Heinrich Kaminski

(geb. Tiengen, 4. Juli 1886 — gest. Ried bei Benediktbeuern, 21. Juni 1946)

Der 69. Psalm (1914)

für 8stimmigen gem. Chor, Knabenchor, Tenorsolo & Orchester
Wuchtig, in schwerem Fluss (p. 1) – Langsam (p. 7) – Sehr ruhig, fließend (p. 8) – Tempo I (p. 11) – Ruhig (p. 28)
– Feierlich (p. 43) – Poco allegro (p. 55) – Sehr ruhig (p. 69) – Noch langsamer, feierlich (p. 71) – Andante (p. 72) –
Tempo I (Poco allegro, p. 73) – Adagio – Allegro (p. 85) – Tempo di marcia (p. 86) – Alla breve (p. 91)

Vorwort

Heinrich Kaminski war einer der wenigen Komponisten der Epoche des Umbruchs von der nachromantischen, dur-moll- tonalen Tradition zur sogenannten Moderne, der es schaffte, eine Kontinuität über den Paradigmenwechsel hinweg zu bauen und einen eigenen, völlig unverwechselbaren, zeitlosen Stil auszuprägen, der weder ein Echo des Überlieferten ist noch sich dagegen stellt oder davon abschneidet. Sein künstlerisches Motto war ‚Evolution, nicht Revolution’, und die klare Absicht war, die Errungenschaften der höchsten Kunst deutscher Kontrapunktik, ausgehend von Johann Sebastian Bach, dem späten Beethoven und Anton Bruckners symphonischer Größe, in neue Gefilde des Ausdrucks und der inter- kulturellen Verbindung fortzuführen. Dies ist ihm in überzeugender und auch handwerklich makellos vollendeter Weise gelungen, und es gelang ihm, wesentliche Aspekte seines künstlerischen Tuns und Ethos’ an seine begabtesten und ernst- haftesten Schüler, also an Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85) und Heinz Schubert (1908-45) weiterzuvermitteln. Mitte der zwanziger Jahre bis Anfang der dreißiger Jahre galt Kaminski als zentrale Stimme des neuen Musikschaffens jenseits von Reaktion und Avantgarde, doch mit dem Dritten Reich wurde seine Kunst zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Kein Wunder bei einem Mann, der Bismarck als ursächliches Element ausmachte, der „dem ehrlichen und bewunde- rungswürdig einsichtigen Bemühen des damaligen Kronprinzen Friedrich III. (im Verein mit seiner Gemahlin und seiner Schwester, der Großherzogin und seinem Schwager, dem Großherzog von Baden) einen wirklichen Bund der deutschen Länder (ohne preußische Hegemonie!) zu schaffen, seinen verbissen-zähen und leider nur allzu erfolgreichen Widerstand entgegensetzte – so dass ab 1871 die Verpreußung Deutschlands in immer ausgesprochenerer Form ihren Weg zu diesem katastrophalen Ende gehen konnte“. Man hat Kaminskis Schaffen zwar nicht mit Aufführungsverbot belegt, doch war es unerwünscht und wurde dementsprechend bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere Heinz Schubert in Flensburg und Rostock) nicht mehr aufgeführt. Nach dem Kriege hätte seine Zeit wiederkommen können, doch war ihm nicht mehr als ein Jahr vergönnt, und es ist auch höchst zweifelhaft, ob der faschistoide Geist des seriellen Materialismus als Diktat in der Gegenwartsmusik seinem Wirken eine ausreichende Nische gelassen hätte. Da seine Musik zudem von höchster Komplexität und auch instrumentaltechnisch hohen Schwierigkeiten geprägt ist, hat bis heute keine Kaminski- Renaissance stattgefunden, auch wenn sich führende Musiker – wie Lavard Skou Larsen in Neuss – mit Leidenschaft und Kompetenz für sein Schaffen einsetzen. Die wichtigsten Werke Kaminskis gehören den Gattungen der zum Orient erweiterten Sakralmusik, der Orchestermusik und der Kammermusik an (nicht vergessen seien hierüber seine beiden wenig bühnenwirksamen, gewissermaßen vergleichbar Wagners ‚Parsifal’, Enescus ‚Œdipe’ oder Szymanowskis ‚Krol Roger’ mystisch durchtränkten Musiktheaterwerke ‚Jürg Jenatsch’ und ‚Das Spiel vom König Aphelius’). Kaminski hat mit seinem Wirken eine machtvolle, vielschichtige Strömung initiiert, die infolge der Verstrickungen der deutschen Geschichte gewaltsam abgebrochen wurde. Vielleicht ist es heute möglich, daran anzuknüpfen und die Widersprüche der Geschichte zu transzendieren.
Bereits 1914, nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, vollendete Heinrich Kaminski die Vertonung des 69. Psalms, sein erstes Monumentalwerk, und legte ihn Bruno Walter, damals Musikdirektor der Bayerischen Staatsoper, vor. Dieser ließ ihn wissen, er sei ein wahrhaft „Berufener“, und versprach ihm, sobald die äußeren Umstände es wieder zuließen, die Uraufführung, die er der von Kaminskis Schüler Carl Orff und im Gefolge vom Kaminski- Biographen Hans Hartog überlieferten Legende zufolge Anfang Mai 1920 (andere Quellen sprechen von 1919) mit dem Münchner Lehrergesangverein in München geleitet haben soll – ein entsprechender Nachweis ließ sich allerdings nicht finden, und Hartog vermerkt dazu lediglich, die Presse habe das Konzert aus unerfindlichen Gründen ignoriert. Wir su- chen weiter nach dem exakten Ort und Datum. Stattdessen ist jedenfalls die Aufführung als Schlussstück beim abschlie-
ßenden 3. Festkonzert auf dem 51. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins (ADMV) in Nürnberg im großen Saale des Kulturvereins am 18. Juni 1921 unzweideutig als Uraufführung ausgewiesen (was möglicherweise unzutreffend ist, sich vielleicht aber auch auf eine frisch revidierte Fassung bezieht, die dann auch im Druck erschien). Das Konzert stand unter der Leitung des in Straßburg geborenen Dirigenten August Scharrer (1866-1936), der 1914-25 als Städtischer Kapellmeister in Nürnberg wirkte. Zu Beginn erklang die Chromatische Fantasie und Fuge für Orgel von Wilhelm Middelschulte (1863-1943), gefolgt von der von Adolf Friedrich Graf von Schack (1815-94) übersetzten Omar Chaijam-Vertonung ‚Weisheit des Orients’ op. 24 für Soli, gem. Chor und großes Orchester von Max Ettinger (1874-1951) mit Amalie Merz-Tunner (S, 1895-1963), Luise Willer (A, 1888-1970), Hans Depser (T, geb. 1890) und Max Kraus (B). Den krönenden Abschluss des Tonkünstlerfests bildete Kaminskis 69. Psalm, gesungen vom Tenor Hans
Depser, dem Lehrergesangverein Nürnberg, dem St. Lozenchor, der Elementarchorklasse des Nürnberger Städtischen Konservatoriums und dem Chor der evangelischen höheren Mädchenschule der Freien Reichsstadt. Die Kritik bejubelte das „langersehnte Meisterwerk“, und Kaminski stieg schnell auf zu einem der führenden Komponisten der Weimarer Republik. 1930 nahm Kaminski eine Revision der Partitur seines 69. Psalms vor, die im Archiv der Heinrich Kaminski- Gesellschaft eingesehen werden kann, uns jedoch leider nicht als Druckvorlage zur Verfügung stand.
Die Vertonung des 69. Psalms mit seinen zentralen ‚Wachet auf!’-Anrufungen zwei Wochen nach Kriegsbeginn, inmitten des hysterisch-begeisterten, international hasserfüllten nationalistischen Getriebenseins, zu vollenden, war nur für einen Menschen möglich, der sich nicht blind parteiergreifend in den Grabenkämpfen der widerstreitenden Ansichten verlor. Dieses ‚Wachet auf’ ist freilich bis heute ungehört verhallt. Hans Redlich bemerkte über Kaminskis 69. Psalm 1928 in den ‚Musikblättern des Anbruch’: „Das Werk enthält schon alle Elemente Kaminski’schen Schaffens […] Seine drei Sätze verbinden motettenartige Technik mit kantatenhafter Episodik. Die starke Fugierung sowie die Dominante eines zentral postierten Chorals bürgen für die Konsistenz der Faktur. Dem freien Fugato des Anfangs: ‚Gott, hilf mir…’ fol- gen die Innigkeit des Tenorsolos und die flehenden Bitten des sekundierenden Chors. Eine Choralvariation des ‚Wachet auf’-Chorals, die in ein von Bach inspiriertes Halleluja ausklingt, bringt die psychologische Wendung […] und bildet zugleich die formale Brücke zum dritten Satz, einer grandios gesteigerten Fuge (sequenzierenden Orgeltyps) mit zwei Kontrasubjekten, deren eines aus dem […] Hauptthema entsteht, während das andere – von einem entfernt postierten Knabenchor intoniert – sich als der erste Choralvers des ‚Wachet auf’-Chorals entpuppt.“

Christoph Schlüren, 2015

Aufführungsmaterial ist zu beziehen vom Originalverlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Universal Edition AG, Wien, 2002/2015.
Bibliographie: Constantin Brunck, „58. Tonkünstlerfest in Nürnberg,“ Neue Zeitschrift für Musik, 88/14 (July 2, 1921):
363-64.

Heinrich Kaminski

(b. Tiengen, 4 July 1886 — d. Ried nr. Benediktbeuern, 21 June 1946)

Psalm LXIX (1914)

for eight-voice mixed chorus, boys’ chorus, solo tenor and orchestra
Wuchtig, in schwerem Fluss (p. 1) – Langsam (p. 7) – Sehr ruhig, fließend (p. 8) – Tempo I (p. 11) – Ruhig (p. 28)
– Feierlich (p. 43) – Poco allegro (p. 55) – Sehr ruhig (p. 69) – Noch langsamer, feierlich (p. 71) – Andante (p. 72) –
Tempo I (Poco allegro, p. 73) – Adagio – Allegro (p. 85) – Tempo di marcia (p. 86) – Alla breve (p. 91)

Preface

In the turbulent years of transition from the post-romantic tonal tradition to so-called modernism, Heinrich Kaminski was one of the few composers who managed to maintain continuity despite the change of paradigms, and to fashion a distinctive, wholly unmistakable and timeless style that neither echoes nor denies nor obstructs the past. His artistic motto was “Evolution, not Revolution,” and his clear intention was to transport the supreme achievements of German counter- point, from Johann Sebastian Bach and late Beethoven to the symphonic grandeur of Anton Bruckner, into new realms of expression and intercultural cohesion. In this he succeeded convincingly and with flawless craftsmanship. He also suc- ceeded in conveying essential aspects of his artistic bearing and ethos to his most gifted and earnest pupils, particularly Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985) and Heinz Schubert (1908-1945). From the mid-1920s to the early 1930s he was considered a central voice in contemporary music, a figure standing above reaction and avant-garde alike. Yet his art was condemned to insignificance by the Third Reich. This is hardly surprising for a man who saw in Bismarck the “primary source of the dogged, headstrong, and unfortunately all-too successful resistance to the honest and admirably perspicacious efforts of Crown Prince Friedrich III (in conjunction with his spouse and his sister, the Grand Duchess, and his brother-in-law, the Grand Duke of Baden) to create a genuine federation of German lands (without Prussian he- gemony!), so that beginning in 1871 the Prussianization of Germany was able to proceed ever more viciously along its path to this catastrophic end.” Though Kaminski’s music escaped being blacklisted, it was considered undesirable and no longer performed, with few exceptions (especially Heinz Schubert in Flensburg and Rostock). With the cessation of hostilities his day might well have come, but he only had one more year to live, and it is highly unlikely that the crypto- fascist spirit of total serialism, that bane of modern music, would have granted him a sufficiently large niche in which to operate. As his music is also extremely complex and very difficult to perform, there has yet to be a Kaminski renaissance, although some leading musicians, such as Lavard Skou Larsen in Neuss, have taken up his cause with passion and exper-
tise. His major creations belong to the genres of sacred music (with orientalizing tinges), orchestral music, and chamber music. Nor should we forget his two basically untheatrical stage works, Jürg Jenatsch and Das Spiel vom König Aphelius, whose mystic ambience brooks comparison with Wagner’s Parsifal, Enescu’s Œdipe, and Szymanowski’s Krol Roger. Kaminski’s work gave rise to a mighty and multi-layered current violently cut short by the vicissitudes of German history. Perhaps it is possible today to draw on that current and to rise above the contradictions of history.
Kaminski completed his setting of Psalm LXIX, his first monumental composition, in 1914, just a few days after the outbreak of the First World War. He presented it to Bruno Walter, then the music director of the Munich Opera, who pro- nounced him “a man of supreme talent” and promised to give the work its première as soon as circumstances permitted. According to a legend handed down by Kaminski’s pupil Carl Orff, and consequently by Kaminski’s biographer Hans Hartog, this première was duly given in Munich by Walter and the Munich Teachers’ Choral Society in early May 1920 (other sources speak of 1919), though there is no firm evidence that this performance actually took place (Hartog merely notes that the press ignored the concert for inexplicable reasons). The search is still on for the exact place and date of this event. Instead, what is documented is a performance at the end of the third and final concert of the 51st Festival of the General German Musical Association (ADMV), held in the Grand Auditorium of Nuremberg’s Cultural Association on 18 June 1921. This event is known as the work’s première, though this may well not be the case (perhaps it involved a newly revised version later issued in print). The concert took place under the baton of the Strasbourg-born conductor August Scharrer (1866-1936), Nuremberg’s municipal conductor from 1914 to 1925. It opened with Chromatic Fantasy and Fugue for Organ by Wilhelm Middelschulte (1863-1943), followed by Wisdom of the Orient for mixed chorus and full orchestra (op. 24) by Max Ettinger (1874-1951), this being a setting of Omar Khayyám poems in a German translation by Adolf Friedrich Graf von Schack (1815-1894), sung by soprano Amalie Merz-Tunner (1895-1963), contralto Luise Willer (1888-1970), tenor Hans Depser (b. 1890), and bass Max Kraus. The crowning glory of the festival was Kaminski’s Psalm LXIX, sung by tenor Hans Depser, the Nuremberg Teachers’ Choral Society, the Choir of St. Lozen’s, the elemen- tary school choir of Nuremberg City Conservatory, and the chorus of Nuremberg’s Protestant Upper Girls’ School. The critics rejoiced at the “long awaited masterpiece,” and Kaminski rapidly assumed a place among the leading composers of the Weimar Republic. In 1930 he revised the score of Psalm LXIX, producing a version which can be consulted in the archive of the Heinrich Kaminski Society, but which was unfortunately unavailable to us for publication.
That Kaminski was able to complete his Psalm LXIX, with its central acclamations “Wachet auf!” (Awake!), two weeks after the outbreak of war, amidst hysterical euphoria and hate-filled, jingoistic nationalism, was possible only for a man whose sight was undimmed by partisanship and the battle of conflicting opinions. To be sure, this “Awake!” has fad- ed away and remains unheard to the present day. In 1928 Hans Redlich had the following to say of Psalm LXIX in Musikblätter des Anbruch:

This work already contains every element of Kaminski’s art. […] Its three movements unite a motet-like technique with episodes reminiscent of the cantata. The dense fugal writing and the dominance of a centrally posted chorale ensure the consistency of the compositional fabric. The free fugato on the opening “Gott, hilf mir …” [God, help me] is followed by the intimacy of the tenor solo and the heartfelt supplication of the choir as it sounds its agreement. A chorale variation on the hymn Wachet auf [Sleepers, awake!], ending in a hallelujah inspired by Bach, brings about the psychological turning point […]. It also creates a formal bridge to the third movement, an immense escalating fugue (organ-like sequences) with two counter-subjects, of which the first emerges from the […] main subject while the other, intoned by a distant boys’ choir, turns out to be the first stanza of Wachet auf.

Translation: Bradford Robinson

For performance materials please contact the publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com). Reprinted with kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2002/2015.
Bibliography: Constantin Brunck, “58. Tonkünstlerfest in Nürnberg,” Neue Zeitschrift für Musik 88, no. 14 (July 2,
1921): 363f.