Paul Graener

(geb. Berlin, 11. Januar 1872 – gest. Salzburg, 13. November 1944)

Wiener Sinfonie op. 110

(Symphonie Nr. II, 1941)

I Allegro moderato (p. 1) – Andantino (p. 18) – Tempo I (p. 23)

II Andante sostenuto (p. 30) – Larghetto (p. 32)

III Con moto (p. 48) – Poco meno mosso (p. 53) – Tempo I (p. 57) – Andante (p. 71)

Vorwort

Paul Graener, geborener Paul Hermann Franz Gräner, zählt unter den deutschen Komponisten seiner Generation zu jenen, die einst recht viel gespielt wurden und sich international weitreichender Beliebtheit erfreuten, nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch fast gänzlich in der Versenkung verschwanden. Dies hängt mit der prominenten Rolle Graeners als Kulturschaffender im Dritten Reich zusammen.

Graener, Sohn eines Gürtlermeisters und ab 1881 Sängerknabe im Königlichen Domchor, studierte nach dem Schulabschluss 1890 am Askanischen Gymnasium in Berlin Komposition bei Albert Becker (1834-99), dem Leiter des Domchors, am Veit’schen Konservatorium. Nach dem Studium wirkte er als Dirigent in Stendal, Bremerhaven, Königsberg und Berlin. 1898-1906 war Graener Musikdirektor am Theatre Royal Haymarket in London und unterrichtete an der Royal Academy of Music Komposition. Einem Intermezzo als Kompositionslehrer am Neuen Wiener Konservatorium folgte die sehr erfolgreiche Zeit in Salzburg, wo er 1911-13 Direktor des Mozarteums war. 1914 zog er nach München, 1920-27 war er Kompositionsprofessor am Leipziger Konservatorium. 1930 wurde Graener zum Direktor des Stern’schen Konservatoriums in seiner Heimatstadt Berlin ernannt und leitete ab 1934 eine Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste. Im selben Jahr wurde er nach Wilhelm Furtwänglers Rücktritt Vizepräsident der Reichsmusikkammer und behielt dieses Amt bis 1941. Bei der Bombardierung Berlins wurde 1944 seine Wohnung mit allen Manuskripten zerstört.

Graener war ein äußerst geschickter Komponist in der deutschen Kapellmeistertradition. Seine Grundausrichtung war konservativ, doch war er zugleich offen für impressionistische und ganz gelegentlich auch expressionistisch freitonale Einflüsse. Er schrieb zwei Symphonien (die Symphonie in d-moll von 1912 und die späte Wiener Symphonie op. 110 von 1941), eine Symphonietta für Streicher und Harfe (1910), je ein Konzert für Klavier (1925), Cello (1927), Violine (1937) und Flöte (1943) sowie viele weitere Orchesterwerke, die in jüngster Zeit nach und nach wiederentdeckt werden.

Die melodiöse Gediegenheit und stilisierte Eleganz von Graeners Tonsprache erfahren in letzter Zeit zunehmende Beliebtheit, und dabei fällt auf, dass das Spätschaffen aus der Zeit des Dritten Reichs insgesamt noch mehr an den Idealen der romantischen Vergangenheit orientiert ist als seine Mitte der zwanziger bis Anfang der dreißiger Jahre entstandenen erfolgreichsten Werke wie die Gotische Suite op. 74, die Comedietta op. 82, die Kammerorchester-Suite ‚Die Flöte von Sanssouci’ op. 88 oder die Sinfonia breve op. 96 in ihrem preziös klassizistischen Ton (die ‚Flöte von Sanssouci’ dirigierte Toscanini noch 1938 in New York). Im Anschluss an seine Zeit als Direktor des Sternschen Konservatoriums (1930-33) leitete Graener eine Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste, in der er allerdings fast keine Studenten hatte (bis 1941). Seit 1933 war Graener zudem Vizepräsident der Reichsmusikkammer und Leiter der Fachschaft der Komponisten daselbst, seit 1934 Ehrenpräsident des Arbeitskreises nationalsozialistischer Komponisten. Graener gehörte zu denen, die sich nach Hitlers Machtübernahme endlich verstanden und gewürdigt empfanden und ob ihrer konservativen Haltung nun Begeisterung statt Spott ernteten. Im Februar 1935 erschien in ‚Das Theater’ ein Beitrag Graeners ‚Vom Wesen deutscher Musik’, in welchem er genau das, was ihm selbst am meisten behagte, als das Echte, Gesunde und Wahrhaftige für alle anpries und damit ein verstecktes Portrait seines eigenen Schaffensethos’ lieferte: „Das Wesen der deutschen Musik ist das Wesen des deutschen Menschen schlechthin. Sie ist voller Romantik, von tiefer phrasenloser Frömmigkeit, sie ist verträumt, nachdenklich, und doch wieder voller Kraft und Bewegung. Sie ist herb, ja manchmal verschlossen, ist keusch, aber auch wieder voll Leidenschaftlichkeit, fest gebunden in ihren ewigen Gesetzen und doch auch von vorwärtsstürmender Freiheit. Sie ist – nicht zuletzt – von guter Handwerklichkeit, da sie in ihrem tiefsten Wesen die Gründlichkeit und den Fleiß deutscher Art bekundet. Das ist das Wesen der deutschen Musik, wie sie uns in ihrer Idealgestalt vorschwebt.“

Am 3. September 1935 führte Graener, der im Frühjahr mit seiner neuen Kleist-Oper ‚Der Prinz von Homburg’ op. 100 einen großen Erfolg hatte verzeichnen können, in seiner Rede zur Tagung des Berufsstandes der deutschen Komponisten aus, „Kunst im nationalsozialistischen Sinne“ habe „zum obersten Gesetz die Reinheit der Kunst und die enge Verbundenheit des Künstlers mit seinem Volk, das heißt sie muss bodenständig, wahrhaft und echt, im besten Sinne volkstümlich sein. […] In den letzten Jahren hat sich eine ungemein große Anzahl von Komponisten darangemacht, eine Unzahl von Märschen und Liedern für die Bewegung zu schreiben. In den meisten Fällen wurde versucht, für diese Stücke durch Widmungen an hochgestellte Persönlichkeiten eine Propagandamöglichkeit zu schaffen. Sieht man sich die Sachen genauer an, so sind sie, mit geringen Ausnahmen, von jener dilettantischen Betriebsamkeit, der jede politische Richtung recht ist, sofern sie nur für die persönlichen Zwecke der betreffenden Verfasser ausgewertet werden kann. Gewiss, ein schöner Marsch, ein gutes Lied, sind uns willkommen. Aber damit sind die Möglichkeiten einer nationalen Musik noch lange nicht erschöpft, hier bieten sich vielmehr Aufgaben schönster Art für die ernste wie für die heitere Muse.“

Die ‚Wiener Sinfonie’ vollendete Graener 1941, und sie steht wie ein symbolisches Bekenntnis zu seinen Idealen der Klangschönheit, formalen Balance, Rückwärtsgewandtheit der stilistischen Mittel, des nostalgischen Frohsinns und des kultivierten Maßhaltens in allen Dingen. Vom Drama der Zeit spürt man in dieser Musik absolut nichts, man könnte sie gar als eine Apotheose der bürgerlichen Flucht in den Traum von der guten alten Zeit bezeichnen. Dabei gehört sie zweifellos zu Graeners stärksten, ausgewogensten Werken, und man spürt darin auch nichts von seiner opportunistischen Haltung, die er sich teils aufgrund der hohen Verschuldung nach vielen Seiten hin selbst eingebrockt haben dürfte. Diese Musik vermag mit Eleganz, Feinsinn, gepflegter Schönheit zu bestechen. Knut Andreas widmet in seiner kenntnisreichen Monographie ‚Zwischen Musik und Politik. Der Komponist Paul Graener’ (Berlin, 2008) der ‚Wiener Sinfonie’ eine umfangreichere Betrachtung, in welcher er auf die enge Themenverwandtschaft zu Graeners erfolgreichstem Orchesterwerk, der neobarocken Suite ‚Die Flöte von Sanssouci’ op. 88, verweist. Bemerkenswert ist in der Tat die Tonartenfolge der drei Sätze: F-Dur – Unterquint B-Dur, in dessen Paralleltonart g-moll modulierend – Oberquint C-Dur. Und offenkundig ist die Zweiteilung des Finales, wo das geschwinde von einem viel langsameren Tempo abgelöst wird, ein in der Problematik der Frage der formalen Schlüssigkeit gemeinsames Merkmal mit den Finali von Beethovens ‚Eroica’ (Beethoven hängt noch eine beschleunigte Codetta an), Mendelssohns Schottischer Symphonie oder Sibelius’ Erster Symphonie.

Die Namensgebung seines Werkes erklärte Graener kurz und bündig so: „Die schönsten Sinfonien sind in Wien entstanden.“ Dem wollte er also auf seinen alten Tage eine weitere Schönheit hinzufügen! Zur Uraufführung gelangte die ‚Wiener Sinfonie’ am 25. November 1941 in der alten Berliner Philharmonie durch die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Hans Knappertsbusch (1888-1965).

Bei der Bombardierung Berlins im Februar 1944 wurde die Wohnung der Familie Graener komplett zerstört. Dabei wurden auch viele Handschriften des Komponisten vernichtet, und es ist nicht unmöglich, dass sich unter diesen das Autograph der ‚Wiener Sinfonie’ befand. Im März 2009 nahm das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera in Gera unter Eric Solén für das schwedische Label Sterling erstmals in jüngerer Zeit Orchesterwerke Graeners auf, überwiegend aus später Zeit: neben der ‚Wiener Sinfonie’ die Suite ‚Die Flöte von Sanssouci’ op. 88, das Flötenkonzert op. 116 (Graeners letzte größere vollendete Komposition) und die Tondichtung ‚Turmwächterlied’ op. 107.

„Er ist kein Genie, aber ein guter Könner“ (Tagebucheintrag Joseph Goebbels über Paul Graener, 4. Januar 1940). Nach dem Kriege wurde Graener als Hätschelkind der Nazi-Kulturpolitik umgehend vergessen, und vielleicht gibt es ja heute, im Zeitalter des Neo-Pluralismus, wieder ein größeres Interesse an dieser geradezu demonstrativ neoklassizistisch-idyllischen Musik, deren souverän durchgeführte handwerklichen und immanent-ästhetischen Qualitäten unbestreitbar sind.

Christoph Schlüren, März 2015

Aufführungsmaterial ist erhältlich vom Verlag Ernst Eulenburg & Co. GmbH, Mainz (www.schott-music.com oder www.schott-musik.com).

Paul Graener

(b. Berlin, 11 January 1872 – d. Salzburg, 13 November 1944)

Symphony No. 2 (“Vienna Symphony”), op. 110

(1941)

I Allegro moderato (p. 1) – Andantino (p. 18) – Tempo I (p. 23)

II Andante sostenuto (p. 30) – Larghetto (p. 32)

III Con moto (p. 48) – Poco meno mosso (p. 53) – Tempo I (p. 57) – Andante (p. 71)

Preface

Paul Graener (born Paul Hermann Franz Gräner) is one of those German composers who were frequently performed and internationally popular in their day only to vanish almost completely after the Second World War. The reason lies in his prominent role as a creative artist in the Third Reich.

Graener, the son of a master metalworker, was a boy soprano in the Royal Cathedral Choir from 1881. He earned a diploma from the Askanian Grammar School in Berlin in 1890 and went on to study composition at the Veit Conservatory with the head of the cathedral choir, Albert Becker (1834-99). After completing his studies he worked as a conductor in Stendal, Bremerhaven, Königsberg, and Berlin. He then became the music director of London’s Haymarket Theater (1898-1906) and taught composition at the Royal Academy of Music. There followed an interim period as a composition teacher at the New Vienna Conservatory, after which he entered a very successful period in Salzburg as director of the Mozarteum (1911-13). He then moved to Munich in 1914 and became professor of composition at Leipzig Conservatory (1920-27). In 1930 he was made head of the Stern Conservatory in his native Berlin, where from 1934 he held a master class at the Prussian Academy of Arts. In the same year (following Wilhelm Furtwängler’s resignation) he became vice-president of the Reich Chamber of Music, a position he retained until 1941. His apartment and all his manuscripts were destroyed during a Berlin air raid in 1944.

Graener was an extremely adroit composer in the tradition of German Kapellmeistermusik. Though his basic alignment was conservative, he was open to influences from Impressionism and occasionally from the free tonality of Expressionism. He wrote two symphonies (the present Symphony in D minor of 1912 and the late Vienna Symphony, op. 110, of 1942) as well as a Symphonietta for strings and harp (1910), one concerto each for piano (1925), cello (1927), violin (1938), and flute (1943), and many other orchestral works that are gradually undergoing a rediscovery.

The suave melodic writing and stylized elegance of Graener’s musical idiom has become increasingly popular in recent years, making it noticeable that his late works from the period of the Third Reich are, on the whole, more closely allied with the bygone ideals of Romanticism than his most successful works of the mid-1920s and the early 1930s, including the Gothic Suite (op. 74), the Comedietta (op. 82), the suite for chamber orchestra entitled The Flute of Sanssouci (op. op. 88), and the bejeweled classicizing inflections of Sinfonia breve (op. 96). (Indeed, Toscanini conducted the The Flute of Sanssouci in New York as late as 1938.) Following his years as director of the Stern Conservatory (1930-33), Graener headed a master class in composition at the Prussian Academy of Arts until 1941 – a class, however, in which he had practically no students. He was also appointed vice-president of the Reich Chamber of Music and head of its composers’ chapter in 1933, and from 1934 he was the honorary president of the Council of National Socialist Composers. Graener was one of those composers who felt at last understood and appreciated after Hitler’s accession to power, and who now reaped enthusiasm instead of scorn for their conservative leanings. In February 1935, the journal Das Theater published his article “Vom Wesen deutscher Musik” (On the nature of German music), in which he lauded precisely the things that pleased himself the most as being truly genuine, healthy, and true for everyone else. He thereby provided an oblique portrait of his own creative ethos:

“The nature of German music is the nature of the German people itself. It is full of Romanticism and a deeply felt, unaffected piety. It is dreamy and contemplative, yet it abounds in power and motion. It is harsh, sometimes even impenetrable and chaste, yet full of passion. It is firmly embedded in its eternal laws, yet propulsive in its freedom. Not least of all it is well-crafted, for in its deepest essence it bears witness to Germanic thoroughness and industry. That is the nature of German music as it appears to us in its ideal form.”

On 3 September 1935 Graener, having just achieved great success that spring with his new Kleist opera, Der Prinz von Homberg (op. 100), delivered a speech at the congress of the German Professional Composers Guild in which he explained that

“art, in the National Socialist sense of the term, has as its supreme law the purity of art and the intimate bonds pertaining between the artist and his people. It must therefore be true, genuine, and rooted in its native soil, and thus popular in the best sense. […] In recent years an uncommonly large number of composers have set out to write a multitude of marches and songs for the Movement. In most cases they have sought to obtain publicity for these pieces by dedicating them to high-ranking figures. But when looked at more closely, the pieces turn out, with very few exceptions, to be of an amateurish bustle suitable to any political stripe, and are thus made solely for the personal purposes of their respective creators. To be sure, we will always welcome a nice march or a good song; but this falls well short of exhausting the potential of a national music. On the contrary, here we find tasks of the best sort for both the serious and the light Muse.”

Graener’s Vienna Symphony, completed in 1941, stands like a symbolic profession of faith, upholding his ideals of euphony, formal balance, backward-looking stylistic devices, nostalgic gaiety, and cultivated moderation in all things. The dramas of his era left not a single mark on this music; one might even call it the apotheosis of bourgeois flight to days of yore. All the same, it is unquestionably one of his most powerful and poised works, and we sense nothing of the opportunistic attitude that he probably brought down upon himself, partly owing to his great encumbrances in many directions. The music captivates with its elegance, refinement, and cultivated beauty. Knut Andreas, in his knowledgeable monograph Zwischen Musik und Politik: Der Komponist Paul Graener (Berlin, 2008), devotes a fairly long section to the Vienna Symphony, pointing out its close thematic ties to Graener’s most successful orchestral work, the neo-baroque suite The Flute of Sanssouci (op. 88). The sequence of keys in its three movements (F major, a 5th lower to B-flat major modulating to the relative G minor, and a 5th higher to C major) is indeed remarkable; and the bipartite subdivision of the finale, with a fast tempo giving way to a much slower one, is obviously a feature which, in its solution to the problem of formal consistency, it shares with the final movements of Beethoven’s Eroica (Beethoven appended an accelerated codetta), Mendelssohn’s Scottish and Sibelius’s First.

Graener’s pithy explanation of the work’s title was that “the most beautiful symphonies originated in Vienna.” Now he decided, at an advanced age, to add another beauty to that gallery. The symphony received its première in Berlin’s old Philharmonie on 25 November 1941, with the Berlin Philharmonic conducted by Hans Knappertsbusch (1888-1965).

With the bombardment of Berlin in February 1944, the Graener family apartment was utterly destroyed, along with many of his manuscripts. Among them may have been the autograph of the Vienna Symphony. In March 2009 the Altenburg-Gera Philharmonic, under the direction of Eric Solén, recorded Graener’s orchestral music for the Swedish label Sterling for the first time in recent decades. Most of the works came from his late period: the Vienna Symphony, The Flute of Sanssouci (op. 88), the Flute Concerto (op. 116, the last large-scale work he was able to complete), and the symphonic poem Turmwächterlied (op. 107).

“He’s not a genius, but a solid craftsman,” as Joseph Goebbels noted in his diary on 4 January 1940. When the war came to an end, Graener, the darling of the Nazis, was instantaneously forgotten. Perhaps today, in the age of neo-pluralism, interest will again grow for this almost ostentatiously idyllic neo-classical music of undeniably superb workmanship and immanent aesthetic qualities.

Translation: Bradford Robinson, 2015

For performance materials please contact the publishers Ernst Eulenburg & Co. GmbH, Mainz (www.schott-music.com oder www.schott-musik.com).