Heinrich Kaminski
(geb. Tiengen, 4. Juli 1886 — gest. Ried bei Benediktbeuern, 21. Juni 1946)

Magnificat (1925)
für Solo-Sopran, Solo-Bratsche, Orchester & kleinen Fernchor

Adagio - Allegro - Adagio - Allegro - Andante - Allegro

Vorwort
Die Jahre 1924-25 sind im Schaffen Heinrich Kaminskis von besonderem Glanz gewesen. Kurz vor Jahresende 1924, nachdem er zum sechsten Mal Vater geworden war, hatte er das große Quintett für Klarinette, Horn und Streichtrio vollendet, in welchem die meisten Kommentatoren bis heute den Höhepunkt seines Kammermusikschaffens erblicken. Der Hamburger Uraufführung des Quintetts Ende März 1925 folgte Ende Juli eine weitere Aufführung bei den Donaueschinger Musiktagen. Während dieser Zeit arbeitete Kaminski längst an seinem nächsten großen Werk, dem Magnificat, das er am 4. Oktober in Zürich vollenden konnte, gerade noch rechtzeitig für die Uraufführung unter dem Kieler Musikdirektor Fritz Stein, der die Partitur am 7. Oktober erhielt. Das Magnificat erklang, wie vorgesehen, erstmals am 2. November 1925 in Kiel, eingebettet zwischen Kaminskis 69. Psalm und der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens. Partitur und Klavierauszug des Magnificat erschienen 1926 bei Universal Edition im Druck. Es war in seiner filigran-feierlichen Zartheit sogleich ein eminenter, nachhaltiger Erfolg und wurde bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten vielerorts von prominentester Seite regelmäßig aufgeführt. Das zeitweilige Aufführungsverbot für Kaminskis Werke und die damit verbundene Ächtung gereichte auch dieser, seiner lange Zeit beliebtesten Komposition zur nachhaltigen Verdrängung.
Fritz Stein schrieb nach der von ihm geleiteten Uraufführung eine emphatisch gestimmte Einführung für die Zeitschrift Pult & Taktstock (1926/2, S. 59 ff.), deren Inhalt mutmaßlich mit Kaminski abgestimmt wurde und in der es unter anderem heißt:

"Wohl zum ersten Mal in der Musica sacra wird hier das 'Magnificat', das Loblied der Maria aus Lukas 1, in Verbindung mit der vorausgehenden 'Verkündigung des Engels' gebracht. Kaminski sieht den Text in transzendent-dramatischem Zusammenhang: »als ein durch die lichte Botschaft der Verkündigung ausgelöstes Loblied Mariae und somit als das Frohlocken jeder vom gleichen Lichte getroffenen Seele«. […]
Aus geheimnisvollen Ewigkeitsschauern (tiefe Streicher, Flageolets der Solovioline und -bratsche, Celesta, Harfe) erklingt die 'Verkündigung' im unsichtbaren Chor der Engel, die den Boten des Lichts verkörpern, während die Solobratsche, die jungfräuliche Seele Marias symbolisierend, überleitet zum 'Magnificat' und das Loblied der Gottesmutter dann fast bis zum Schlusse begleitet. Der erste überströmende Ruf der Maria: »Magnificat anima mea dominum«, das Hauptthema in hymnischer Feierlichkeit intonierend, mündet ein in ein fugenartiges Allegro, in dem die Solostimme das Thema zu immer höher gesteigertem Jubel führt, während der himmlische Chor sein »Osianna in excelsis« dazwischen ruft. Auf dem Höhepunkte der Steigerung sinkt die Solostimme in tiefster Ergriffenheit zurück bei den Worten: »Quia respexit…« — »denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen« — die den ersten Satz in der Stimmung demutsvollen, seelig-erschauernden Entzückens beschließen. In ähnlicher, innerer und äußerer Steigerung ist der unmittelbar anschließende zweite Satz (Andante, Allegro) aufgebaut. Solobratsche und zarte Bläser leiten über zu Marias Worten: »Ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes« — »Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder« — im Orchester ertönt der 9. Psalmton aus dem altkirchlichen 'Magnificat', und nun steigt das Frohlocken in mächtigem Bogen wieder an bis zu dem Hymnus: »Qui potens est et cujus nomen sanctum« — »Der da mächtig ist und des Name heilig ist«. Der Chor nimmt jubelnd das Sanctus auf und führt hinüber zur Fuge des 1. Teiles (»Gloria patri, Filii et Spiritu Sancti« — »Ehre sei dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geist«), die die Solostimme zu einer letzten Jubel-Ekstase emporträgt, den Chor mit fortreißend. In himmlischen Fernen verklingt sein Amen. […]
Starke Besetzung der Streicher ist erwünscht. […] Rein technische Schwierigkeiten bietet der Orchesterpart nicht; ein gründliches Studium ist aber dringend erforderlich, um die Instrumentalisten mit dem organischen Eigenleben dieser Musik vertraut zu machen, mit dieser Polyphonie, die für Kaminski »Klangwerdung ewiger Lebensgesetze« bedeutet, die von jeder kleinsten Begleitfigur bewußten lebendigen Ausdruck verlangt. […] Einige gründliche Vorproben mit der Solistin und dem Bratschisten am Klavier werden die Arbeit mit dem Gesamtarbeit wesentlich abkürzen. […] Äußerliches Theaterpathos würde diesen inbrünstig-naiven Lobgesang, diesen in »lichte Stille« getauchten, von der Beseligung göttlicher Gnade verklärten Hymnus unrettbar zerstören. […] Von dem nicht umfangreichen Chor, der am besten mit ausgesuchten, im A-cappella-Singen geschulten Stimmen zu besetzen ist, gilt das gleiche wie vom Orchesterpart. Er ist […] fast durchwegs diatonisch gehalten, verlangt aber ebenfalls ein eingehendes Studium, bis sich die Sänger die logische Konsequenz und den lebendigen Ausdruck des linearen Stimmen-Organismus zu eigen gemacht haben. Der unsichtbare Chor wird gestützt vom Harmonium, das neben ihm aufgestellt und nur ihm vernehmbar sein soll. […]
Die Wiedergabe der ersten Partiturseiten (bis zum Eintritt des Chores) bietet besondere Schwierigkeiten durch das außerordentlich breite Tempo und durch die Forderung nach einer fast unwirklichen, hauchzarten Dynamik. Vom Beginn bis zu Takt 10 muß durchaus ein schwebendes »gespanntes« ppp ohne jede Veränderung festgehalten werden; […] man muß bei diesen Klängen gleichsam »einen Geschmack der Ewigkeit auf der Zunge verspüren« (Kaminski). […] In Takt 31 und später die zur Melodie gehörigen Vorschläge deutlich ausspielen lassen und in der Begleitung nachgeben (ähnlich auch Takt 162). […] In der Einleitung des zweiten Satzes sind die Holzbläser zu leisester, ausdrucksvollster Tongebung anzuhalten, der Cantus firmus des gregorianischen Psalmtones in Flöte und Violinen ist zart hervorzuheben. Der Einsatz der Solostimme im Ausdruck: »wie auf den Zehen schreitend«. […]"

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com) zu beziehen.

Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Wolfgang Rihm, mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2002.

Heinrich Kaminski
(b. Tiengen, 4 July 1886 — d. Ried near Benediktbeuern, 21 June 1946)

Magnificat (1925)
for soprano solo, viola solo, orchestra & small off-stage choir

Adagio - Allegro - Adagio - Allegro - Andante - Allegro

Preface
1924 and 1925 were the most brilliant of Heinrich Kaminski’s creative years. Towards the end of 1924, when he had become a father for the sixth time, he completed the large Quintet for Clarinet, Horn and String Trio, which is widely regarded as the finest of his chamber works. Following the Hamburg premiere in late March 1925 the piece was again performed towards the end of July at the Donaueschinger Musiktage. Kaminski had long since been working on his next big composition, the Magnificat, which he finally completed on October 4 in Zurich, just in time for its first performance under the Music Director at Kiel, Fritz Stein, to whom the score was delivered on October 7. The Magnificat was performed in Kiel, as planned, on 2 November 1925, sandwiched between Kaminski’s Psalm 69 and Beethoven’s Ninth Symphony. The full score and the piano arrangement of the Magnificat were published by Universal Edition in 1926. With its solemn, festive sensitivity it became an overnight success and was widely and regularly performed by prominent artists until the seizure of power by the National Socialists, when a temporary ban on performance of Kaminski’s works and, inevitably, their proscription contributed to the suppression of this, his most enduringly popular work for years.
After the premiere its conductor, Fritz Stein wrote — presumably with Kaminski’s approval — an extremely persuasive introduction to the piece for the periodical Pult & Taktstock that contains inter alia the following:

"Undoubtedly for the very first time in the history of sacred music, the Magnificat, the Virgin Mary’s Hymn of Praise from St Luke’s Gospel (Chapter 1), is combined with the preceding Annunciation. Kaminski visualises both the transcendent and the dramatic aspects of the text: ’as a song of praise to Mary inspired by the glad tidings of the Annunciation and hence the rejoicing of every soul that is touched by that same light’. […]
"From within Eternity and its mysterious tremors (low strings, solo violin and viola harmonics, celesta, harp), the Annunciation is sung by an invisible choir of angels, as the harbingers of Light, whilst the solo viola, symbolising Mary’s virgin soul, leads into the Magnificat and accompanies the Virgin’s Hymn of Praise almost to its conclusion. Mary’s first paean, 'Magnificat anima mea dominum', the main theme, is intoned in a solemn hymn that leads to an Allegro in fugal style, in which the solo voice drives the theme onward in even greater jubilation. Now and then the celestial choir exclaims 'Hosanna in excelsis'. When the climax is reached the solo voice drops in deep emotion at the words 'Quia respexit […]' — 'for he hath regarded the low estate of his handmaiden' — which conclude the first movement in a mood of humble, devout and febrile rapture. The second movement (Andante, Allegro), which follows straight on, has similar inner and outer climaxes. The solo viola and the gentle sound of wind instruments lead on to Mary’s 'Ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes' — 'For, behold, from henceforth all generations shall call me blessed'. The orchestra plays psalm Tone 9 from the medieval Magnificat and, in ever-heightening waves of exultation, leads on to the hymn 'Qui potens est et cujus nomen sanctum' — 'For he is mighty and his name is blessed'. The choir joins in jubilation at the Sanctus and then to the fugue from the first part ('Gloria Patri, Filii et Spiritu Sancti' — 'Glory be to the Father, the Son and the Holy Spirit'), in which the solo voice moves forward to one of the last ecstatic expressions of joy, urging the choir onward. Its Amen echoes in the heavenly realms beyond. […]
A large string section is called for. […] The orchestral parts present no particular technical difficulties. It is essential, however, for the players to make a detailed study of the music in order to acquaint themselves with its vital inner substance. Its polyphony, which Kaminski saw as the 'musical embodiment of Life’s eternal laws', requires even the smallest accompanying phrase to be expressed in a conscious, organic manner. […] Intensive preparation at the keyboard together with the solo voice and the violist will drastically reduce the workload at general rehearsals. […] Superficial drama would irrevocably destroy the simple fervour of the Hymn of Praise, bathed in 'radiant silence' and blessed with heavenly grace. […] As with the orchestral parts, the choir should be specially selected, not very large, and, ideally, trained in a cappella singing. It is […] diatonic practically from beginning to end but calls for intensive study, until the singers have mastered the logical pattern and the expressive linear quality of the vocal writing. The invisible choir is accompanied by a harmonium, which should be placed close to and audible only to the choir. […]
The rendering of the first few pages of the score (up to the entry of the choir) presents particular problems because of the unusually broad tempo and the directions for an almost unreal, ethereal dynamics. A 'tense' pianissimo is suspended from the opening bar to bar 10 without fluctuating; […] from this sound one should always be conscious of 'the taste of Eternity on one’s lips' (Kaminski). […] The appoggiaturas in bar 31 and the later ones linked to the melody should be stressed and the accompaniment relaxed (as in bar 162). […] In the introduction to the second movement the woodwind sound should be extremely soft and expressive, the Cantus firmus of the Gregorian chant on the flutes and violins gently emphasised and the entry of the solo voice 'as if on tiptoes'. […]
Translation: Jonathan Price

For performance materials please contact the publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com).

Reprint of a copy from the collection of Wolfgang Rihm, with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2002.