Gabriel Pierné

(geb. Metz/Lothringen, 16. August 1863 – gest. Ploujean, Finistère, 17. Juli 1937)

Fantaisie basque sur des thèmes populaires basques espagnols op. 49

(1927)
Spieldauer: etwa 12 Minuten

Vorwort

Gabriel Pierné wurde am 16. August 1863 in Metz geboren. Sein Vater Jean-Baptiste war ein begabter Sänger, der am Pariser Konservatorium studiert hatte und unter anderem am renommierten Théâtre-Italien auftrat. Nachdem der junge Pierné bereits früh durch seine Mutter an das Klavierspiel herangeführt worden war, besuchte er im Alter von fünf Jah- ren erstmals den Solfège- und Klavierunterricht. Als Lothringen in der Folge des deutsch-französischen Krieges von Deutschland annektiert wurde, siedelte die Familie nach Paris über und eröffnete im Quartier Latin eine Musikschule.
1872 wurde Pierné in die Solfège-Klasse des Pariser Konservatoriums aufgenommen; in den folgenden Jahren studierte er (gemeinsam mit Claude Debussy) bei Antoine François Marmontel, Jules Massenet, Émile Durand und César Franck. Nach einem fast dreijährigen Studienaufenthalt in Rom – Pierné hatte im Jahr 1882 den Prix de Rome für seine scéne lyrique Edith gewonnen – kehrte er wieder nach Paris zurück, um in der Musikschule seiner Eltern zu unterrichten. Nachdem der junge Komponist bereits im Jahr 1903 den Posten des stellvertretenden Chefdirigenten der bekannten Colonne-Konzerte angetreten hatte, übernahm er nach dem Tod Édouard Colonnes im Jahr 1910 die Gesamtleitung der Konzertreihe. In dieser Funktion leitete er Uraufführungen von bedeutenden Werken zeitgenössischer Komponisten wie etwa Debussy, Ravel, Stravinsky, Roussel oder d’Indy. In den Sommerpausen widmete sich Pierné ausschließlich der Komposition neuer Werke. So entstand ein umfangreiches Œuvre, das sowohl Vokal- und Instrumentalmusik als auch verschiedenste Bühnenwerke umfasst. Besonders erfolgreich war sein im Jahr 1904 komponiertes und mit dem Grand Prix de la Ville de Paris ausgezeichnetes Oratorium La Croisade des enfants, das in den Folgejahren mehr als 200 Auffüh- rungen in und außerhalb Frankreichs erlebte. Weitere bedeutende Werke Piernés sind die Opern Vendée (1897), La Fille de Tabarin (1901) sowie Fragonard (1934), das poème symphonique L’an mil (1897), die Ballette Cydalise et le chèvre- pied (1923) und Impressions de music-hall (1927). Gabriel Pierné war Kommandant der Ehrenlegion und seit 1924 als Nachfolger von Théodore Dubois Mitglied in der französischen Académie des beaux-arts. Er starb am 17. Juli 1937 in Ploujean – im gleichen Jahr wie Maurice Ravel, Albert Roussel, Louis Vierne und Charles-Marie Widor.
Einen ersten Vorstoß zur Erforschung der baskischen Musik unternahm Charles Bordes in den 1880er Jahren: Der Kom- militone Piernés am Pariser Konservatorium und Mitbegründer der Pariser Schola Cantorum sammelte im Auftrag der französischen Regierung baskische Volksliedmelodien und veröffentlichte sie 1887 in der Sammlung Archives de la tradition basque. Pierné extrahierte aus dieser Publikation das melodische Material für seine im Jahr 1908 entstandene Bühnenmusik zu Pierre Lotis Ramuntcho. In der Ouvertüre des Werkes taucht erstmals der Zortzico auf, ein lebhafter Tanz im 5/8-Takt, dessen punktierter Rhythmus nicht nur im 1919 komponierten Quintette Verwendung findet, sondern auch in der Fantaisie basque sur des thèmes populaires basques espagnols anzutreffen ist. Dieses Konzertstück Piernés für Violine und Orchester, das die Opusnummer 49 trägt, entstand in den Sommermonaten des Jahres 1927 und ist dem Violinisten Jacques Thibaud gewidmet. Die Uraufführung des Werkes fand am 11. Dezember desselben Jahres im Théâtre du Châtelet statt. Pierné dirigierte dabei das Orchester der Concerts Colonne, den Violinpart übernahm der Widmungs- träger Jacques Thibaud.
Die Partitur beruht auf sieben populären Melodien, die Pierné dem 1922 erschienenen Cancionero Vasco entnommen hat, einer Sammlung baskischer Lieder und Tänze, herausgegeben vom spanischen Priester, Musikwissenschaftler und Komponisten José Antonio de Donostia (1886–1956). Das Werk beginnt mit einer verhaltenen, rhythmisch komplexen Einleitung des Orchesters in d-Moll (Assez vif, 2/4-Takt), in der der punktierte Rhythmus des Zortzico durch ein Pauken- solo bereits angedeutet wird (Takt 3). Nachdem einzelne Motivfetzen des Belatsarena-Themas in den Takten 25 bis 28 und 44 bis 47 von der Solovioline vorgestellt werden, entfaltet sich schließlich das melancholische Thema ab Takt 48 in vollständiger Gestalt (Ziffer 5, quasi recitativo). Besonders bedeutsam ist ein Abschnitt, der in Takt 71 beginnt (Ziffer 8): Hier steigert Pierné durch die Verwendung von Pizzicati in den Streichern den dramatischen Ausdruck des Themas und erzielt dadurch ein typisch baskisch-spanisches Klangkolorit. Nach der Wiederkehr des Zortzico-Rhythmus in Takt 86 (Pauken) erklingt auch der Anfang des Belatsarena-Themas erneut, diesmal vorgetragen durch ein Solo der Flöte (Ziffer
10). Der erste Teil der Liedmelodie Amaiur erscheint in Takt 92 und wird zunächst in einem Moll-Kontext von der Solo- violine exponiert. Das Orchester spinnt die Melodie ab Takt 100 schließlich in der Originaltonart G-Dur fort (Ziffer 12). Nach einer Reminiszens des Anfangsthemas in den Takten 120 bis 130 (abwechselnd durch Orchester und Solovioline) nimmt das musikalische Geschehen zusehends an Fahrt auf: Der Zortzico, der in Takt 148 einen neuen Abschnitt der Komposition einleitet (Ziffer 17), bietet dem Solisten mehr Möglichkeiten des virtuosen Ausdrucks und wird zweimal in seiner Originaltonart D-Dur vorgestellt (das zweite Mal unter ausschließlicher Verwendung von Flageoletttönen). In Takt
199 findet ein plötzlicher Stimmungsumschwung statt (Ziffer 21, Vif): Die Geschwindigkeit des Stückes wird erhöht und eine neue baskische Melodie wird von den Trompeten eingeführt (Araiotz). Die Solovioline bekommt in den folgenden Takten die Möglichkeit, sich durch Doppelgriffe, Flageoletttöne, Glissandi und schnelle Läufe virtuos zu entfalten und exponiert schließlich gemeinsam mit dem Orchester zwei neue Tanzmotive: Aranaz (ab Takt 259) und Inguruko Dantza (Takt 268, Ziffer 27). Nach der Einführung eines freudvollen Inguruko-Themas (ab Takt 371, Ziffer 38) greift Pierné zunächst auf das musikalische Material der Eröffnungstakte und die Belatsarena-Melodie zurück (Takt 434, Ziffer 44, Lent). Die abschließende Coda beginnt in Takt 448 (Ziffer 46, Très vif) und beinhaltet vor allem noch einmal das glanzvoll gesteigerte, sowohl vom Orchester als auch von der Solovioline vorgetragene Inguruko-Thema.
Eine erste CD-Einspielung mit dem Solisten Philippe Koch und dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter der
Leitung von Bramwell Tovey ist 2006 beim Label Timpani erschienen.

Konstantin Galluhn, 2015

Aufführungsmaterial ist über die Éditions Musicales Durand-Salabert-Eschig erhältlich.

Gabriel Pierné

(b. Metz, Lorraine, 16 August 1863 – d. Ploujean, Brittany, 17 July 1937)

Fantaisie basque sur des thèmes populaires basques espagnols, op. 49

(1927) Duration: ca. 12 mins.

Preface

Gabriel Pierné was born in Metz on 16 August 1863. His father, Jean-Baptiste, was a gifted singer who had studied at the Paris Conservatoire and appeared at the city’s renowned Théâtre-Italien. After learning the rudiments of playing the piano from his mother, young Gabriel started taking lessons in solfège and piano at the age of five. When Lorraine was annexed to Germany in the wake of the Franco-Prussian War, the family settled in Paris and opened a music school in the Quartier Latin. In 1872 Gabriel was allowed to enter the solfège class at the Paris Conservatoire. In the years that followed, he (like his classmate Claude Debussy) studied with Antoine François Marmontel, Jules Massenet, Émile Durand, and César Franck. After winning the Prix de Rome in 1882 with his scène lyrique Edith, he spent almost three years of study in Rome, after which he returned to Paris to teach at his parents’ music school. In 1903 he became the deputy principal con- ductor of the famous Concerts Colonne, advancing to the post of general director with the death of Édouard Colonne in
1910. In this capacity he conducted the premières of major works by such contemporary composers as Debussy, Ravel, Stravinsky, Roussel, and d’Indy. In the summer breaks he devoted himself entirely to composition, eventually producing a large oeuvre consisting not only of vocal and instrumental music but of a very wide array of stage works. Particularly successful was his oratorio La Croisade des enfants of 1904, which was awarded the Grand Prix de la Ville de Paris and went on to receive more than two-hundred performances in France and abroad. Other important works from his pen are the operas Vendée (1897), La Fille de Tabarin (1901), and Fragonard (1934), the symphonic poem L’an mil (1897), and the ballets Cydalise et le chèvre-pied (1923) and Impressions de music-hall (1927). He was made a Commander of the Legion of Honor and succeeded Théodore Dubois in the French Académie des Beaux-Arts in 1924. He died in Ploujean on 17 July 1937, the same year as Ravel, Roussel, Louis Vierne, and Charles-Marie Widor.
The first attempts at researching Basque music were made in the 1880s by Charles Bordes, Pierné’s fellow-student at the Conservatoire and a co-founder of the Schola Cantorum in Paris. Bordes was commissioned by the French government to collect Basque folk tunes, which he duly published in the collection Archives de la tradition basque (1887). From this volume Pierné extracted the melodic material for his incidental music to the play Ramuntcho by Pierre Loti (1908). The overture to that work marks the first appearance of the zortzico, a lively dance in 5/8 meter whose dotted rhythms would find their way into his Quintette (composed in 1919) and the present concert piece for violin and orchestra, Fantaisie basque sur des thèmes populaires basques espagnols (op. 49). It was composed during the summer months of 1927 and bears a dedication to the violinist Jacques Thibaud. The première took place on 11 December of that same year in the Théâtre du Châtelet, with Pierné conducting the orchestra of the Concerts Colonne and the solo part taken by the dedica- tee, Jacques Thibaud.
The score is based on seven folk melodies that Pierné borrowed from Cancionero Vasco, a collection of Basque songs and dances edited by the Spanish priest, musicologist, and composer José Antonio de Donostia (1886–1956) and published in
1922. It begins with a subdued, rhythmically complex introduction in D minor for the orchestra (Assez vif, 2/4 meter) in which the dotted rhythms of the zortzico are already foreshadowed by a solo timpani (m. 3). The solo violin then presents motivic snippets of the belatsarena theme (mm. 25-28 and 44-47), after which the melancholy theme unfolds in full splen- dor, beginning at bar 48 (rehearsal no. 5, quasi recitativo). Especially important is a section beginning in bar 71 (rehearsal no. 8): here Pierné uses string pizzicato to enhance the dramatic expression of the theme and achieve a typically Hispano- Basque tinge. The zortzico rhythm returns in bar 86 (timpani), after which the belatsarena theme is repeated, now played by a solo flute (rehearsal no. 10). The first section of the song Amaiur appears in bar 92, first stated in a minore setting by the solo violin. Finally, from bar 100 on, the orchestra develops this melody in its original key of G major (rehearsal no.
12). After a reminiscence of the opening theme in bars 120 to 130, alternating between orchestra and solo violin, the music increasingly takes flight: the zortzico introduces a new section of the piece in bar 148 (rehearsal no. 17), giving the soloist greater opportunities for virtuoso display and appearing twice in its original key of D major (the second time entirely in harmonics). A sudden change of mood occurs in bar 199 (rehearsal no. 21, Vif): the music takes on a faster pace and a new Basque melody is introduced by the trumpets (Araiotz). In the bars that follow, the solo violin is given an opportunity to indulge its virtuosity in double stops, harmonics, glissandos, and rapid runs. Finally it is joined by the orchestra to present two new dance motifs: Aranaz (mm. 259ff.) and Inguruko Dantza (m. 268, rehearsal no. 27). After introducing a joyful inguruko theme (mm. 371ff., rehearsal no. 38), Pierné first returns to the musical material of the opening bars and the belatsarena melody (m. 434, rehearsal no. 44, Lent). The concluding coda, beginning in bar 448 (rehearsal no. 46, Très vif), consists mainly of the inguruko theme, now brilliantly enhanced in both the orchestra and the solo violin.
The first CD recording of Pierné’s Fantaisie basque was released in 2006 on the Timpani label, with Philippe Koch in the solo part and Bramwell Tovey conducting the Orchestre Philharmonique du Luxembourg.

Translation: Brtadford Robinson

For performance material please contact the publisher Éditions Musicales Durand-Salabert-Eschig.