Albert Roussel
Le Marchand de Sable qui passe – musique de scène, Op. 13 (1908)
(geb. Tourcoing, 5. April 1869 – gest. Royan, 23. August 1937)
Vorwort
Albert Roussel, geboren am 5. April 1869 in Tourcoing, gilt als eine der einflussreichsten Gestalten der französischen Musikgeschichte. Nachdem er zunächst eine Marinelaufbahn eingeschlagen und 1887 seinen Dienst an Bord des Schulschiffes Borda angetreten hatte, beschloss er schon im Jahr 1894, sich ganz der Musik zu widmen. Nach ersten vorbereitenden Studien bei Eugène Gigout wurde er 1898 an der neu gegründeten Schola Cantorum in Paris aufgenommen und studierte dort bis zum Jahr 1907 bei Vincent d’Indy. Anschließend übernahm er bis 1914 eine Professur für Kontrapunkt und unterrichtete im Rahmen dieser Tätigkeit berühmte Komponisten wie etwa Erik Satie oder Edgar Varèse. Nach seiner Heirat mit der jungen Elsässerin Blanche Preisach im Jahr 1908 unternahm er eine ausgedehnte Reise durch Indien und Indochina. Die auf dieser Reise gesammelten Eindrücke prägten ihn nachhaltig und beeinflussten nicht nur seinen Kompositionsstil, sondern auch die musikalische Gestaltung des symphonischen Triptychons Évocations (1910–11) und des Opernballetts Padmâvatî (1914–18). In der Zeit des Ersten Weltkrieges diente Roussel nach einer Tätigkeit beim Roten Kreuz ab 1915 als Transportoffizier. Da sein Gesundheitszustand zunehmend instabiler wurde, schied er im Januar des Jahres 1918 aus dem Dienst. Das Bestreben Roussels, eine Musik zu schaffen, „die sich von allen malerischen und beschreibenden Elementen zu befreien sucht und die sich auf immer von jeder örtlichen Bestimmung im Raum entfernt“, führte zur Entstehung der Zweiten Symphonie (1919–1921). Dieses Werk fand bei seiner Uraufführung 1922 jedoch wenig Anklang beim Publikum, sodass sich Roussel in den folgenden Jahren zunehmend einem leichteren und klareren, vom Neoklassizismus beeinflussten Stil zuwandte. Im Jahr 1929 wurde anlässlich des sechzigsten Geburtstages des Komponisten ein großes Festival ausgerichtet, das die Bedeutung Roussels für das zeitgenössische Musikleben Frankreichs verdeutlichte. Die letzten Jahre seines Wirkens waren von seiner sich zunehmend verschlechternden gesundheitlichen Verfassung gekennzeichnet. Albert Roussel starb am 23. August 1937 in Royan an einem Herzschlag – im gleichen Jahr wie Maurice Ravel, Louis Vierne, Gabriel Pierné und George Gershwin.
Bei Le Marchand de Sable qui passe (Der Sandmann) handelt es sich um ein einaktiges symbolistisches Bühnenwerk von Georges Jean-Aubry (1882–1950) aus dem Jahr 1902: Ein Mann und eine Frau, die nicht wissen, dass sie für ein gemeinsames Leben bestimmt sind, werden vom mysteriösen Sandmann zusammengeführt; dieser verschwindet schließlich in den Tiefen des Waldes. Roussel komponierte 1908 zu diesem Stück die hier vorliegende Bühnenmusik für ein reduziertes Orchester, bestehend aus Flöte, Klarinette, Horn, Harfe und Streichinstrumenten. Ein Vermerk auf der letzten Seite des Manuskripts weist darauf hin, dass der Kompositionsprozess am 23. Oktober 1908 in Sainte-Colombe abgeschlossen wurde.
Der Beginn des ersten Satzes (Prélude) evoziert durch die Verwendung von kreisenden, repetitiven Motivstrukturen (Klarinette und Streicher) eine ruhige, traumartig anmutende Atmosphäre. Nachdem bereits in Takt 14 zum ersten Mal das leidenschaftliche, in seiner Chromatik an Richard Wagners Tristan erinnernde Hauptmotiv exponiert wird (Klarinette und Cello), beginnt in Takt 23 der bewegtere Mittelteil des Satzes (Assez Animé). Von besonderer Bedeutung ist hier der punktierte Rhythmus der Streicher (avec rudesse) in Verbindung mit den gleichmäßigen Triolen der Harfenstimme. Die Wiederkehr des Hauptmotivs in Takt 43 (Flöte) markiert schließlich den Beginn des Schlussteils, der auf die träumerisch-chromatischen Akkorde des Anfangs zurückgreift.
Die Verwendung gegensätzlicher rhythmischer Texturen in den Streicher- und Bläserstimmen kennzeichnet den Anfang des zweiten Satzes (Scène II; Très Modéré). Ein neues Thema, das in Takt 8 erstmals in voller Gestalt auftaucht (Ziffer 1; punktierter Rhythmus, große Intervallsprünge), steht im Kontrast zur Wiederkehr des erweiterten Hauptmotivs aus dem ersten Satz ab Takt 11 (En Animant un peu; Violine Solo). Nachdem eine ruhige und lyrische Phrase zweimal von Flöte und Horn exponiert worden ist (Takt 31; Ziffer 3; Plus Lent), verwendet Roussel wieder verschiedene Motive des Prélude – in Takt 37 (Très Lent), 42 und 46. Der zweite Satz endet schließlich leise und verhalten; die tiefen Streicherstimmen rufen hier nochmals die rhythmischen Motive der Anfangstakte in Erinnerung.
Der dritte Satz von Le Marchand de Sable qui passe (Interlude et Scène IV; Très Lent) beginnt mit einem von der Klarinette gespielten chromatischen Thema, das von schnellen, exotisch anmutenden Ornamenten der Harfe und statischen Akkorden der Streicher begleitet wird. Nach einer erneuten Reminiszenz an den ersten Satz (Takt 7; Violastimme) wird zunächst das Klarinettenthema der Einleitungstakte auf einer anderen Tonstufe wiederholt (Ziffer 1; Takt 11) und schließlich neues melodisches Material eingeführt: Begleitet von sanft wiegenden Triolen in den Streichinstrumenten entfaltet sich eine geschmeidige Flötenmelodie (Takt 19), die schließlich in einen tänzerischen Abschnitt überleitet (Takt 52; Assez Animé). Das die einzelnen Sätze der Komposition durchziehende ‚wagnerianische‘ Hauptmotiv kehrt in Takt 66 wieder (Ziffer 6; Un peu plus vite) und die Flötenmelodie sowie Anklänge an den ersten Satz beenden diesen dritten Teil des Werkes (ab Takt 78; Lent).
Die Scène finale (Très Modéré) beschwört mit ihren gedämpften Streichertremoli eine neue Traumlandschaft herauf. Ein von Harfenarpeggien umspieltes Motivfragment in der Flötenstimme (Takt 5) wird zunächst von einer zurückgenommenen Streicherpassage abgelöst. In Takt 17 greift Roussel auf die punktierten, kreisenden Anfangsbewegungen aus dem Prélude zurück (Flöte) und entfaltet in der Violinstimme eine ‚unendliche Melodie‘, die leicht verändert bereits in Takt 24 ein zweites Mal erklingt (Ziffer 2). Die begleitenden Arpeggien der Harfe erscheinen anfangs in Fis-Dur, dann in fis-Moll. Nach einer Wiederaufnahme der Anfangstakte des Satzes trägt die Flöte in Takt 49 erneut die ‚unendliche Melodie‘ vor (Lent). Die aufsteigenden Harfenornamente changieren dieses Mal zwischen H-Dur und h-Moll, bis eine plötzliche Modulation nach B-Dur die Wiederkehr des oft erklungenen Prélude-Motivs vorbereitet (ab Takt 64; Très Modéré). Die transzendente, immer leiser werdende Coda mit ihrer absteigenden Chromatik beschließt die Komposition (ab Takt 80; Modéré) – der Sandmann entschwindet in die Tiefen des Waldes.
Die Uraufführung von Le Marchand de Sable qui passe fand am 16. November 1908 in Le Havre unter der Leitung des Komponisten statt. Das Werk ist Suzanne Balguerie gewidmet (auch Suzanne Berchut genannt; 1888–1973), einer berühmten französischen Sopranistin, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen an zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Kompositionen beteiligt war. 1910 erschien die Orchesterpartitur bei den Éditions Demets, im gleichen Jahr gaben die Éditions Eschig eine vom Komponisten erstellte Klavierversion heraus. Einspielungen von Le Marchand de Sable qui passe sind beim Label Naxos erschienen (sowohl die Klavier- als auch die Orchesterfassung ist hier auf CD erhältlich); Aufführungsmaterial ist über den Musikverlag Durand zu beziehen.
Konstantin Galluhn, 2016
Aufführungsmaterial ist von Durand, Paris zu beziehen.
Albert Roussel
Le Marchand de Sable qui passe – musique de scène, op. 13 (1908)
(b. Tourcoing, 5 April 1869 – d. Royan, 23 August 1937)
Preface
Born in Tourcoing on 5 April 1869, Albert Roussel was one of the most influential figures in French music history. Having first pursued a naval career and embarked on the training ship Borda in 1887, he decided in 1894 to devote himself entirely to music. He took preparatory lessons from Eugène Gigout until 1898, when he enrolled at the newly founded Schola Cantorum in Paris to study with Vincent d’Indy. After finishing his studies in 1907 he became professor of counterpoint at the same institution, a position he held until 1914, allowing him to teach such famous composers as Erik Satie and Edgard Varèse. In 1908 he married a young Alsatian woman named Blanche Preisach, after which he undertook a long journey through India and Indochina. The impressions he gathered on this journey left a deep mark on him, influencing not only his style of composition but the musical design of his symphonic triptych Évocations (1910–11) and the opera-ballet Padmâvatî (1914–18). During the First World War, Roussel served briefly with the Red Cross before becoming a transport officer in 1915. He health constantly deteriorated, and left the service in January 1918. His efforts to create “music determined to free itself from any suggestion of the picturesque, completely non-descriptive and unassociated with any particular locality in space,” led to the creation of his Second Symphony (1919-21). However, the work made little impression on the public at its première in 1922, and Roussel turned increasingly to a lighter and more lucid neo-classicist style in the years that followed. In 1929 his sixtieth birthday was celebrated with a large-scale festival that illustrated his significance to France’s contemporary music. His final years were marked by a steady decline in his health. He died in Royan of heart failure on 23 August 1937, the same year as Maurice Ravel, Louis Vierne, Gabriel Pierné, and George Gershwin.
Le Marchand de Sable qui passe (“The Sandman”) is a one-act symbolist drama of 1902 by Georges Jean-Aubry (1882–1950). A man and a woman, not realizing that they are preordained for each other, are brought together by the mysterious Sandman, who ultimately vanishes into the depths of the forest. Roussel composed incidental music for this play in 1908, using a reduced orchestra of flute, clarinet, horn, harp, and strings. According to an inscription on the final page of the manuscript, the piece was completed in Sainte-Colombe on 23 October 1908.
The opening of the first movement (Prélude) evokes a peaceful, dream-like atmosphere by employing circular repetitive motifs in the clarinet and strings. Once the impassioned main motif is stated by the clarinet and cello in bar 14 (with a chromaticism reminiscent of Wagner’s Tristan), the more agile middle section begins in bar 23 (Assez Animé). Here the dotted rhythm of the strings (avec rudesse) acquires special importance in conjunction with the even triplets in the harp. Finally, the return of the main motif in bar 43 (flute) marks the beginning of the concluding section, which returns to the dream-like chromatic chords of the opening.
The second movement (Scène II; Très Modéré) begins with conflicting rhythmic textures in strings and winds. A new theme then makes its first full appearance in bar 8 (rehearsal no. 1: dotted rhythm and large intervallic leaps) and contrasts with the return of the expanded main motif of the first movement from bar 11 (En Animant un peu; solo violin). Then a calm lyrical phrase is stated twice by the flute and horn (m. 31; rehearsal no. 3; Plus Lent), after which Roussel again takes up various motifs from the Prélude in bars 37 (Très Lent), 42, and 46. Finally the second movement comes to a gentle and subdued conclusion in which the low strings yet again recall the rhythmic motifs of the opening bars.
The third movement (Interlude et Scène IV; Très Lent) opens with a chromatic theme played by the clarinet, accompanied by fast, exotic-sounding ornaments from the harp and static chords in the strings. After a renewed reminiscence from the first movement (m. 7; viola), the clarinet theme of the opening bars is repeated at a different pitch level (rehearsal no. 1; m. 11). Then fresh melodic material is introduced, and a lithe flute melody accompanied by gently undulating triplets in the strings (m. 19) finally leads to a section with a dance-like lilt (m. 52; Assez Animé). The “Wagnerian” main motif that pervades every movement of the score returns in bar 66 (rehearsal no. 6; Un peu plus vite), and the movement comes to a close with the flute melody and echoes of the first movement (mm. 78ff.; Lent).
The Scène finale (Très Modéré), with its muted string tremolandos, invokes a new dream landscape. A motivic fragment in the flute surrounded by harp arpeggios (m. 5) gives way to a restrained passage in the strings. In bar 17 Roussel returns to the circular dotted motion of the Prélude (flute) and elaborates an “endless melody” in the violin that returns, lightly varied, in bar 24 (rehearsal no. 2). The harp supplies accompanying arpeggios, first in F-sharp major and then in F-sharp minor. Following a return to the movement’s opening bars, the flute again presents the “endless melody” (m. 49; Lent). This time the ascending ornaments in the harp oscillate between B major and B minor, until a sudden modulation to B-flat major prepares the return of the ubiquitous motif from the Prélude (mm. 64ff.; Très Modéré). The pieces fades away in a transcendent coda with descending chromaticism (mm. 80ff. 80; Modéré) – the Sandman vanishing into the depths of the forest.
The première of Le Marchand de Sable qui passe took place in Le Havre on 16 November 1908 under the composer’s baton. The work bears a dedication to Suzanne Balguerie, aka Suzanne Berchut (1888–1973), a famous French soprano involved in the premières of many contemporary works during the interwar years. In 1910 the work appeared in full score from Éditions Demets and in Roussel’s own piano arrangement from Éditions Eschig. Le Marchand de Sable qui passe has been recorded for Naxos in both its orchestral and piano versions. Performance material may be obtained from the musical publishers Durand, Paris.
Translation: Bradford Robinson
For performance material please contact Durand, Paris.