Franz Schreker
(geb. Monaco, 23. März 1878 – gest. Berlin, 21. März 1934)

Die Gezeichneten
(1913-15)
Oper in drei Akten nach einem Libretto des Komponisten

Vorwort
„Mein armer, armer Alex.“ So schrieb die junge und bildschöne Alma Schindler, die bald als Alma Mahler bekannt werden sollte, am 20. November 1901 über Aleander Zemlinsky in ihrem Tagebuch. Wir können ihr Mitleid nur teilen. Seit dem Sommer 1900 war Zemlinsky ihr Kompositionslehrer und ihr wackerer Partner im Vierhändigspielen gewesen. Aus diesem Verhältnis erwuchs eine heiße Liebesaffäre, die beide Beteiligten in einen permanenten Zustand kopflosen Liebesrausches versetzte. Die atemberaubend schöne und glänzende 18jährige Gesellschaftslöwin Alma, die das großbürgerliche Wien mit ihrer offensichtlichen musikalischen Begabung und ihrem gescheiten Gesprächsvermögen in den Bann zog, hatte sich in einen talentierten 30jährigen Musikus von beschränkten finanziellen Mitteln und einem wenig gewinnendem Äußeren Hals über Kopf verliebt. Man lese nur die überhitzten Zeilen ihres Tagebucheintrags vom 9. November 1901: „Heilig ist mir alles an ihm – ich möchte vor ihm knien u[nd] seinen offenen Schoß küssen – alles, alles küssen – Amen!“ Drei Tage später hatte sich jedoch die Hitze deutlich abgekühlt: „Ich bin nicht im Stande auch nur im Geist an Alex zu schreiben - - Ich fühle rein gar nichts zu ihm.“ Was dazwischen passiert war, lässt sich in einem einzigen Namen zusammenfassen: Gustav Mahler. Der Rest ist Geschichte: Alma schickte Zemlinsky einen eiskalt hämischen Brief, der ihn zu einem Aufschrei verletzten Männerstolzes bewog. Am Ende seines zweiten Antwortbriefes konnte er nur stammelnd erwidern: „Was hast du von innerem Reichtum, meinst Du! Habe ich denn nicht auch sonst mehr? Ich bin also furchtbar hässlich?! Also angenommen! Ich danke Gott jetzt dafür, dass ich so bin. Und danke Gott, dass es so viele Mädchen gegeben hat, die über meine Häßlichkeit zu meiner Seele gelangt sind und mir nie ein Wort davon gesagt haben, so dass ich weiß, ich bin trotzdem ein Mensch, von dem man nicht gering deshalb sprechen kann, der noch irgend einen Wert hat [...]“ Armer, armer Alex!

Von diesem vernichtenden emotionalen Schlag sollte sich Zemlinsky nie ganz erholen. Bei Alma stellte sich bekanntlich eine lange und auch zahlenmäßig beachtliche Reihe eroberter Männerherzen ein, zu denen – kaum sechs Monate nach dem Tod Gustav Mahlers im Jahre 1911 – auch das des jungen und schönen Wiener Komponisten Franz Schreker gehörte. Zwischen Zemlinsky und Schreker hatte sich mittlerweile in der Wiener Musikwelt eine starke berufsbezogene Freundschaft entwickelt, die auch das Interesse der beiden Komponisten am Musiktheater reflektierte. Es bestand jedoch zwischen den beiden ein Unterschied: Während Schreker seine eigenen Opernlibretti konzipierte und verfasste, war Zemlinsky diesbezüglich auf die Hilfe anderer angewiesen. So trug es sich im Sommer 1911 zu, dass Zemlinsky seinen Wiener Kollegen um ein Opernlibretto bat, und zwar zu einem Thema, das für ihn eine besondere psychologische Bedeutung besaß: Es sollte „die Tragödie des hässlichen Mannes“ sein.

Schreker machte sich mit Begeisterung an die Arbeit, und es dauerte nicht lange, bis das fertige Libretto vorlag: Die Gezeichneten, nach einer frei erfundenen Handlung, die sich im Italien der Renaissancezeit abspielt. Beim Verfassen des Operntextes jedoch wimmelte es in Schrekers Kopf von musikalischen Einfällen, die eine eigene Vertonung nahe legten. Schließlich verspürte er zu seinem Text eine persönliche Verbindung solchen Ausmaßes, dass er zu der Ansicht kam, er müsse das Werk selber komponieren: „Nun muß ich freimütig gestehen: je weiter die Arbeit gedieh, um so verhaßter, unerträglicher wurde mir der Gedanke, nicht ich, ein anderer solle die Musik dazu schreiben, eine Musik, die in mir bereits feste Umrisse, Gestalt gewann. Und es war mir, als gäbe ich dem andern mit der Dichtung zugleich mein musikalisches Selbst, als verschacherte ich damit mein Inneres, meinen Lebensnerv. Und ich nahm mir vor, um das Buch zu kämpfen. Es war nicht notwendig. Mein Kollege in Apoll war ein einsichtsvoller Mann und verstand mich, ohne daß ich vieler Worte bedurft hätte.“

Zemlinsky gab also großzügig nach. (Später komponierte er allerdings doch eine halbautobiographische Oper zur gleichen Thematik: Der Zwerg (1922), eine „Tragödie des hässlichen Mannes“ nach der reißerischen Erzählung Geburtstag der Infanta von Oscar Wilde).

Als Schreker im Frühjahr 1913 mit der Vertonung der Gezeichneten anfing, hatte er 1912 bereits mit der Frankfurter Uraufführung des Fernen Klangs einen fulminanten Erfolg erzielt, der ihn mit einem Schlag ins künstlerische Rampenlicht der mitteleuropäischen Opernwelt versetzt hatte. Getragen von dieser Welle plötzlichen Ruhmes schrieb er die Partitur zu den Gezeichneten relativ rasch, wobei der Kompositionsentwurf im Frühsommer 1914 bereits vorlag. Bis dahin hatte er der neugierigen Wiener Musiköffentlichkeit sogar einen Vorgeschmack auf die neue Oper gegeben: Da er von den Wiener Philharmonikern beauftragt wurde, ein neues Orchesterwerk zu komponieren, entschloss er sich, aus der bereits fertig entworfenen Ouvertüre zu den Gezeichneten ein längeres Orchesterstück zu schaffen, das etwa wie die Drei Fragmente aus Wozzeck oder die Lulu-Suite Alban Bergs die zusätzliche Aufgabe erfüllen sollte, Reklame für die neue Oper zu machen. Das 20minütige Werk mit dem Titel Vorspiel zu einem Drama wurde Ende Herbst 1913 vollendet und am 8. Februar 1914 von den Wiener Philharmonikern unter Felix Weingartner uraufgeführt. Mit dieser Rückenstärkung machte sich Schreker an die schwierige Aufgabe der Orchestrierung der Oper, die er zwischen Juli 1914 und dem 23. Juni 1915 mit außerordentlicher Sorgfalt und bemerkenswertem klanglichen Feingefühl ausführte.

Selbst vor der Fertigstellung der Partitur wurden Mitte 1914 Verhandlungen mit Bruno Walter über eine mögliche Münchner Uraufführung eingeleitet. Diese Pläne wurden jedoch sowohl durch den Ersten Weltkrieg als auch durch den eingefleischten Konservatismus des Münchner Opernpublikums vereitelt. Erst im August 1916 erhielt die Frankfurter Oper die Erlaubnis, die Uraufführung der neuen Oper zu inszenieren. Während also die Ludendorff-Offensive noch im französischen Grabenkrieg wütete, fand am 25. April 1918 unter der Leitung des Schreker-Adepten Ludwig Rottenberg am Frankfurter Opernhaus die Welturaufführung der Gezeichneten statt. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen: Mit einem Schlag wurde Schreker in die vorderste Reihe der deutschsprachigen Opernkomponisten befördert. Das Werk selber hinterließ auf alle, die es hörten, einen nachhaltigen Eindruck: Der verbaute Protagonist, das bewusst schockierende Sujet (einschließlich einer – wie im Rigoletto oder in der Strauss-Oper Feuersnot – hinter der Bühne stattfindenden Entjungferung der Protagonistin), die ausufernd chromatische Satzweise und vor allem die berauschend schwelgerische, meisterhaft ausgeführte Orchestrierung befruchteten einander, um Schreker als Mann der Stunde erscheinen zu lassen. Der führende deutsche Musikkritiker Paul Bekker (1882-1937) sah sich 1919 veranlasst, einen polemischen Aufsatz zu veröffentlichen, in dem Schreker als wahrer musiktheatralischer Erbe Richard Wagners hochstilisiert wird. Durch diesen Aufsatz, der im gleichen Jahr als Pamphlet und 1923 auch in einer Essaysammlung nachgedruckt wurde, wurde Schreker zu einer operngeschichtlichen Sensation, was jedoch die negative Nachwirkung hatte, dass es auch Gegner auf den Plan rief. Wie es Schreker selber 1919 zum Ausdruck brachte: „Jetzt habe ich die Meute hinter mir“.

Letztendlich sollte die „Meute“ den Sieg davontragen. Im Augenblick jedoch genoss Schreker einen Zuwachs an Prestige, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte und nie danach erleben sollte. 1920 wurde ihm die Leitung der führenden musikbildenden Institution Mitteleuropas – der Berliner Musikhochschule – anvertraut. Seine selbstverfassten Libretti wurden 1920/21 in einer repräsentativen, limitierten und signierten zweibändigen Ausgabe im Leineneinband bei seinem Exklusivverleger Universal Edition Wien veröffentlicht (der Text der Gezeichneten erscheint im ersten Band). Die neue Oper begann einen Siegeszug durch die deutschsprachige Theaterwelt: München 1919 (schließlich doch unter Bruno Walter), Dresden 1919, Wien 1920 (mit Maria Jeritza als Carlotta), Berlin 1921 sowie eine Vielzahl von Provinztheatern, darunter Magdeburg und Weimar 1921, Essen 1922, Aachen 1923 und – nachdem sich Deutschland von der Inflation erholt hatte – Düsseldorf 1925 sowie Stuttgart, Hannover und Darmstadt 1926. Auch wenn das Werk von der Popularität der späteren Schreker-Oper Der Schatzgräber (1920) noch übertroffen wurde und außerhalb der deutschsprachigen Theaterwelt kaum bekannt war, kann man mit Recht behaupten, Die Gezeichneten habe – wohl oder übel – das Bild Schrekers in den Augen des deutschen Opernpublikums für den Rest seiner kurzen künstlerischen Laufbahn maßgebend geprägt.

Genau wie der Anstoß zu den Gezeichneten durch die reallen Liebeserfahrungen Alexander Zemlinskys zustande kam, so vermittelt die Oper selber den Eindruck, es handele sich dabei um einen ausgeklügelten Schlüsselroman über die Wiener Gesellschaft der damaligen Zeit, wobei der kunstsinnigen weiblichen Hauptperson Carlotta ein erkennbarer Bezug zu Alma Schindler anhaftet. Zwar wird diese Interpretation, die von Gösta Neuwirth im Programmheft der Frankfurter Neuinszenierung 1979 ausführlich vertreten wurde, nicht überall akzeptiert. Dennoch findet sich in den Gezeichneten mindestens ein ausgesprochen deutlicher zeitgeschichtlicher Bezug: Schreker, der ein überzeugter Verfechter der Musik Arnold Schönbergs war und später sein enger Freund wurde, hegte für die expressionistische Malkunst seines Komponistenkollegen große Bewunderung. Die weibliche Hauptperson Carlotta, die in der Oper als Renaissancemalerin auftritt, schafft vornehmlich fein ausgearbeitete Zeichnungen von Händen, die – so die Malerin – ihr erst die Möglichkeit gebe, die Seele des Porträtierten im Bild einzufangen. Als Schönberg 1929 eine Aufführung der Gezeichneten erlebte, verstand er den versteckten Hinweis sofort und schenkte Schreker danach eines seiner frühen Gemälde: ein Paar ineinander verschlungener Hände. Tatsächlich hat der Titel der Gezeichneten auch eine doppelte Bedeutung, weist er doch zusätzlich auf die schöpferische Akt des Zeichnens hin.

Nach dem unerwarteten Tod Schrekers im Jahre 1934 und der bald darauffolgenden Unterbindung sämtlicher Aufführungen seiner Werke im Dritten Reich wurde es um Die Gezeichneten still. Diese Situation änderte sich gewaltig in der in den späten 1970er Jahren anbrechenden „Schreker-Renaissance“, vor allem 1979 durch die aufsehenerregende, live aufgezeichnete Frankfurter Neuinszenierung durch Michael Gielen, die der Oper ein beachtliches zweites Leben bescherte. 1984 wurden Die Gezeichneten anlässlich der Salzburger Festspiele in der Felsenreitschule unter der Leitung von Gerd Albrecht aufgeführt und ebenfalls live aufgenomen. Darauf folgten Neuinszenierungen in Düsseldorf 1987, Zürich 1992 und insbesondere in den Salzburger Festspielen 2005 (Regie: Nikolaus Lehnhoff; musikalische Leitung: Kent Nagano). Die US-amerikanische Erstaufführung fand 2010 an der Los Angeles Opera unter James Conlon statt, im gleichen Jahr wurde das Werk am Teatro Massimo in Palermo inszeniert. Weitere Gesamtaufnahmen gibt es unter der Leitung von Edo de Waart (1989), Lothar Zagrosek (1993/94) sowie Kent Nagano (die vorhin erwähnte Salzburger Inszenierung 2005). Veröffentlicht wurden Die Gezeichneten von der Universal Edition Wien als Bearbeitung für Klavier zu vier Händen (1914), als Klavierauszug (1916) sowie als aufwändig gestochene Partiturausgabe (1916), die in vorliegender Studienpartitur getreu nachgedruckt wird.

Handelnde Personen
Herzog Antoniotto Adorno - Hoher Bass
Graf Andrae Vitelozzo Tamare - Bariton
Lodovico Nardi, Podestà der Stadt Genua - Bass
Seine Frau - Stumme Rolle
Carlotta Nardi, seine Tochter - Sopran
Alviano Salvago, ein genuesischer Edelmann - Tenor
Genuisische Edle: Guidobald Usodimare (Tenor), Menaldo Negroni (Tenor), Michelotto Cibo (Bariton), Gonsalvo Fieschi (Bariton), Julian Pinelli (Bass),
Paolo Calvi (Bass)
Eine Dienerin - Mezzosopran
Der Capitaneo di giustizia - Bass
Ginevra Scotti - Sopran
Martuccia, Haushälterin bei Salvago - Alt
Pietro, ein Bravo - Tenor
Ein Jüngling (Tenor), sein Freund (Bass),
ein Mädchen (Sopran), 6 Senatoren (2 T, 2 Bar, 2 B), 3 Bürger (T, Bar, B). Vater (Bass), Mutter (Alt),
Kind (Sopran), 3 junge Leute (T, Bar, B),
ein riesiger Bürger (Bass),
8 Vermummte (stumme Rollen)

Chor, Statisterie, Ballet
Volk von Genua, Edle, Bürger, Soldaten, Dienerinnen, Diener, Frauen, Mädchen, Kinder, Faune, Najaden,
Bacchanten

Zeit und Ort der Handlung:
In Genua, 16. Jahrhundert.

Zusammenfassung der Handlung
I. Aufzug, 1. Bild, hoher Saal im Palast Alviano Salvagos; Vormittag: Alviano, der sich seiner Hässlichkeit wegen Leben und Liebe entzieht, trifft sich mit adligen Freunden. Diese erzählen von den Freuden sinnlicher Liebe und beichten Alviano, dass sie seine Insel Elysium, die er sich als künstliches Paradies, als Erfüllung eines Schönheitsideals, hat gestalten lassen, für heimliche Orgien missbraucht haben. Entsetzt rät Alviano ihnen, die zauberhafte unterirdische Grotte künftig zu meiden. Er will die Insel, die er seit ihrer Fertigstellung (im Bewusstsein seiner Hässlichkeit, die dort keinen Platz fände) nicht betreten hat, den Genuesern schenken. Die Edlen befürchten, dass dadurch ihre Orgien, für die sie Genueserinnen entführt haben, auffliegen und sie zur Verantwortung gezogen werden. Tamare, Schönster und Rücksichtslosester der Edlen, kommt verspätet zum Treffen, da er auf dem Weg einer überwältigend schönen, ihm ungekannten Dame begegnet ist. Um die Formalitäten der Übergabe der Insel zu regeln, trifft der Podestà ein, begleitet von Senatoren, Bürgern und seiner Tochter Carlotta. Sie ist es, der Tamare begegnet war. Vergeblich versucht er sich ihr zu nähern. Man begibt sich in den Speisesaal, aus dem bald darauf Alviano und Carlotta zurückkehren. Carlotta erzählt, dass sie „Seelen“ male und für solche Bilder schwer Modelle finde. Sie spricht von einem noch unvollendeten Bild, das ihr keine Ruhe lasse, und bittet Alviano, dafür Modell zu stehen. Er reagiert ausfallend, weil er vermutet, als Vorlage für einen Narren herhalten zu sollen. Carlotta beruhigt ihn, indem sie erzählt, wie sie ihn einmal frühmorgens in der Nähe ihres Ateliers beobachtet habe, als er hingebungsvoll das Aufgehen der Sonne erlebt habe. Damals habe sie ein Bild von ihm angefangen, das der Vollendung harre; noch fehle ihr „das trunkene Auge, darin all die Schönheit sich spiegelt“. Alviano willigt ein, zur Vollendung des Bilds in Carlottas Atelier zu kommen.

II. Aufzug, 1. Bild, Halle in Adornos Palast: Verstimmt verlassen die Senatoren Adorno, der sich gegen die Schenkung der Insel an die Stadt Genua ausgesprochen hat. Tamare, der inzwischen bei Adorno eingetroffen ist, beklagt seine unglückliche Liebe zu Carlotta, erzählt, wie er trotz Carlottas erster Absage wieder um sie geworben habe und noch entschiedener abgewiesen worden sei. Erniedrigt und gekränkt, wolle er Carlotta vergessen, aber erst nachdem er sie entführt und zu seiner Dirne gemacht habe. Adorno begreift, dass Tamare und seine Freunde für die Entführungen verantwortlich sind, will seinem Freund und Standesgenossen jedoch beistehen; er bietet Tamare an, in seinem Namen um Carlottas Hand zu werben. 2. Bild, Carlottas Atelier: Während Carlotta Alviano malt, erzählt sie von einer Freundin, die Hände male. Sie beschreibt insbesondere ein Bild, auf dem eine Totenhand etwas Herzähnliches umkrampft hält, das schwach in sich leuchtet, und erläutert das als Darstellung eigener Schmerzen. Alviano hört zu, ohne zu begreifen, dass Carlotta von sich redet. Er bleibt zurückhaltend und weit entfernt von jenem Modell mit „trunkenem Auge“, das Carlotta zur Fertigstellung ihres Bilds so nötig braucht. Fasziniert und berechnend zugleich versucht sie, ihm als Frau näherzukommen. Als letzte Steigerung im hinausgezogenen Prozess der Annäherung erklärt sie ihm ihre Liebe. Überwältigt will Alviano Carlotta in die Arme schließen, sie aber verlangt von ihm, dass er seinen Platz beibehält, bis das Bild vollendet ist. Danach bricht sie erschöpft zusammen, wobei sie ein Tuch von einem verhängten Bild streift: Sichtbar wird eine Totenhand. Alviano begreift, dass Carlotta von sich gesprochen hat, und verzichtet, seinem Verlangen zum Trotz, sie als Geliebte zu nehmen. Sie verharren in keuscher Umarmung, bis Adornos Ankunft angekündigt wird, der in Sachen Tamares zu Carlotta gekommen ist.
III. Aufzug, 1. Bild, die Insel Elysium, einem paradiesischen Garten ähnlich, im Hintergrund die verschwommenen Konturen Genuas: Die Genueser bestaunen die Schönheiten der Insel. Alviano unterhält sich mit dem Podestà über Carlotta, die er liebt und heiraten will. Carlotta aber meidet Alviano. Sie unterhält sich mit Adorno und gibt zu, seit der Fertigstellung des Bilds in ihren Gefühlen für Alviano schwankend geworden zu sein. Auch zweifelt sie, ob es richtig war, Tamare so entschieden abzuweisen. Von der sinnbetörenden Atmosphäre des Fests ergriffen, kann Carlotta, als sie in der Menge Tamare trifft, diesem nicht länger widerstehen und folgt ihm zur Grotte. Alviano, der überall Carlottas Gegenwart spürt, aber sie nicht findet, gerät in Verzweiflung. Seine Suche nach ihr wird vom Capitaneo unterbrochen, der Alviano wegen „Mädchenraubs“ verhaften will. Vom Volk unterstützt, wehrt Alviano sich gegen diese von Adorno in Umlauf gebrachten Vorwürfe. Plötzlich, bei Nennung von Tamares Namen, begreift er, was geschehen ist, dass Carlotta von Tamare in der Grotte verführt worden ist. Er führt alle dorthin. 2. Bild, ein unterirdisches Gewölbe mit vielen Nischen, aus denen farbiges Licht strahlt: Während Carlotta im Sterben liegt, stehen Tamare und Alviano sich im Streit gegenüber. Tamare verhöhnt Alviano wegen seiner Zurückhaltung und seines unmännlichen Verzichts auf Carlotta. Ihm habe sich Carlotta freiwillig in Liebe hingegeben. Als Alviano daran zweifelt und in Carlotta nur ein Opfer von Tamares Gewalt sieht, beschreibt Tamare rücksichtslos, wie Carlotta sich ihm hingegeben und er sie nicht geschont habe. Alviano, der seine Gefühle ins Lächerliche gezogen sieht, ersticht Tamare. Von seinem Todesschrei geweckt, ruft Carlotta nach ihrem „Liebsten“. Als Alviano zu ihr geht, schreckt sie vor ihm zurück und ruft, ehe sie stirbt, nach Tamare. Alviano verfällt in Wahn.

Aus: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. Carl Dahlhaus. Bd. 5. Piper: München und Zürich 1994. S. 638-640.

Bradford Robinson, 2011

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an Universal Edition, Wien.

Franz Schreker
(b. Monaco, 23 March 1878 – d. Berlin, 21 March 1934)

Die Gezeichneten
(1913-15)
Opera in three acts on a libretto by the composer

 

Preface
“My poor, poor Alex.” Thus the young and beautiful Alma Schindler, soon to become Alma Mahler, wrote of Alexander Zemlinsky in her diary on 20 November 1901. We can only share her sympathies. Zemlinsky had been her composition teacher and stalwart companion in piano duets since summer 1900. From this there evolved a torrid love affair that left both parties in a heady state of amorous intoxication. Alma, a stunning beauty and brilliant socialite who held male Vienna spellbound with her obvious musical gifts and intelligent conversation, had fallen head over heals in love with a talented young musician of limited means and unprepossessing appearance. “Everything about him is holy to me,” she confided steamily to her diary on 9 November 1901. “I would like to kneel before him and kiss his loins - kiss everything, everything! Amen.” Three days later, however, the steam had evaporated: “I can’t even think of writing to Alex. I feel absolutely nothing for him.” The intervening factor was Gustav Mahler, and the rest is history: Alma wrote a chilling and derisive letter to Zemlinsky that brought howls of pain from him in response. At the end of his second reply he could only stammer: “What have you got to show for all your riches? Don’t I have more in every other respect, too? I’m terribly ugly, agreed, but now I thank God that I am. And I thank God that there were so many girls who saw beyond my ugliness and reached my soul, and who never said a word to me about it, so that I know, despite all else, that I am a human being and not to be belittled, a man of some worth after all [...].” Poor, poor Alex.

Zemlinsky never entirely recovered emotionally from this crushing setback. Alma, as we all know, went on to a long and fruitful career of further male conquests, one of whom, scarcely six months after she had been widowed by Gustav Mahler in 1911, was the young and handsome composer Franz Schreker. Zemlinsky and Schreker had developed a solid professional friendship in the Viennese musical world, and both concentrated their efforts on the theater. But there was a difference: Schreker conceived and wrote his own librettos, whereas Zemlinsky did not. Thus it came about, in summer 1911, that Zemlinsky asked Schreker to write a libretto for him on a subject of special psychological significance: it was to be “the tragedy of an ugly man.”

Schreker set to work with gusto, and before long he had produced the libretto to Die Gezeichneten on a freely conceived plot set in the Italian renaissance. But while writing the text, his mind brimmed over with musical ideas for its setting. Eventually he developed such a personal attachment to his new creation that he felt he had to set it to music himself: “The more I worked on it, the more abhorrent, the more unbearable I found the thought that not I, but another would compose the music to it, music that was already taking firm shape and form within me. And it seemed to me as if, along with the libretto, I was giving [Zemlinsky] my musical self, as if I were selling my innermost soul, my very life. And I decided I would fight for the libretto. It wasn’t necessary. My colleague in Apollo was a reasonable man and understood me without my having to say much.”

Zemlinsky later went on to write his own semi-autobiographical opera on the same subject: Der Zwerg (1922), a “tragedy of an ugly man” after Oscar Wilde’s grimly sentimental short story The Birthday of the Infanta.

By the time Schreker began work on the score of Die Gezeichneten, in the spring of 1913, he had achieved a stunning success with his opera Der ferne Klang at its Frankfurt première (1912) and had advanced at a single bound into the compositional limelight. Riding high on the wave of this sudden acclaim, he turned out the music to Die Gezeichneten in short order, finishing the composition draft in early summer 1914. By then he had already given the inquisitive Viennese musical public a foretaste of his new opera: commissioned by the Vienna Philharmonic to submit a new orchestral piece, he decided to expand the already complete overture to Die Gezeichneten into a larger work which, somewhat in the manner of Berg’s Three Fragments from Wozzeck or the Lulu Suite, would serve the additional function of advertising his new opera. The twenty-minute work, Vorspiel zu einem Drama, was finished in late autumn 1913 and was given its première by the Vienna Philharmonic under Felix Weingartner on 8 February 1914. Thus fortified, Schreker proceeded with the difficult task of orchestration, on which he lavished extraordinary attention, and which occupied him from July 1914 to 23 June 1915.

Even before the opera was complete, in mid-1914, negotiations were already underway with Bruno Walter to have it premièred in Munich. World War One and the inbred conservatism of the Munich audience prevented this from happening, however, and it was not until August 1916 that the Frankfurt Opera was given permission to mount the first performance. With the Ludendorff Offensive still raging on the Western front, the première duly took place on 25 April 1918, conducted by Schreker’s staunch champion Ludwig Rottenberg. Its success was phenomenal: it propelled Schreker at a stroke to the forefront of German opera composers and left a lasting impression on all those who heard it. Its deformed hero, its deliberately shocking subject matter (including an offstage defloration reminiscent of Rigoletto or Strauss’s Feuersnot), its rampant chromaticism, and above all its deliriously luxuriant and superbly polished orchestration: all combined to make Schreker the man of the hour. The leading German critic Paul Bekker (1882-1937) was moved in 1919 to publish a polemical article in which he proclaimed Schreker the true heir to Richard Wagner. This article, reissued as a pamphlet that same year and in an essay collection in 1923, made Schreker a cause célèbre, though it also had the negative effect of attracting enemies. As Schreker himself put it in 1919, “Now I’ve got the mob at my heels.”

In the end, unfortunately, the “mob” would emerge victorious, but for the moment Schreker enjoyed an upsurge of prestige as never before and never again in his career. In 1920 he was offered the directorship of the leading music-educational institution in Central Europe, the Berlin Musikhochschule; his librettos were issued in a two-volume cloth-bound limited and signed edition by his exclusive publishers, Universal Edition (1920-21; Die Gezeichneten appears in volume 1). The new opera proceeded on its conquest of the German stage: Munich (1919, conducted by Bruno Walter after all), Dresden (1919), Vienna (1920, with Maria Jeritza as the heroine), Berlin (1921), and a host of provincial theaters, including Magdeburg and Weimar (1921), Essen (1922), Aachen (1923), and, following a gap caused by Germany’s Hyperinflation, Düsseldorf (1925) and Stuttgart, Hanover, and Darmstadt (1926). Though not quite as popular as the later Der Schatzgräber (1920) and hardly known outside the borders of Germany, Die Gezeichneten may be said to have defined, for better or worse, Schreker’s image in the minds of Germany’s opera-goers for the remainder of his career.

Just as the impetus for Die Gezeichneten came from the real-world experiences of Alexander Zemlinsky, there was a sense that the opera itself is an elaborate roman à clef for the Viennese society of its time, with the artistically-minded female protagonist, Carlotta, obviously bearing a tentative relation to Alma Schindler. This interpretation, though pursued at length by Gösta Neuwirth in the program booklet to the 1979 Frankfurt production, has not met with universal acceptance. In one respect, however, the opera contains at least one decidedly contemporary reference. Schreker, who became a staunch advocate and later a close friend of Arnold Schoenberg, greatly admired his friend’s abilities as an Expressionist painter. Carlotta, who is a painter in the opera, is said to focus her work on elaborate portraits of hands, which, she feels, allow her to capture the sitter’s soul. When Schoenberg later heard Die Gezeichneten in 1929, he immediately understood the reference and made Schreker a gift of one of his early paintings - a pair of intertwined hands. Indeed, the very title of Die Gezeichneten (usually translated as “The Stigmatized”), harbors a punning reference to the visual arts: it can also mean “those who are drawn from life.”

After Schreker’s early death in 1934 and the immediate eclipse of his artistic influence under the Third Reich, little was heard of Die Gezeichneten. This changed remarkably with the “Schreker renaissance” that began in the late 1970s, specially with the work’s seminal revival at the Frankfurt Opera in 1979 under Michael Gielen. The performance was recorded live and launched the opera on an extraordinary second career. In 1984 it was performed in the Felsenreitschule at the Salzburg Festival (the performance, conducted by Gerd Albrecht, was also recorded live); and productions followed in Düsseldorf (1987), Zurich (1992), and especially the Salzburg Festival, staged by Nikolaus Lehnhoff and conducted by Kent Nagano (2005). The American première was given by the Los Angeles Opera under James Conlon in 2010, and in April of that same year the work was staged at the Teatro Massimo in Palermo. Other recordings of special note have been released under the batons of Edo de Waart (1989), Lothar Zagrosek (1993-94), and especially Kent Nagano (the 2005 Salzburg production).

Die Gezeichneten appeared in print an arrangement for piano four-hands (1914), a vocal score (1916), and a lavishly engraved full score (1916), all published by Universal Edition of Vienna. The present study score is a faithful reproduction of the latter print.

Cast of Characters
Duke Antoniotto Adorno - High bass
Count Andrae Vitelozzo Tamare - Baritone
Lodovico Nardi, Podestà of Genoa - Bass
His wife - Silent character
Carlotta Nardi, his daughter - Soprano
Alviano Salvago, a Genoese nobleman - Tenor
Genoese noblemen: Guidobald Usodimare (tenor),
Menaldo Negroni (tenor), Michelotto Cibo (baritone), Gonsalvo Fieschi (baritone), Julian Pinelli (bass),
Paolo Calvi (bass)
A maidservant - Mezzo-soprano
Capitaneo di giustizia - Bass
Ginevra Scotti - Soprano
Martuccia, Salvago’s housekeeper - Contralto
Pietro, a bravo - Tenor
A youth (tenor), his friend (bass), a girl (soprano),
6 senators (2 T, 2 Bar, 2 B), 3 townspeople (T, Bar, B),
a father (bass), a mother (contralto), a child (soprano),
3 young men (T, Bar, B), a gigantic burgher (Bass),
8 mummers (silent characters)

Chorus, supernumeraries, ballet
townspeople of Genoa, noblemen, burghers, soldiers, male and female servants, women, girls, children, fauns, naiads, bacchants

Place: Genova
Time: 16th century

Synopsis of the Plot

Act I, Scene 1, a room of state in the palace of Alviano Salvago; morning: Alviano, ugly and misshapen, has renounced life and love. He now meets with his aristocratic friends, who regale him with tales about the joys of sensual love. They confess that they have misused his Isle of Elysium, which he has laid out as an artificial paradise to realize his ideal of Beauty. Instead, they have misappropriated it for secret orgies. Horrified, Alviano urges them to avoid the magical subterranean grotto in the future. Since the day of its creation he has never set foot on the island, realizing that his ugliness would make him out of place. Now he decides to donate it to the Genoese. The noblemen fear that this will put an end to their orgies, for which they have abducted Genoese women, and that they will be called to account for their misdeeds. Tamare, the most handsome and ruthless of the nobles, belatedly joins the meeting, having been delayed by the sight of an unknown and overpoweringly beautiful lady. The Podestà arrives to deal with the formalities of transferring ownership of the island. He is accompanied by senators, townspeople and his daughter Carlotta – the very same woman Tamare had espied. He tries to approach her again, in vain. The guests repair to the dining room, from which Alviano and Carlotta soon return. Carlotta explains that she paints “souls” and that it is difficult to find models for such paintings. She speaks of an unfinished portrait that gives her no peace and asks Alviano to model for her. He becomes irate, supposing that she wants him to model as a court jester. Carlotta calms him by explaining that once, in the early morning, she observed him near her studio as he rapturously watched the rising of the sun. She began to make a portrait of him at that time, but she lacks “the intoxicated gaze in which all beauty is reflected.” Alviano agrees to come to Carlotta’s studio so that she can complete her painting.

Act II, Scene 1, a large room in Adorno’s palace: In high dudgeon the senators leave Adorno, who has argued against accepting the island as a gift. Tamare, having arrived at the palace, laments his unrequited love for Carlotta. He tells how he again wooed Carlotta despite her first rejection, only to be even more roundly rejected. Humiliated and insulted, he wants to forget her, but only after he has abducted her and turned her into his paramour. Adorno realizes that Tamare and his friends are to blame for the abductions, but he wants to stand by his friend and fellow nobleman. He proposes asking for her hand in his friend’s stead. Scene 2, Carlotta’s studio: While painting Alviano, Carlotta talks about a lady-friend of hers who paints hands. She describes a particular painting in which a dead hand clutches something resembling a faintly glowing heart, calling it a depiction of her own sorrow. Alviano listens to her without realizing that she is talking about herself. He remains subdued, far removed from that model with the “intoxicated gaze” that Carlotta urgently needs to complete her painting. Fascinated and scheming, she approaches him as a woman. To crown her long exercise in feminine wiles, she confesses her love. Overwhelmed, Alviano wants to hold her in his arms, but she demands that he hold remain until she has completed her portrait. When she has finished, she falls to the ground exhausted and accidentally brushes a dustsheet from a painting on the wall, revealing a dead hand. Alviano realizes that she was speaking about herself and, despite his desire, renounces her as a lover. They pause in chaste embrace until the announcement of Adorno’s arrival, who has come woo Carlotta for Tamare.

Act III, Scene 1, the Isle of Elysium, laid out as a paradisiacal garden, with the blurred silhouette of Genoa in the background: The Genoese stare amazed at the beauties of the island. Alviano talks with the Podestà about Carlotta, whom he loves and wishes to marry. But she avoids him. She converses with Adorno and confides that her feelings for Alviano have wavered ever since she finished the painting. She also doubts whether it was right to spurn Tamare so rudely. Seized by the dizzying atmosphere of the festivities, she meets Tamare in the crowd and can no longer resist him. She follows him to the grotto. Alviano, sensing Carlotta’s presence everywhere but unable to find her, becomes desperate. His search is interrupted by the Capitaneo, who has come to arrest him for abducting young girls. With the support of the populace, Alviano defends himself against these accusations, which Adorno has put into circulation. Upon hearing the name of Tamare he suddenly grasps what has happened – that Tamare has ravished Carlotta in the grotto. He leads the assembled people to the scene of the crime. Scene 2, a subterranean vault with many niches from which colored light emerges: As Carlotta lies dying, Tamare and Alviano square off to fight. Tamare mocks Alviano for his restraint and his unmanly renunciation of Carlotta. She, he claims, yielded to him of her own free will. Alviano doubts this, seeing in Carlotta merely a victim of Tamare’s violence. Tamare ruthlessly recounts how she submitted to him and how he had his way with her. Alviano, seeing his feelings ridiculed, stabs Tamare. Wakened by his mortal scream, Carlotta cries out for her “darling.” When Alviano approaches her she recoils in horror and calls for Tamare before she dies. Alviano descends into madness.

Aus: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. Carl Dahlhaus. Bd. 5. Piper: München und Zürich 1994. S. 638-640.

Bradford Robinson, 2011

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