Edvard Grieg

(geb. Bergen, 15. Juni 1843 - gest. Bergen, 4. September 1907) 


Symphonie in c-moll

Urtext - Edition



Allegro molto p.1 

Adagio espressivo p.64

Intermezzo - Allegro energico p.85

Finale - Allegro molto vivace p.110


Kritischer Bericht  p.161




Vorwort

Verbotene Dinge üben immer einen gewissen Reiz aus, das gilt sicher auch für Musiker. Wer kann schon trotz Verbots der Versuchung widerstehen, ein komplettes symphonisches Werk eines renommierten Komponisten, das noch seiner Uraufführung harrt, erstmalig zu Gehör zu bringen, wenn er über das entsprechende Material verfügt? Dass es zu einer solchen „illegalen“ Aufführung der c-moll Symphonie von Edvard Grieg kam, ist daher weniger überraschend als die Tatsache, dass diese Aufführung über hundert Jahre auf sich warten ließ! Die Umstände seien im Folgenden kurz geschildert.


Grieg verlässt als Fünfzehnjähriger 1858 seine Heimatstadt Bergen, um in Leipzig Musik zu studieren. Ungeachtet seiner etwas angeschlagenen Gesundheit - eine Brustfellentzündung zerstört einen seiner Lungenflügel - bringt er 1862 seine Lehrzeit erfolgreich hinter sich und beherrscht sein Handwerkszeug, als er in seine Heimat nach Bergen mit einigen kleineren Eigenkompositionen im Gepäck zurückkehrt. Seine norwegischen Landsleute ermuntern ihn, hinsichtlich seines Musikstiles mehr nationale Elemente einzubauen und von der ihm vermittelten Tradition Mendelssohns und Schumanns abzurücken. Die unmittelbare Anregung zur Komposition einer Symphonie erfolgt aber erst durch Niels Gade, den Grieg im Frühjahr 1863 in Kopenhagen als führenden Repräsentanten der nordisch ausgerichteten Musiksprache trifft. Die musikalischen Ideen scheinen Grieg anfangs geradezu zuzufliegen, denn schon zwei Wochen später ist der erste Satz nicht nur skizziert, sondern schon fertig instrumentiert. Doch erst im Mai 1864 liegt das Werk dann komplett viersätzig vor. Zunächst kommt es vermutlich nicht zu einer vollständigen Aufführung des Werkes, vielmehr werden nur einzelne Sätze gespielt. Die letzten drei Sätze haben ihre Uraufführung am 4. Juni 1864 in Kopenhagen unter der Leitung von H.C. Lumbye. Grieg selbst dirigiert am 1. April 1865 in Kopenhagen die beiden Mittelsätze. In seiner Heimat Norwegen erklingen Teile der Symphonie am 19. Januar 1865 und am 28. November 1867 in Bergen, wobei nicht genau bekannt ist, welche Sätze aufgeführt wurden. Grieg ist bei diesen beiden letzten Aufführungen nicht zugegen, dirigiert aber die drei letzten Sätze im Rahmen eines Konzerts der „Philharmoniske Selskab“ (Philharmonischen Gesellschaft) in Kristiania (Oslo) am 23. März 1867.


Noch im gleichen Jahr versieht der Komponist die handschriftliche Partitur mit der Inschrift „må aldrig opføres“ (darf niemals aufgeführt werden), und versetzt das Werk in einen wahren Dornröschenschlaf für 113 (!) Jahre. Über die Gründe hierfür kann nur gemutmaßt werden. Die erste Symphonie D-Dur seines Zeitgenossen Johan Svendsen, deren (erste vollständige) Aufführung Grieg am 12. Oktober 1867 miterlebt und die er ihres nationalen Tonfalls wegen besonders wertschätzt, wird gerne in der Literatur genannt. Vielleicht wird sie für Grieg zum Maßstab seiner eigenen symphonischen Ansprüche. Seinen ersten Beitrag zu dieser Gattung sieht er indes zu sehr von Schumann beeinflusst, wie er später dem Verlagshaus Peters mitteilt. Trotzdem bearbeitet Grieg die beiden Mittelsätze noch zu einer vierhändigen Klavierfassung, und betreibt auch deren Veröffentlichung ( 1869, als op. 14 ). Möglicherweise ist es der Orchestersatz, der dem Pianisten Grieg am meisten Kopfzerbrechen bereitet, denn auch nachfolgenden Orchesterwerken gegenüber ist Grieg hier besonders kritisch. Die Konzertouvertüre Im Herbst wird beispielsweise ebenfalls zunächst nur als vierhändige Klavierfassung publiziert, wohingegen die Orchesterfassung erst zwanzig Jahre später nach einer Neuorchestrierung erscheint, und selbst das bekannte Klavierkonzert erfährt zu Griegs Lebzeiten einschneidende Veränderung in der Instrumentation von seiner Entstehung bis hin zur Fassung letzter Hand. Es wäre für Grieg vielleicht ein Trost gewesen hätte er gewusst, dass es es Svendsen mit seiner Symphonie zuvor genauso erging. Die Entstehungs- und Aufführungsgeschichten beider Werke ähneln sich erstaunlich. Griegs Symphonie erfährt aber keine Revision.


Nach dem Tod des Komponisten überlässt dessen Witwe die meisten Manuskripte, so auch das der Symphonie, der Öffentlichen Bibliothek in Bergen. Griegs eigenhändiger Eintrag in die Partitur ist der Bibliothek sakrosankt. Keinem Aufführungswunsch wird stattgegeben. Selbst zur Eröffnung der „Grieghalle“ im Jahre 1978, einer Konzerthalle in Bergen, beißen die norwegischen Veranstalter mit ihrem nur allzu verständlichen Ansinnen bei der Bibliotheksleitung auf Granit. Der Festspielleiter Sverre Bergh sieht sich daher genötigt, die beiden bereits als op.14 publizierten Mittelsätze zwecks Aufführung durch ein Orchester selber zu instrumentieren.

 

Überraschend kommt der Kalte Krieg der Rezeptionsgeschichte des Werkes zur Hilfe. Russland, immerhin Nachbarland der Norweger, schickt nicht nur heimlich U-Boote in norwegische Gewässer, sondern betreibt auch „Kultur-Piraterie“. So verfügt der Dirigent Vitalij Katajev im Jahr 1980 über eine Fotokopie der Symphonie, und ohne Skrupel entschließt man sich nicht nur zu einer Aufführung des Werkes, immerhin der ersten kompletten seit seiner Entstehung, sondern sogar zu einer Rundfunkeinspielung. So findet die „Uraufführung“ schließlich im Dezember 1980 mit dem Moskauer Rundfunksinfonieorchester statt – ganz ohne norwegische Genehmigung. Doch „Angriff ist die beste Verteidigung“ - und daher beschließt man in Norwegen, um der Verbreitung des Werkes durch die Russen entgegenzuwirken, selber eine Aufführung unter Beteiligung der wichtigsten Rundfunkanstalten Europas zu organisieren. Dies geschieht am 30. Mai 1981, das Bergener Festspielorchester spielt unter der Leitung von Karsten Andersen, und vorsorglich hat man auch schon vom 23. bis 25. März in dieser Besetzung eine Schallplatteneinspielung produziert. 1984 schließlich erfolgt die erste und bis zur Ausgabe der vorliegenden Partitur einzige Publikation des Notentextes im Rahmen der Grieg-Gesamtausgabe im Verlag Edition Peters, und heutzutage kann jedermann sogar das Manuskript einschließlich autographer Verbotsanweisung einsehen – die Bergener Bibliothek hat es inzwischen in vorzüglicher Qualität online gestellt.


Diese Möglichkeit erlaubt auch einen Vergleich zwischen dem Manuskript und der Erstausgabe. Die vorliegende, von Marius Hristescu neugesetzte Ausgabe der Symphonie berichtigt offenkundige Fehler im Originalmanuskript. Ausserdem sind die Differenzen zwischen der Peters-Ausgabe und der Griegschen Originalhandschrift beseitigt. Unser besonderer Dank gilt dem deutschen Musikwissenschaftler Klaus Henning Oelmann (1955 - 2011), der die zahlreichen Abweichungen zwischen den Fassungen zusammenstellte.


Griegs Symphonie ist gewiss konventionell gehalten und noch weitgehend frei von dem skandinavischen Idiom seiner späteren Werke. Dennoch überrascht die formale Stringenz und die Eingängigkeit der Melodik angesichts der Tatsache, dass es sich um ein Jugendwerk handelt (Brahms ließ sich mit seiner ersten Symphonie immerhin zwanzig Jahre länger Zeit). Griegs Selbstkritik mag vielleicht aus seiner Situation heraus gerechtfertigt gewesen sein, eine Begründung für eine Nichtaufführung des Werkes ist sie indes nicht. Letztlich muss auch Grieg dies gespürt haben, immerhin hat er die Partitur nicht vernichtet.


Was für ein Glück!


Wolfgang Eggerking, 2014



Aufführungsmaterial ist von Musikproduktion Höflich (www.musikmph.de), München, zu beziehen.

























Edvard Grieg

(b. Bergen, 15 June 1843 – d. Bergen, 4 September 1907)


Symphony in C minor

Urtext edition



Allegro molto p.1 

Adagio espressivo p.64

Intermezzo - Allegro energico p.85

Finale - Allegro molto vivace p.110


Critical comment  p.161



Preface

Forbidden things always hold out a magnetic attraction – for musicians, too. Suppose a complete symphony by a renowned composer still awaits its first hearing and the necessary material is available. Who can resist the temptation of presenting the première, despite the composer’s express ban? In fact, just such an “illegal” performance took place of Edvard Grieg’s C-minor Symphony. The surprising thing is that it had to wait more than a century! Here is what happened:


In 1858 Grieg, then fifteen years old, left his native Bergen to study music in Leipzig. Despite his fragile health (a case of pleurisy had destroyed one lobe of his lungs), he successfully completed his degree in 1862. Thus equipped, he returned home to Bergen with a number of lesser pieces in his luggage. His Norwegian compatriots encouraged him to incorporate more national elements in his musical style and to part ways with the Mendelssohn and Schumann tradition he had mastered in Leipzig. But it was Niels Gade, the leading figure in Nordic music, who finally urged Grieg to write a symphony when the young man visited him in Copenhagen in early 1863. Initially the musical ideas seemed almost to flow from his pen, for within the space of two weeks the first movement was not only sketched but fully orchestrated. But it was not until May 1864 that all four movements were finished. At first the work was presumably not performed intact, but only in excerpt. The last three movements received their première in Copenhagen on 4 June 1864, conducted by H.C. Lumbye; Grieg himself conducted the two middle movements in Copenhagen on 1 April 1865; and parts of the symphony were heard in Bergen in his native Norway on 19 January 1865 and 28 November 1867, though it is not known which ones. Grieg was not present at either of these last two events, but he performed the final three movements in Kristiania (Oslo) on 23 March 1867 during a concert of the Philharmonic Society. 

In the same year the composer added the inscription “må aldrig opføres” (must never be performed) to the handwritten score, and the piece went into hibernation for 113 (!) years. His reasons for this can only be guessed. One possible cause, frequently mentioned in the literature, was the first complete performance of the Symphony No. 1 in D major by his contemporary Johan Svendsen on 12 October 1867. It was a piece that Grieg held in especially high esteem for its national inflection, and it may have become a benchmark for his own symphonic ambitions. His first contribution to the genre was, as he later confided to his publisher Peters, too heavily influenced by Schumann. Nonetheless, he arranged the two middle movements for piano four-hands and saw them into print as his op. 14 (1869). Perhaps it was the orchestral writing that caused the pianist Grieg the most headaches, for he took an equally critical view of the orchestral works that followed. His concert overture In Autumn, for example, likewise appeared in a version for piano four-hands, whereas the orchestral version had to wait twenty years before being published with a new orchestration. Even the orchestration of the famous Piano Concerto was heavily altered by its composer from the moment of its inception to the final version. Grieg might have found solace in the knowledge that the same thing had happened before to Svendsen and his symphony. The genesis and performance history of both works are surprisingly similar. Yet Grieg never bothered to revise his symphony.


After the composer’s death, his widow handed most of his manuscripts, including that of the C-minor Symphony, to the Bergen Public Library. The library treated Grieg’s autograph inscription in the score as sacrosanct: no request for permission to perform was granted. Even at the opening of “Grieg Hall” (a concert hall in Bergen) in 1978, Norway’s concert organizers beat their collective heads against the wall in their understandable but vain efforts with the library’s administrators. The festival’s director, Sverre Bergh, therefore saw himself forced to orchestrate the two middle movements (already published as op. 14) himself for an orchestral performance. 

 

Surprisingly, the Cold War came to the aid of the work’s reception. Norway’s neighbor, Russia, not only sent submarines clandestinely into Norwegian waters but also committed “cultural piracy.” In 1980 the conductor Vitaly Katayev came into the possession of a photocopy of the symphony. It was decided, without qualms, to perform the work (the first complete performance ever) and even to broadcast it on radio. In this way the “première” finally took place in December 1980, when the work was given by the Moscow Radio Symphony Orchestra – completely without the consent of the Norwegians. But as offense is the best defense, it was decided in Norway to counteract Russia’s dissemination of the work by arranging for a performance involving the major European broadcasters. This duly took place on 30 May 1981, when the Bergen Festival Orchestra played the work under the baton of Karsten Andersen. As a precaution, the same forces had already recorded it on 23-25 March. Finally, for the first and only time (until the appearance of the present volume), the musical text was published in Peters’s complete edition of Grieg’s works (1984). Today, in fact, anyone can view the manuscript, including its autograph performance ban, for the Bergen Library has placed it online in excellent quality.


This latter option makes it possible to compare the manuscript and the first edition. Our edition of the symphony, newly engraved by Marius Hristescu, corrects obvious mistakes in the original manuscript. It also expunges the departures from Grieg’s autograph in the Peters edition. We owe a special debt of gratitude to the German musicologist Klaus Henning Oelmann (1955 - 2011), who compiled a list of the many discrepancies between these two versions. 


Granted, Grieg’s symphony is conventional in execution and largely devoid of the Scandinavian idiom of his later works. Nonetheless, it surprises us with its rigorous form and memorable melodies, especially considering that it is a work of his youth. (After all, it took Brahms twenty more years to produce his own First Symphony.) Grieg’s self-criticism may have been justified from a personal standpoint, but it is no justification for leaving the work unperformed today. Ultimately, Grieg must have sensed this himself; he did not, after all, destroy the score. Luckily for us!



Translation: Bradford Robinson


For performance material please contact Musikproduktion Höflich (www.musikmph.de), Munich.