Heinrich Kaminski
(geb. Tiengen, 4. Juli 1886 — gest. Ried bei Benediktbeuern, 21. Juni 1946)
Werk für Streichorchester (1916/27)
Bearbeitung des Streichquintetts fis-Moll
von
Reinhard Schwarz-Schilling
I 1. Satz p. 3
II Andante p. 14
III Allegro grazioso - Andantino - Allegro leggiero - Molto tranquillo - Allegro p. 21
IV Fuga p. 35
Vorwort
1914 vollendete Heinrich Kaminski die Vertonung des 69. Psalms, sein erstes Monumentalwerk, und legte ihn Bruno Walter, damals Musikdirektor der Bayerischen Staatsoper, vor. Dieser ließ ihn wissen, er sei ein wahrhaft Berufener, und versprach ihm die Uraufführung (die er dann im Mai 1920 leiten sollte). Ende 1914 begann Kaminski mit der Komposition seines Streichquintetts in fis-moll für 2 Geigen, 2 Bratschen und Cello, welches nicht nur in der Dimension dem Brucknerschen zu vergleichen ist. Die Arbeit daran wurde unterbrochen durch die Sechs Choräle für vierstimmigen gemischten Chor a cappella (komp. 1915, verlegt bei Schott) und zwei Einberufungen zum Kriegsdienst (im März 1915 und im März 1916), die seine Ausmusterung aus gesundheitlichen Gründen zur Folge hatten. Am 4. März 1916 fiel sein enger Freund, der große Maler Franz Marc, in dessen Haus zu Ried bei Benediktbeuern Kaminski bleibendes Gastrecht genoß. Kaminski heiratete und lebte mit seiner Frau Friederike bei der Witwe Maria Marc. Zum Jahresende 1916 vollendete Kaminski dort das Streichquintett. Gertrud Schuster-Woldan, Valentin Härtl, Giacinta della Rocca, Philipp Hass und Johannes Hegar benötigten etwa 25 Proben. Am 12. März 1917 spielten sie im Museum zu München die Uraufführung. Die Zuhörenden waren allgemein ergriffen von dieser „Offenbarung eines jungen Genies … durch die sich der Blick in neues Land öffnet“ (P. F. in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 24. März). Zu den Gratulanten gehörte Bruno Walter, dem Kaminski daraufhin die Reinschrift der Partitur zueignete. Das Werk erschien noch 1917 beim Münchner Verlag Otto Halbreiter im Druck und wurde später von der Universal Edition übernommen.
Zehn Jahre später, im März 1927, machte sich Kaminski an die lange geplante Umarbeitung des Streichquintetts, was, wie er an Hans Reinhardt schrieb, „Erleichterung, genaue Bezeichnung, Handlichmachen“ bedeutete. Die Neufassung erschien im selben Jahr in der »Philharmonia«-Taschenpartitur-Edition im Druck und fand so weite Verbreitung. Das Streichquintett wurde überall in Europa gespielt, und Kaminski galt selbstverständlich als einer der ganz großen Komponisten der Zeit.
Ende Juli 1927 brachte Walter Braunfels seinen Schüler Reinhard Schwarz (später Schwarz-Schilling) mit nach Ried, um diesen Kaminski zum weiteren Studium anzuvertrauen. Schwarz, zu jenem Zeitpunkt schon weit fortgeschritten, sollte Kaminskis geistig vertrautester Schüler werden. Im Sommer besuchte der Verlagsdirektor der Universal Edition, Emil Hertzka, Kaminski in Ried. Er schlug vor, das just revidierte Streichquintett mit seinen orchestral anmutenden Partien, insbesondere in der Fuge, einer Bearbeitung für Streichorchester zu unterziehen. Kaminski stimmte dem Vorschlag nach einigen Tagen Bedenkzeit zu und schrieb an Hertzka, sein Schüler Schwarz sei bereit, diese Arbeit zu übernehmen. Kurz vor Weihnachten stellte Reinhard Schwarz-Schilling die Übertragung fertig, die Teil seines Studiums bei Kaminski geworden war. Kaminski empfand, der Wechsel zwischen Concertino- und Ripieno-Partien würde der Komposition einen neuen Reiz verleihen. Die Bearbeitung erschien 1928 bei der Universal Edition als Werk für Streichorchester. Die Uraufführung dieser Fassung fand am 22. Februar 1929 in Wuppertal unter der Leitung von Franz von Hoesslin statt.
Erst im Jahre 2004, aus Anlass des 100. Geburtstags von Reinhard Schwarz-Schilling, wurde Kaminskis Werk für Streichorchester wieder die verdiente öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Christian Schwarz-Schilling, Sohn des einstigen Kaminski-Schülers, deutscher Bundesminister a. D. und ehemals High Representative der United Nations in Bosnien-Herzegovina, ermöglichte eine auch von der Ernst von Siemens-Musikstiftung geförderte Tournee des Orchestre des Régions Européennes unter der Leitung des einstigen Celibidache-Assistenten Konrad von Abel, die unter dem Motto »Vom Unendlichen« Werke für Streicher von Kaminski und seinen Schülern Schwarz-Schilling und Heinz Schubert (1908-45) u. a. in Benediktbeuern, München, Nidda, Dessau, Berlin, Naumburg, Tiengen und Lyon vorstellte (das Programm enthielt außerdem Reinhard Schwarz-Schillings »Introduktion und Fuge« für Streichorchester und den für Einzelaufführung vorgesehenen Largo-Mittelsatz aus Schwarz-Schillings »Sinfonia Diatonica« sowie Heinz Schuberts »Vom Unendlichen« für Sopran und 5 Streichquintette mit der Solistin Susanne Winter). Nach der Berliner Aufführung erschien in der Tageszeitung »Die Welt« ein Artikel von Volker Tarnow, der Kaminski die gebührende Ehre als vergessenes Genie erwies und unter dem Titel „Geheimes Deutschland der Musik. Komponist, Mystiker, Widerständler: Heinrich Kaminski kehrt zurück“ u. a. schrieb: „Ein junges französisches Orchester sorgt dieser Tage dafür, dass uns zu Kaminski wieder mehr einfällt als nur der Name seines Schülers Carl Orff. […] Kaminski empfing Bachs Geist aus Beethovens Händen mit Bruckners Fingerabdrücken. […]Heute repräsentiert er mehr denn je die der Erde abgewandte Seite des Musikbetriebs – Klassik von einem anderen Stern. Kaum etwas wirkt unzeitgemäßer als die Ästhetik des Zeitlosen. Kaminski aber fragte beharrlich nach dem Sinn menschlichen Seins. Darin liegt seine Größe, seine Querständigkeit. Er blinzelte durch die Butzenscheiben und erblickte die deutsche Musik in ewigem Glanz – oder vielleicht nur das Abendlicht ihres Untergangs? Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Kaminski wiederkehrt oder ein drittes Mal untergeht.“
Bald nach diesen wahrhaft vorbildlich einstudierten Aufführungen unter Konrad von Abel leitete auch der belgische Dirigent Daniel Gazon das St. Christopher Orchestra in Vilnius in einer vorzüglichen Darbietung des Werks. Die ausgezeichnete Ersteinspielung von Kaminskis »Werk für Streichorchester« schließlich besorgte im Februar 2010 die Deutsche Kammerakademie Neuss unter ihrem Chefdirigenten Lavard Skou Larsen für das Osnabrücker Label cpo (veröffentlicht 2012).
Christoph Schlüren, 2013
Aufführungsmaterial ist vom Verlag Universal Edition, Wien (www.universaledition.com), zu beziehen. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition AG, Wien, 2002/2013.
Heinrich Kaminski
(b. Tiengen, 4 July 1886 — d. Ried near Benediktbeuern, 21 June 1946)
Work for String Orchestra (1916, rev. 1927)
Arranged from the String Quintet in F-sharp minor
by
Reinhard Schwarz-Schilling
I 1st Movement (p. 3)
II Andante (p. 14)
III Allegro grazioso - Andantino - Allegro leggiero - Molto tranquillo - Allegro (p. 21)
IV Fuga (p. 35)
Preface
In 1914 Heinrich Kaminski finished Psalm 69, his first monumental composition, and showed it to Bruno Walter, at that time music director of the Bavarian State Opera. Walter let him know that he took him to be a true genius and promised to conduct the first performance (this happened in May 1920). By the end of 1914 Kaminski had started composing his String Quintet in F-sharp minor for two violins, two violas, and cello – a piece that bears comparison with Bruckner’s Quintet, and not only in point of length. His work on the quintet was interrupted by the composition of Six Chorales for mixed four-voice a cappella chorus (comp. 1915, publ. by Schott) and two call-up orders for war duty (May 1915 and May 1916), finally resulting in a medical discharge. On 4 March 1916 his close friend Franz Marc, the great painter, fell at Verdun. Kaminski married and lived with his wife Friederike in the house of Maria Marc, the painter’s widow, in Ried near Benediktbeuern, Bavaria. It was there that Kaminski completed his String Quartet in late 1916. Gertrud Schuster-Woldan, Valentin Härtl, Giacinta della Rocca, Philipp Hass, and Johannes Hegar needed some twenty-five rehearsals to master the piece. On 12 March 1917 they played the first performance in the Munich Museum. The listeners were greatly moved by this “manifestation of a young genius … opening up the panorama of a new world” (P. F. in Münchner Neueste Nachrichten, 24 March). Among the congratulators was Bruno Walter, to whom Kaminski then dedicated the fair copy of the score. The Quintet was issued in print that same year by the Munich publisher Otto Halbreiter, and was later taken over by Universal Edition.
Ten years later, in March 1927, Kaminski carried out the long-projected revision of the String Quintet, primarily, as he wrote to Hans Reinhardt, “to make it easier, more convenient, and more precise in its markings.” The revised version appeared in print that same year in the Philharmonia pocket score series and therefore enjoyed widespread dissemination. The String Quintet was played everywhere in Europe, and Kaminski was universally considered as one of the great composers of his time.
In late July 1927, Walter Braunfels took his pupil Reinhard Schwarz (later Schwarz-Schilling) to Ried and entrusted him to Kaminski for further studies. Schwarz-Schilling, who was already very advanced, soon became Kaminski’s spiritually most intimate pupil. In the summer Emil Hertzka, managing director of Universal Edition, visited Kaminski in Ried. Having discovered many orchestral-like passages in the newly revised String Quintet, particularly in the Fugue, he suggested making an arrangement of the piece for string orchestra. After a few days’ deliberation Kaminski gave his consent and wrote to Hertzka that his pupil Schwarz-Schilling was willing to do the job. Shortly before Christmas Schwarz-Schilling finished the arrangement, which had become part of his studies with Kaminski. Kaminski felt that the alternation of concertino and ripieno would add new luster to the piece. The arrangement was published in 1928 by Universal Edition as Work for String Orchestra. The first performance was conducted by Franz von Hoesslin in Wuppertal on 22 February 1929.
It was not until 2004, to celebrate the centennial of Reinhard Schwarz-Schilling’s birth, that Kaminski’s Work for String Orchestra was again deservedly brought to public attention. The composer’s son Christian Schwarz-Schilling, a retired German federal minister and formerly High Representative of the United Nations in Bosnia-Herzogovina, facilitated a tour of the Orchestre des Régions Européennes, funded by the Ernst von Siemens Music Foundation and conducted by Celibidache’s former assistant Konrad von Abel. The tour, featuring music for strings by Kaminski and his pupils Schwarz-Schilling and Heinz Schubert (1908-1945), traveled inter alia to Benediktbeuern, Munich, Nidda, Dessau, Berlin, Naumburg, Tiengen, and Lyon with a program that also included Schwarz-Schilling’s Introduction and Fugue for string orchestra, the slow middle movement of his Sinfonia diatonica (intended for separate performance), and Heinz Schubert’s Vom Unendlichen for soprano and five string quintets, sung by Susanne Winter. The Berlin performance was followed by an article in the daily newspaper Die Welt by Volker Tarnow, who fittingly honored Kaminski as a forgotten genius. The article, entitled “Germany’s Secret Music: the Return of Heinrich Kaminski, Composer, Mystic, Dissident,” read partly as follows: “Over the last few days a young French orchestra has ensured that Kaminski will remind us of more than the name of his pupil Carl Orff. […] Kaminski received Bach’s spirit from the hands of Beethoven, with Bruckner’s fingerprints. […] Today, more than ever before, he represents the unearthly side of the music industry – classical music from another planet. Hardly anything is less timely than the aesthetic of timelessness. Kaminski ceaselessly probed the meaning of human existence. Therein lies his greatness, his maverick genius. He blinks through the bottle-glass panes and sees German music in eternal splendor – or perhaps only in the twilight of its decline? The next few years will show whether Kaminski will return or suffer a third demise.”
Soon after this truly exemplary performance by Konrad von Abel, the Belgian conductor Daniel Gazon gave an estimable reading of the piece in Vilnius with the St. Christopher Orchestra. Finally, in 2010, the German Chamber Academy of Neuss, under its principal conductor Lavard Skou Larsen, made the excellent premier recording of Kaminski’s Work for String Orchestra, released on the Osnabrück label cpo in 2012.
Translation: Bradford Robinson
For performance materials please contact the publisher Universal Edition, Vienna (www.universaledition.com). Reprinted with the kind permission of Universal Edition AG, Vienna, 2002-13.