Max Reger
(geb. Bayreuth, 19. März 1873 — gest. Leipzig, 11. Mai 1916)
Der 100. Psalm in c - Moll
Ursprüngliche Fassung für Chor, Orchester und Orgel, op. 106
Vorwort
Erst relativ spät in seiner kompositorischen Karriere hatte sich Max Reger vorgenommen, chorsymphonisch einen religiösen Text zu vertonen. Am 24. Januar 1902 schrieb er dem Kritiker und Musikschriftsteller Theodor Kroyer: „Es interessiert Sie wohl, daß ich jetzt am 149. Psalm für 8stimmigen Chor mit großem Orchester u. Orgel arbeite“. Das bedeutete jedoch nicht, dass Reger schon mit der musikalischen Ausarbeitung befasst war – erst einmal befasste er sich intensiv mit der Textvorlage Halleluja! Singet dem Herrn ein neues Lied. Schon mehr als zehn Jahre zuvor hatte sich Reger mit Gedanken an eine Psalmvertonung getragen (den 6. Psalm Ach, Herr, strafe mich nicht), damals noch für die bescheidene Besetzung Mezzosopran, Violine und Orgel (später vertonte er den Psalm um einige Verse gekürzt in der gleichnamigen a-cappella-Motette op. 110 Nr. 2). Auch aus der Vertonung des 149. Psalmes wurde nichts – zunächst musste Reger das Projekt des Gesangs der Verklärten op. 71 wegen zurückstellen. Für mehrere Jahre blieb die Vertonung des 149. Psalms aber Thema für ihn – die letzte Bezugnahme auf den Text stammt vom Juni 1907. Erst Ende des Jahres 1907 verwarf Reger die Vertonung des Textes und bat seinen Freund Karl Straube um einen neuen geeigneten Text.
Der 100. Psalm wurde unmittelbar akzeptiert, und nun schritt die Komposition auch mit Blick auf eine mögliche Aufführung schneller voran – auf eine Aufführung im Rahmen der Feierlichkeiten zum 350-jährigen Jubiläum der Universität Jena. Mit dem Universitätsmusikdirektor Fritz Stein (1879–1961) war Reger seit 1904 bekannt und mittlerweile eng befreundet (Ende 1907 wurde er Taufpate von dessen erstem Kind Max Martin), so dass einer fruchtbaren und inspirierenden Ausarbeitungsphase nichts im Wege stand. Für Jena war nur der erste Teil des Psalmes geplant – die Ausarbeitung desselben dauerte von 24. April bis Anfang Juni 1908: „Leicht ist der Psalm nicht; aber er geht in Tempo maestoso, sodaß alle Koloraturen (nicht Choleraturen) alle zu machen sind – außerdem ist der Chor immer von Orgel oder Orchester gestützt! [...] Bitte, sag Du den Herren Geheimräthen unbedingt Folgendes: Ein Gelegenheitswerk hab’ ich den Herren nicht geliefert, sondern einen ganz echten Reger!“ (Brief, 6. Mai 1908.)
In den folgenden sechs Wochen musste Stein mit den beteiligten Klangkörpern – neben dem Akademischen Chor Jena, der Sängerschaft zu St. Pauli und dem Organisten Kurt Gorn der Kapelle des 71. Infanterieregiments Erfurt verstärkt durch Mitglieder der Weimarer Hofkapelle – intensiv proben, aus adhoc von Breitkopf & Härtel erstelltem Aufführungsmaterial. „Extraproben bis zur Bewußtlosigkeit“ (13. Juni) oder gar „100000000000000000 Proben“ (24. Juni) forderte Reger von Stein, denn „der Psalm muß glänzend gehen, so, daß Alles einfach ‚umgeschmissen‘ wird! [...] Die Hörer des Psalms müssen nachher als ‚Relief‘ an der Wand kleben; ich will, daß der Psalm eine niederschmetternde Wirkung bekommt! Also sei gut u. besorge das!“ Mit der Festaufführung in der Stadtkirche am 31. Juli war Reger sehr zufrieden. Regers Reputation wurde angelegentlich des Universitätsjubiläums durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophie beim Festakt im Volkshaus unterstrichen. Neben dem ersten Teil des 100. Psalms erlebte außerdem ein weiteres Werk Regers seine Uraufführung, der Weihegesang WoO V/6 für Altsolo, gemischten Chor und Blasorchester im Rahmen der Einweihungsfeier des neuen Universitätsgebäudes.
Zur Komplettierung der Vertonung des 100. Psalms kam der Komponist erst nach der Konzertsaison 1908/9 und mehreren anderen Großprojekten (dem Symphonischen Prolog zu einer Tragödie op. 108, der Klarinettensonate B-Dur op. 107, den zwei kleinen Violinsonaten op. 103b und dem Streichquartett Es-Dur op. 109). Rund sechs Wochen, von Mitte Mai bis Anfang Juli 1909 brauchte er für die Ausarbeitung der Partitur; den Klavierauszug erstellte er unmittelbar danach, während er sich aber gleichzeitig schon mit anderen Werken befasste (vor allem der Motette Mein Odem ist schwach op. 110 Nr. 1 sowie dem nächsten chorsymphonischen Werk Die Nonnen op. 112). Der Korrekturprozess des kompletten Aufführungsmaterials dauerte bis Ende September. Während der Klavierauszug schon im September 1909 erschien, lag die Partitur erst am 8. Dezember vor. Die Uraufführung des kompletten Werks erfolgte gleichzeitig an zwei Orten am 23. Februar 1910: in der St. Lukaskirche Chemnitz mit dem Kirchenchor, der städtischen Kapelle und dem Organisten Georg Stolz unter der Leitung Regers sowie mit der Breslauer Sing-Akademie, dem Orchester-Verein und dem Organisten Max Ansorge unter der Leitung von Georg Dohrn. Die Kritik äußerte sich zumeist äußerst positiv, nicht zuletzt weil beide Konzerte ausschließlich Novitäten brachten. Schon 1909 erschien eine Erläuterungsschrift von Benno Fleischmann; Regers satirischer Werkkommentar für das 46. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Zürich Ende Mai 1910 (neben vielen anderen Werkkommentaren zum Tonkünstlerfest erschienen in der Zeitschrift Die Musik) liest sich folgendermaßen:
„Der 100. Psalm für Chor, Orchester und Orgel, op. 106
von Max Reger
Die Worte des Psalms werden jedem, der nicht Haremsbesitzer ist, geläufig sein. Ob meine Komposition dieses Psalms Themen enthält, weiß ich nicht; darüber werde ich durch die Kritik belehrt werden. Tonart D-dur absolut streng festgehalten. Man sagt, der Psalm gliedere sich in drei Teile; vor einigen ganz bösartigen Orgelpunkten wird entsprechend gewarnt. Das vielleicht gelegentlich hörbare Hauptthema des ganzen Werkes heißt:
Max Reger“
Zahlreiche Autoren und Interpreten haben sich seither mit dem 100. Psalm auseinandergesetzt. Nach einer durch das Dritte Reich bedingten Pause initiierte der Komponist Paul Hindemith 1955 eine neue intensivierte Auseinandersetzung mit dem Werk, in Form einer „aufführungspraktischen Einrichtung“, die Regers „kaum zu durchdringende Dichte der Faktur“ (Michael Kube) zu lichten bestrebt war. Doch sagt Hindemiths Einrichtung mehr über die Ästhetik der Zeit und die Sichtweise des Bearbeiters aus denn über Regers eigentliche Intentionen. Der große Aufwand an Proben gerade für die Originalfassung war für Aufführungen allerdings oft ein Hemmschuh, weswegen seither mehrere Bearbeitungen entstandenen, zwei für Chor und Orgel (von François Callebout und Hanns-Friedrich Kaiser) und eine für Orgel allein (von Hanns-Friedrich Kaiser). Doch um Regers Intentionen zu verstehen, um nach der Aufführung tief beeindruckt als „‚Relief‘ an der Wand“ zu kleben – dazu braucht es die Originalfassung und einen nicht zu kleinen Chor.
Jürgen Schaarwächter, Max-Reger-Institut, 2014
Max Reger
(b. Brand, Upper Palatinate, 19 March 1873 – d. Leipzig, 11 May 1916)
Psalm 100 in C minor, op. 106 (1908-09)
Original version for chorus, orchestra and organ
Preface
It was not until relatively late in his artistic career that Max Reger decided to set a sacred text as a choral symphony. On 24 January 1902 he wrote to the critic and musicographer Theodor Kroyer, “It will perhaps interest you to know that I’m now working on Psalm 149 for eight-part chorus with full orchestra and organ.” This does not imply, however, that he was occupied with its musical elaboration: he first made an intensive study of the original psalm text, “Hallelujah! Sing unto the Lord a new song.” More than ten years earlier he had already given thought to setting a psalm (Psalm 6, “O Lord, rebuke me not in thine anger”) for the modest forces of mezzo-soprano, violin, and organ (he would later set the same psalm, minus some of its verses, in the like-named a cappella motet op. 110, no. 2). Nor did anything come of Psalm 149: he first had to postpone the project in order to complete Gesang der Verklärten (Song of the Transfigured, op. 71). But the idea of setting Psalm 149 remained in his mind for several years; his final reference to the text dates from June 1907. It was not until the end of that year that he abandoned the plan to set this text and asked his friend Karl Straube for a new one.
Psalm 100 was immediately accepted, and its composition proceeded all the more rapidly in view of its prospective performance during the 350th anniversary celebrations of the University of Jena. The university’s music director, Fritz Stein (1879–1961), had been an acquaintance of Reger’s since 1904 and was now a close friend, even serving as the godfather of his first child, Max Martin, in late 1907. Nothing stood in the way of a productive and inspiring period of compositional labor. The first section of the psalm was planned for Jena, and its elaboration occupied Reger from 24 April to early June 1908: “The psalm is anything but easy, but it proceeds in Tempo maestoso, so that all the coloraturas (not cholera turas) have to be done in toto – and the chorus is always supported by the organ or orchestra! [...] Please, whatever you do, say the following to the privy councilors: I have not given them an occasional work, but a genuine Reger!” (letter of 6 May 1907, with Reger’s idiosyncratic emphasis).
Over the next six weeks Stein, using ad hoc performance material from Breitkopf & Härtel, had to rehearse intensively with the ensembles involved: the Jena Academic Chorus, the Singing Fraternity of St. Paul’s, and organist Kurt Gorn from the orchestra of the 71st Infantry Regiment of Erfurt, reinforced by members of the Weimar Court Orchestra. Reger asked Stein for “extra rehearsals to the brink of exhaustion” (13 June) or even “100000000000000000 rehearsals” (24 June), for “the psalm must be brilliant, so that everyone will be knocked off their feet! [...] After it’s over the listeners must be stuck to the wall like a relief; I want the psalm to be earth-shaking in its impact! So please be so kind and make it happen!” Reger was highly satisfied with the festive performance given in the Town Church on 31 July. His reputation was further boosted by the award of an honorary Ph.D. during an official ceremony in the People’s House. Besides the first section of Psalm 100, another work from Reger’s pen was premièred on that occasion: Weihegesang (Song of Consecration, WoO V/6) for contralto, mixed chorus, and wind orchestra, for the inauguration of the new university building.
Reger only managed to complete Psalm 100 after the 1908-09 concert season and several other large-scale projects, including Symphonic Prologue to a Tragedy (op. 108), the Clarinet Sonata in B-flat major (op. 107), the two little Violin Sonatas (op. 103b), and the String Quartet in E-flat major (op. 109). He needed some six weeks, from mid-May to early June 1909, to elaborate the score; the vocal score was prepared immediately thereafter while he was already occupied with two other works, especially the motet Mein Odem ist schwach (My breath is weak, op. 110, no. 1) and his next choral symphony, Die Nonnen (The Nuns, op. 112). The process of proofreading the complete performance material lasted until late September. Though the vocal score was already published in September 1909, the full score had to wait until 8 December before it finally appeared in print. The première of the complete work was given on 23 February 1910 at two locations simultaneously: the Church of St. Luke in Chemnitz, with the church choir, the town orchestra, and the organist Georg Stolz, all under Reger’s baton; and the Breslau Singakademie, the Orchestra Association, and the organist Max Ansorge, conducted by Georg Dohrn. In general the reviews were extremely positive, not least because both concerts consisted entirely of new works. An analytical pamphlet by Benno Fleischmann appeared as early as 1909. Reger’s own satirical commentary, written for the 46th Festival of the General German Music Society in Zurich (late May 1910), was published along with many other commentaries on the festival in the periodical Die Musik. It reads as follows:
Psalm 100 for chorus, orchestra and organ, op. 106
by Max Reger
The words of the psalm will be familiar to all those who are not in possession of a harem. I am at a loss to say whether my setting of this psalm contains themes; I will be instructed in this matter by the critics. Adhere with absolute rigor to the tonic key of D major. It is said that the psalm falls into three section; listeners are expressly warned of several quite malicious pedal points. The main theme of the entire work, perhaps audible on occasion, is:
Max Reger
Since then many writers and performers have taken up Psalm 100. In 1955 the composer Paul Hindemith, after a hiatus necessitated by the Third Reich, initiated a new intensive study of the work in the form of a “performance arrangement” that sought to thin out Reger’s “barely penetrable compositional fabric” (Michael Kube). Hindemith’s arrangement says more about the aesthetic of his age and the views of the arranger than about Reger’s actual intentions. Nonetheless, the large amount of rehearsal time required for the original version in particular has often been an impediment to its performance, which explains why since then several arrangements have materialized, two for chorus and organ (by François Callebout and Hanns-Friedrich Kaiser) and another for solo organ (by Hanns-Friedrich Kaiser). But the original version, not a small choir, is required if Reger’s intentions are to be realized: to leave the listeners so deeply impressed that they “stick to the wall like a relief.”
Jürgen Schaarwächter, Max Reger Institute, 2014