Hanns Eisler
(geb. Leipzig, 6. Juli 1898 - gest. Berlin, 6. September 1962)

I. Suite für Orchester op. 23
»Orchester-Suite für Rundfunk« (1930/31)

I Präludium in Form einer Passacaglia. Ruhige Viertel - Mäßige Halbe p. 1
II Intermezzo (Unterhaltungsmusik Nr. 1). Andante p. 7
III Unterhaltungsmusik Nr. 2 (Potpourri über russische Volkslieder): Andante (Glocken von Nowgorod) - Allegretto (Iwan/Wolgaschlepper) - Andante (Dubinuschka) - Pesante - Allegretto (Im Gemüsegarten) - Andante (Taiga-Lied) - Marschtempo (Warschawjanka) p. 10
IV Die Hörfleißübung. Allegro energico p. 28

Vorwort
Das Schaffen und Leben Hanns Eislers, des "Meisters der unaufdringlichen Eindringlichkeit", läßt sich grob in vier Phasen gliedern:
Die Wiener Frühzeit (ab 1901 lebte er in Wien; 1919 wurde er Schüler Schönbergs, der ihn an die Universal Edition empfahl, mit der Eisler 1923 einen 10-Jahres-Kontrakt abschloß);
die Berliner Jahre in der Weimarer Republik (1925-33), die in enger Zusammenarbeit mit Bertold Brecht und dem grandiosen Sänger Ernst Busch Kampf- und Revolutionsmusiken von unmittelbar zupackender, mitreißender Wirkung hervorbrachten — der dynamische Ton einer dynamischen Zeit, Inbegriff der Authentizität umbrechender Kultur: "Die erste Forderung, die der Klassenkampf an Kampflieder stellt, ist eine große Faßlichkeit, leichte Verständlichkeit und energische präzise Haltung" (Eisler, 1932);
sodann die Jahre der Emigration, die vor allem amerikanische Jahre regen künstlerischen Austauschs waren und Eislers weiterhin überragendem Beitrag zur Filmmusik, seiner Kultivierung einer motivisch einprägsamen, weitgehend konsonanzbezogenen und in jeder Hinsicht faßlichen, eigentümlichen Zwölftönigkeit vorbehalten war;
schließlich die Spätzeit als unbequem repräsentativer Tonsetzer der DDR, der die stalinistisch indoktrinierte Verfälschung seiner Ideale erduldete und in einem Milieu der Ehrungen und Gängelungen eine gemäßigtere, unterschiedliche Stilwelten der Musikgeschichte souverän eigensinnig verkettende Tonsprache entwickelte, die sich in der herbstlichen Versonnenheit seines letzten vollendeten Werks, der Ernsten Gesänge für Bariton und Streicher, sogar wieder mit dem verachteten bourgeois par excellence, mit Richard Strauss berührte.

Schönberg sah in Eisler seinen neben Alban Berg und Anton Webern begabtesten Schüler aus der Wiener Zeit. Dabei ist Eisler vor allem ein unerhörtes Niveau der Unterhaltungs- und Begleitmusik zu verdanken, die ihm mit solcher Lebendigkeit und Originalität von der Hand ging, daß sie weit über die dienende Funktion hinaus eigenständiges konzertantes Format erlangte. Wem seit den Klassikern war dies in solcher Fülle und Frische gelungen? Wie unverbraucht klingen die hier vorliegende I. Suite für Orchester op. 23 oder die darauf folgenden Suiten aus den Filmen Niemandsland oder Kuhle Wampe vom Anfang der dreißiger Jahre bis heute! Es ist sicher kein Zufall, daß diese spontan und mit höchster Könnerschaft hingeworfenen Stücke oft plötzlich in der derben Eleganz und schrillen Geschmeidigkeit mit zeitgleichen Schöpfungen Schostakowitschs übereinklingen, vor allem in den marschartig vorwärtsdrängenden Teilen — war doch einerseits Eislers Agitproptruppe Das Rote Sprachrohr von russischen Vorbildern angespornt, und andererseits war das einfach der passende Ton der Zeit: eine "rasche, scharfe Musik… Der Kontrast der Musik — der strengen Form sowohl wie des Tons — zu den bloß montierten Bildern bewirkte eine Art von Schock, der, der Intention nach, mehr Widerstand hervorruft als einfühlende Sentimentalität." (Eisler)

Die I. Suite für Orchester op. 23 wurde 1930 von Ernst Schoen, dem musikalischen Programmleiter des Senders Frankfurt, in Auftrag gegeben und mutmaßlich im Herbst desselben Jahres komponiert, vielleicht aber auch erst 1931 fertiggestellt. Im Begleittext zur Leipziger Plattenaufnahme unter Max Pommer von 1977 (wiederveröffentlicht auf CD Berlin Classics 0092282BC) schrieb Günter Mayer über das Opus 23:
"Im ersten Satz griff Eisler auf seine erste Filmmusik zurück, die er 1927 für Opus III von Walter Ruttmann, einen der frühesten experimentellen Tonfilme, geschrieben hatte. (Bei seiner Aufführung auf dem Musikfest in Baden-Baden im gleichen Jahr wurde zunächst der synchronisierte Tonfilm vorgestellt, danach dirigierte Eisler die Musik live zum stumm ablaufenden Film.) Steht dieser erste Satz ganz in der Nähe der komplizierten Zwölftontechnik (das Thema der Passacaglia besteht aus den ersten sechs Tönen einer 'Reihe'), so ist für die Sätze 2 und 3 eine lapidare, raffinierte Einfachheit charakteristisch. Besonders im dritten Satz versuchte Eisler eine neuartige 'Unterhaltungsmusik' für proletarische Hörer zu schreiben. Er knüpfte an einige um 1930 in der Arbeiterbewegung sehr beliebte Lieder an […] Nach einer motivischen Andeutung der Arbeiterhymne Unsterbliche Opfer beendet Eisler diesen Satz mit einer Orchesterversion der Warschawjanka und dem Zitat des Refrains der Internationale ('Völker höret die Signale'). Der vierte Satz hat den Titel Hörfleißübung. Das zwölftönige Thema tritt im nun wieder differenzierteren Orchestersatz deutlich hervor. […] Hanns Eisler hat das Allegro energico [den 4. Satz] Mitte der dreißiger Jahre in seine Deutsche Sinfonie übernommen (3. Satz Etüde für Orchester)."

Hanns Eisler widmete seine vom Frankfurter Deutschen Südwest-Rundfunk in Auftrag gegebene I. Suite für Orchester op. 23, die bereits 1931 auf Schallplatte erschien und zu deren Erstsendung als 'Orchester-Suite für Rundfunk' am 22. Juni 1931, die zugleich die Uraufführung war, Theodor W. Adorno den Kommentar beigesteuert hatte, dem auftraggebenden Sender. Das Programm des abendlichen 'Studien-Konzerts' umfasste außerdem Werke von Ernst Pepping (Invention für Orchester) und Viktor Ullmann (Sieben kleine Serenaden) und wurde von den Dirigenten Hans Rosbaud und Rudolf Merten geleitet. Auch als 'Frankfurter Suite' bekanntgeworden, ist das Opus 23 ein Werk voller die proletarische Botschaft umrankender Anspielungen und humoristischer Züge. So beginnt der dritte Satz, das »Potpourri über russische Volkslieder«, dezidiert als 'Unterhaltungsmusik' bezeichnet, mit einer unüberhörbaren Persiflage auf den tragisch monumentalen Anfang der Ersten Symphonie von Johannes Brahms. Der zweite Satz hat seinen Ursprung in der Kleinen Musik zum Abreagieren sentimentaler Stimmungen. Wir danken Herrn Ludwig Stoffels vom DRA (Deutsches Rundfunk-Archiv) in Frankfurt für Recherche und exakte Auskünfte zur Uraufführung.
Christoph Schlüren

Aufführungsmaterial ist vom Originalverlag Universal Edition, Wien (ww.universaledition.com) zu beziehen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2002.

 

 

Hanns Eisler
(b. Leipzig, 6 July 1898 - d. Berlin, 5 September 1962)

Orchestral Suite No. I op. 23
'Orchestral Suite for the Radio' (1930/31)

I Prelude in the form of a Passacaglia. Calm quarter notes - Moderate half notes p. 1
II Intermezzo (Light Music No. 1). Andante p. 7
III Light Music No. 2 (Medley on Russian Folk Songs): Andante (The Bells of Novgorod) - Allegretto (Ivan/Volga Tugboat) - Andante (Dubinushka) - Pesante - Allegretto (On the Vegetable Patch) - Andante (Song from the Taiga) - In march time (Warsawjanka) p. 10
IV Aural Training for the Diligent. Allegro energico p. 28

Preface
The life and works of Hanns Eisler, the "master of the unforced but forceful style", can be divided roughly into four phases:
the early period in Vienna, where he lived from 1902 and in 1919 became a pupil of Schönberg, who recommended him to Universal Edition, with whom he concluded a 10-year contract in 1923;
the Berlin years (1925-33) under the Weimar Republic, where he closely collaborated with Bertolt Brecht and the great singer Ernst Busch in producing powerful, thrilling revolutionary music for the class struggle that articulated the dynamic sounds of a dynamic era and epitomised the values of cultural upheaval. As he wrote in 1923, -"The class war demands, first and foremost, that its songs should have a popular appeal, a precise, dynamic style and be easily understood";
the emigration, which were years of intense artistic exchange — particularly in the United States — which embraced Eisler’s outstanding contribution to film music and his cultivation of an original and genuinely accessible twelve-tone style characterised by his use of catchy themes and classic harmony;
finally, the late period, as the uncomfortably representative East German composer, during which time he had to endure the perversion of his artistic ideals by means of Stalinist indoctrination. Within this environment of political honours and official tutelage he was able to develop a more moderate musical idiom that recalls the many varied and more conservative styles of the past. The reflective autumnal mood of his last completed work from this period, the Ernste Gesänge for baritone and strings, even comes somewhat close to that despised bourgeois par excellence, Richard Strauss.

Schönberg recognised Eisler, together with Alban Berg and Anton Webern, as one of his most gifted students from the Vienna period. Eisler is noted above all for the unusually high quality of the lively and original light and incidental music he compiled, which went far beyond its occasional aspect and attained concert standards. Who else, since the classical period, has achieved this in such profusion and with such originality? How fresh this
Orchestral Suite No I Op. 23 sounds today or his subsequent compositions for the films Niemandsland and Kuhle Wampe, dating from the beginning of the Thirties! It is certainly no coincidence that these spontaneous, masterly executed works all of a sudden recall the dry elegance and suave stridency of his contemporary Shostakovitch, especially in the march-like forward-moving sections. On the one hand, Eisler’s agit-prop group Das Rote Sprachrohr was inspired by Russian examples and, on the other hand, by contemporary fashion, which called for "fast-moving, striking music […] The strict form and tone of the music, in contrast to the stark screen montage, generate a kind of shock that is intended to evoke feelings of opposition rather than sentimental compassion." (Eisler).

The Suite No. 1 for Orchestra Op. 23 was commissioned in 1930 by Ernst Schoen, director of music programmes of Frankfurt Radio and may have been composed during the Autumn of that year or else finally completed in 1931. In the accompanying text to the Leipzig recording under Max Pommer in 1977 (re-recorded on CD Berlin Classics 0092282BC), Günter Mayer wrote about Opus 23 as follows:
"In the first movement Eisler borrows from music he had written in 1927 for Walter Ruttmann’s Opus III, one of the earliest experimental sound films. (At its premiere during the Baden-Baden music festival that year the sound film was played first, then Eisler conducted the music live against the silent film.) This first movement comes close to the complexities of twelve-tone music — the theme of the Passacaglia consists of the first six notes of a 'tone row' — but the second and third are written in his typically clear, simple and refined style. In the third movement in particular, Eisler experiments with a new type of light music for proletarian audiences. He quotes from several songs that were popular in the workers’ movement around 1930. […] A theme hints at the workers’ hymn Unsterbliche Opfer ['Immortal Victims'] and Eisler concludes this movement with an orchestral version of the Warszawjanka and a quotation from the chorus of the Internationale ('Völker höret die Signale') ['So comrades, come rally']. The fourth movement bears the title Hörfleißübung ['Aural Training for the Diligent']. The twelve-tone theme can be recognised once again but this time orchestrated in various forms. […] Hanns Eisler borrowed the Allegro energico (fourth movement) for his Deutsche Symphonie (Third movement Etude for Orchestra) in the mid-Thirties.

Hanns Eisler dedicated his Suite No. 1 for Orchestra Op. 23, commissioned by the German Radio (Südwest-Rundfunk) in Frankfurt, to the Radio itself. It was first broadcast under the title ‘Orchestral Suite for Radio’ on 22 June 1931, also the date of its premiere, and was recorded on disk that year [in 1931], with Theodor W. Adorno as commentator. The programme for this evening Studio concert also included works by Ernst Pepping (Invention for Orchestra) and Viktor Ullmann (‘Seven little Serenades’), conducted by Hans Rosbaud and Rudolf Merten. Known as the 'Frankfurt Suite', this work carries a political message, full of proletarian undertones and humorous moments. Thus, the third movement, a pot-pourri of Russian folk songs and deliberately classified as 'light music', opens with an unmistakable pastiche of the tragic, monumental first movement of Johannes Brahms’ First Symphony. The second movement borrows from the Kleine Musik zum Abreagieren sentimentaler Stimmungen [Little music for dispelling sentimental moods]. We are grateful to Herr Ludwig Stoffels of the German Radio Archive (DRA) in Frankfurt for research and precise details as to the first performance of the work.
Translation: Jonathan Price

For performance materials please contact the original publisher, Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com).

Reprint in this form with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2002.