Heinz Tiessen
(geb. Königsberg, 10. April 1887 — gest. Berlin, 20. November 1971)

»Hamlet-Suite« op. 30 (1919/22)
Drei Orchesterstücke aus der Musik zu Shakespeares »Hamlet«

I Vorspiel. Stürmische Winternacht am Meere auf der einsamen Schloßterrasse p. 3
II Elegie. Ophelias Tod (Zwischenspiel nach dem IV. Akt) p. 22
III Totenmarsch (Schluß des V. Aktes) p. 25

Vorwort
Heinz Tiessen hatte sich mit der Uraufführung seiner Zweiten Symphonie Op. 17 »Stirb und Werde!« am 22. Mai 1914 auf dem Tonkünstlerfest des ADMV (Allgemeiner Deutscher Musik-Verein) in Essen unter Hermann Abendroth als einer der führenden jungen Komponisten etabliert. Von den Neuerungen Richard Strauss’ ausgehend fand er über impressionistische Einflüsse und die überwältigenden Eindrücke, die er von Werken Arnold Schönbergs empfing, zu einer expressionistischen Tonsprache in freitonaler, komplex dissonanter Linearität. 1918 wurde er als Komponist und Kapellmeister an der Berliner Volksbühne, schrieb aber (bis 1934 insgesamt 30 Beiträge) Schauspielmusik auch für andere Bühnen, in Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Jürgen Fehling, Max Reinhardt oder Ludwig Berger. In der Zeitschrift Musica gab Tiessen in einem ‘Selbstzeugnis des Künstlers’ Auskunft: "Die Aufgabe, in der Schauspielmusik mit einem Minimum an Mitteln und Zeit ein Maximum an Ausdruck zu erreichen, ließ mich über die gewohnten Klangvorstellungen hinaus eine expressiv polyphone Schreibweise gewinnen. Zur Atonalität (grundsätzlichen harmonischen Beziehungslosigkeit) blieb ich trotz klanglicher Annäherungen im Gegensatz; auch die entlegensten Zusammenklänge und ihre Verkettungen schienen mir aus der kadenzierenden Logik als graduelle Erweiterung entwickelbar zu bleiben und gruppierbar um eine Tonika: Ausbalancierung von Spannung und Entspannung ist mir Urgesetz und zeitlos gültig im Wandel der Erscheinungsformen, wie eng oder weit die Spannungsskala eines Stiles oder eines Komponisten auch beschaffen sei.
Juni 1921 verließ ich die Volksbühne, da die fortdauernde Kleinarbeit einem Schaffen größeren Maßstabes im Wege stand. Die wichtigeren Einfälle meiner Schauspielmusik verwertete ich als Entwürfe für musikalische Formen im Rahmen von vier neuen Werken: Op. 29 »Totentanz-Suite« für Violine und kleines Orchester…; Op. 30 »Hamlet-Suite«…; Op. 32 Streichquintett…; Op. 33 »Vorspiel zu einem Revolutionsdrama« für Orchester nach der Musik zu »Masse Mensch«; dieses (von Emil Bohnke 1927 uraufgeführte) Werk widmete ich Hermann Scherchen, welcher das die Partitur krönende Lied »Brüder, zur Sonne« aus Russland nach Deutschland gebracht hatte und meiner Symphonie »Stirb und Werde!« ein Interpret von höchster Eindringlichkeit geworden war."
Die »Hamlet-Suite« basiert auf Tiessens zwischen 2. August und 19. Dezember 1919 komponierter Schauspielmusik zu Shakespeares »Hamlet« für die Inszenierung Max Reinhardt im Berliner Großen Schauspielhaus,. Bei der Première am 17. Januar 1920 hatte Klaus Pringsheim (1883-1973, Schwager von Thomas Mann und mehrfach Subdirigent für die Kuhglocken unter Mahlers Leitung in dessen 6. Symphonie) die musikalische Leitung. Als separates Konzertstück erklang das Intermezzo nach dem IV. Akt »Ophelias Tod« erstmals am 28. Februar 1920 in der Berliner Singakademie unter Hermann Scherchen.
Am 4. Dezember 1922 vollendete Heinz Tiessen die gegenüber der Bühnenmusik erweiterte und für den Konzertvortrag eingerichtete »Hamlet-Suite« und versah sie mit der Widmung "für Elisabeth" (seine erste Frau, geb. Crawack). In einer Werkeinführung (veröffentlicht in: Für Heinz Tiessen, Band 13 der Schriftenreihe der Akademie der Künste, Berlin 1979) resümierte Tiessen:

"Die erste Konzert-Aufführung der kompletten »Hamlet-Suite« op. 30 fand in Kassel am 8. Juni 1923 durch Robert Laugs auf dem Tonkünstlerfest des ADMV statt und wurde weitgehend als stärkster Eindruck des Abends bezeichnet… Peter Raabe hat es noch 1923 in Aachen aufgeführt; 1924 folgten in Berlin zwei Aufführungen unter Jascha Horenstein, in Dortmund eine unter Wilhelm Sieben. Den größten Rahmen gewährte am 19. März 1928 die Leipziger Alberthalle im Märzkonzert der Lichtschen Chöre, als Horenstein drei Werke von mir dirigierte: außer der »Hamlet-Suite« das »Vorspiel zu einem Revolutionsdrama« op. 33 und als Uraufführung die (nach 1945 in »Visionen« umbenannte) »Totentanz-Suite« op. 29 [mit Therese Petzko-Schubert als Violin-Solistin]. Erst drei Jahrzehnte später, am 7. Oktober 1957, erlebte ich zum 1. Mal (unter Sergiu Celibidache) die »Hamlet-Suite« mit den heulenden Menschenstimmen, die man im Meersturm zu hören glaubt [der Chor ist für Konzert-aufführungen aus praktischen Gründen ad libitum vorgeschrieben]. (Das Werk "kam an".) Die mit ungleich bescheideneren Mitteln auskommende Elegie »Ophelias Tod« war weit leichter zu realisieren. Stefan Frenkel hatte sie frühzeitig für Violine und Klavier bearbeitet, unlängst habe ich sie, angeregt von Emil Seiler, als ‘Musik für Viola mit Orgel’ op. 59 eingerichtet, und in der Gruppe ‘Fünf Lieder nach verschiedenen Dichtern’ meiner Zwanzig ausgewählten Lieder ist der den Gesang umgebende instrumentale Teil freier ausgestaltet.
Über Satz I und III der »Hamlet-Suite« ist noch zu sagen: Im ‘Vorspiel’ tobt der nächtliche Meersturm, in dem man aufheulende Stimmen zu hören glaubt. Es schält sich das Hamlet-Thema heraus, dem verzerrte Klänge von des Königs Zechgelage folgen; darauf jäh emporfahrend das Hamlet-Thema, als spräche es Worte des ersten Monologs: »O God, O God! How weary, stale, flat and unprofitable / Seam to me all the uses of this world! / Fye on’t ! an fye! ’tis an unweeded garden / That grows to seed; things rank and gross in nature / Possess it merely.« Stille. Zart entfaltet sich in der Oboe die Weise des letzten Ophelia-Liedes »And will he not come again?«, leise begleitet vom Hamlet-Thema der Violen, geht unter in neuem Anschwellen des Sturmes, die Klänge des Zechgelages steigern sich zum Gipfel: Mitternacht dröhnt in 12 Tamtamschlägen, grundiert vom Hamlet-Thema. Dann völliges Abklingen. — Der ‘Totenmarsch’ erscheint als Huldigung des Fortinbras für Hamlet: »For he was likely, had he been put on / to have prov’d most royally : and for his passage / the soldiers’ music and the rite of war / speak loudly for him.« Die szenisch gebotene Kürze des Totenmarsches machte erforderlich, ihm für die Konzertfassung einen Vorbereitungsteil voranzustellen."

Das Konzert, das anläßlich Heinz Tiessens 70. Geburtstag am 7. Oktober 1957 vom Radio-Sinfonie-Orchester Berlin unter Tiessens erfolgreichstem Schüler Sergiu Celibidache gegeben wurde, wurde vom SFB (Sender Freies Berlin) mitgeschnitten. Außer der »Hamlet-Suite« handelt es sich um die 2. Symphonie »Stirb und Werde!« und die Celibidache gewidmete »Salambo-Suite« op. 34a (eine komprimierte Fassung des Tanzdramas »Salambo«). Diese Mitschnitte sind, auch dank der intensiven Zusammenarbeit von Komponist und Dirigent, als im besten Sinne authentische Aufführungen anzusehen. Dem Dirigenten Israel Yinon gebührt das Verdienst, mit dem Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin die erste Plattenauf-nahme von Orchesterwerken Tiessens gemacht zu haben, die 2000 veröffentlicht wurde (Koch-Schwann CD 3-1490-2) und u. a. die »Hamlet-Suite« (ohne Meeresstimmen-Chor) enthält. Es ist zu hoffen, daß viele weitere Konzertaufführungen und Aufnahmen dieses ebenso gehalt- wie wirkungsvollen Werkes folgen werden.

Aufführungsmaterial ist vom Originalverlag Ries & Erler, Berlin (www.rieserler.de) zu beziehen.

Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ries & Erler, Berlin, 2002.

Heinz Tiessen
(born Königsberg, 10 April 1887 – died Berlin, 20 November 1971)

Hamlet Suite, Op. 30 (1919–20)
Three Orchestral Pieces from the Music to Shakespeare’s Hamlet

I Prelude. Stormy Winter Night by the Sea on an Isolated Castle Terrace p. 3
II Elegy. Death of Ophelia (Interlude after Act IV) p. 22
III Funeral March (End of Act V) p. 25

Preface
The first performance of Heinz Tiessen’s Second Symphony, Stirb und Werde!, Op. 17, on 22 May 1914 – at the Tonkünstlerfest of the Allgemeiner Deutscher Musik-Verein (ADMV) in Essen, conducted by Hermann Abendroth – had established its composer as one of the leading young voices of the day. Tiessen was originally much taken with the innovations of Richard Strauss, but found his way, via impressionism and the overwhelming impact of Arnold Schoenberg’s music, towards a more radical, free-tonal, dissonantly linear style. In 1918 he became music director and resident composer at the Berlin Volksbühne. Until 1934 he wrote music for other theatres, too (a total of 30 productions), working with such legendary stage-directors as Jürgen Fehling, Max Reinhardt and Ludwig Berger. In a ‘Self-Portrait of the Artist’ published in the periodical Musica, Tiessen wrote:
»The challenge of obtaining a maximum of expression from a minimum of means and duration led me to an expressively polyphonic way of composition beyond the sounds one normally expects to hear. In spite of similarities in sound, I remained distant from atonality (fundamental distinctions regarding harmony); the remotest chords and their linkages seemed to me to be evolvable by gradual extension from the logic of the cadence, grouping themselves around a tonic: for me the balancing of tension and relaxation is a natural law and valid beyond time and the changes of historical phenomena, whether a composer’s style encompasses a narrower or wider scale of intensity.«

»In June 1921 I left the Volksbühne. The continuous spade-work was a considerable obstacle to the development of larger-scale pieces. I deployed the more important ideas of my theatre music as the basis for the musical forms of four new works: Op. 29, Totentanz Suite for violin and small orchestra […]; Op. 30 Hamlet Suite […]; Op. 32, String Quintet […]; Op. 33, Prelude to a Revolutionary Drama for orchestra based on the music to Masse Mensch; the latter work (premiered in 1927 under Emil Bohnke) is dedicated to Hermann Scherchen, who had brought the song ‘Brothers, Towards the Sun’ (which crowns the development of the music) from Russia to Germany and who had been an extremely penetrative interpreter of my Symphony Stirb und Werde!.«

The Hamlet Suite has its origins in the music Tiessen wrote, between 2 August and 19 December 1919, for Max Reinhardt’s staging of Shakespeare’s play at the Grosses Schauspielhaus in Berlin. Klaus Pringsheim (1883–1973, brother-in-law of Thomas Mann and associate conductor – for the cow-bells – in several performances of Mahler’s Sixth Symphony under the direction of the composer) conducted the orchestra in the stage premiere on 17 January 1920. ‘Death of Ophelia’, the intermezzo after the Fourth Act, was premiered as a separate concert piece on 28 February 1920 in the Berlin Singakademie under Hermann Scherchen.
On 4 December 1922 Tiessen completed the Hamlet Suite, extended from the original stage version and arranged for concert performance, and dedicated it ‘to Elisabeth’ (his first wife, née Crawack). In an introduction to the work (published in ‘Für Heinz Tiessen’, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Vol. 13, Berlin, 1979) Tiessen recalled:
»The premiere concert performance of the complete Hamlet Suite, Op. 30, was conducted by Robert Laugs on 8 June 1923 in Kassel, at the Tonkünstlerfest of the ADMV. It was generally described as having created the strongest impression of the evening […]. Peter Raabe did it in the same year in Aachen; in 1924 there followed two performances in Berlin under Jascha Horenstein and one in Dortmund under Wilhelm Sieben. Its most impressive setting was on 19 March 1928 in the Alberthalle in Leipzig, in the March concert of the Lichtsche Choirs, when Jascha Horenstein included three of my works: the Hamlet Suite, the Prelude to a Revolutionary Drama, Op. 33, and, in its first performance, the Totentanz Suite, Op. 29 [with solo violinist Therese Petzko-Schubert; this work was later revised and given the title Visionen]. It wasn’t until three decades later I was able to experience the Hamlet Suite with the ‘howling human voices one seems to hear in the stormy sea’ [for practical reasons the choir is ad libitum] on 7 October 1957 under Sergiu Celibidache. (The piece was a ‘hit’.) The elegy ‘Death of Ophelia’, which can be presented with more modest forces, was easier to realise. Stefan Frenkel soon arranged it for violin and piano; encouraged by Emil Seiler I recently made an arrangement as Music for Viola and Organ, Op. 59; and in the group of Five Songs to Texts by Various Poets, included in my Twenty Selected Songs, the instrumental surrounding of the voice is worked out more freely.«

»I would like to add something about the first and third movements of the Hamlet Suite. In the Prelude the sea rages in a nocturnal storm, with what sounds like howling human voices. The Hamlet theme takes shape, followed by the distorted noises from the king’s carousing. Then suddenly the Hamlet theme flares up, as if speaking words of his first monologue: ‘O God, O God! How weary, stale, flat and unprofitable / Seem to me all the uses of this world! / Fye on’t! an’ fye! ’tis an unweeded garden / That grows to seed; things rank and gross in nature / Possess it merely’. Silence. The oboe tenderly unfolds the melody of Ophelia’s last song, ‘And will he not come again?’, gently accompanied by the Hamlet theme in the violas; it gets lost as the storm increases again. The noises of the drinking spree rise to the climax: midnight roars in 12 tam tam beats, underpinned by the Hamlet theme. Then everything dies away. The ‘Funeral March’ represents Fortinbras’ homage to Hamlet: ‘For he was likely, had he been put on / to have prov’d most royally: and for his passage / the soldiers’ music and the rite of war / speak loudly for him’. The demands of the staging had made it necessary for the ‘Funeral March’ to be very brief. In the concert version it is therefore preceeded by an introductory section.«

The concert given on the occasion of Heinz Tiessen’s seventieth birthday, on 7 October 1957, by the Berlin Radio Symphony Orchestra conducted by Sergiu Celibidache, was recorded by SFB (Sender Freies Berlin). It included the Hamlet Suite, the Second Symphony, Stirb und Werde!, and the Salambo Suite, which is dedicated to Celibidache (it is a condensed version of the ‘dance-drama’ Salambo). These recordings have the ring of true authenticity, not least because of the intense collaboration of the composer and the conductor. Thanks to the conductor Israel Yinon a first commercial recording of four of Tiessen’s orchestral works was released in 2000, with the Berlin Radio Symphony Orchestra (Koch-Schwann CD 3-1490-2); it included the Hamlet Suite (though without the chorus of ‘human voices in the stormy sea’). It is to be hoped that the future will bring many performances and recordings of these works, which are as spiritually ambitious as they are effectively scored.
Translation: Martin Anderson

For performance materials please contact the original publisher Ries & Erler, Berlin (www.rieserler.de).

Reprint of a copy from the archives of the Musikbibliothek of the Münchner Stadtbibliothek,with kind permission of the publisher Ries & Erler, Berlin.