kempen. In the same year the score appeared in print through Universal Edition, being von Borck’s second release from that publisher. There soon followed further performances in Vichy, Scheveningen, Berlin (Berlin Philharmonic under Carl Schuricht on 12 October 1936), Utrecht, Prague, Amsterdam, Hilversum, Rotterdam, Hamburg, Hanover, Cottbus and Frankfurt. In the abovementioned biography Edmund von Borck. Ein Fragment Hans Gresser discusses opus 16 at length and plausibly establishes the work’s close relation to symphonic form. Amongst other things he states:
"The most interesting thing, and for the work the most important, is the tonal progression of the beginning, above all that which appears due to extraction of repeated notes resulting in G - B flat - C - D - G flat. Given a certain flexibility that allows some changes in the middle of the progression, such as the omission of one tone or the swapping of two tones, this tonal progression is the actual theme of the whole work. […] These kinds of 'primal motifs' or 'thematic kernels' are numerous in symphonically conceived music. […] Here the characteristic and clearly dominating interval is the diminished octave G - G flat."
Universal Edition announced von Borck’s Theme, Variations and Finale op. 16 in a pamphlet, probably authorised by the composer, in the following way:
"The theme is introduced in the manner of a passacaglia, whereas the four variations […] employ thematic and rhythmical fragments of the theme. The finale opens with the ornamented theme in the strings (fugato) and intensifies towards a sacral climax, the abgesang of which brings the simultaneous appearance of five themes already presented in the variations and in the finale. The recapitulation moves towards the end with continuous intensification and concludes with a furious stretta."
In 1936 the critic of Den Vooruit, Den Haag, judged the work thus: "Borck develops the theme in a spirited and gripping way, whereby the humour also finds its rightful place. The treatment of the orchestra is of masterly lightness, and the overall sound is always clear and transparent. The profound development of the theme is admirable!"
May the first release of the orchestral score in study format, as the first volume of a more extensive Edmund-von-Borck Edition, lead this magnificent, forgotten music to be studied and performed once again.
Translation: Hereward Tilton, 2003.

For performance materials please contact the original publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com).

Reprint with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2003.