ASTOR PIAZZOLLA
NOSTALGIA URBANA / URBAN NOSTALGIA · 12 Konzertstücke für Klavier solo
Transkriptionen von Ilan Rogoff
CORAL
LOS PAJAROS PERDIDOS
OTOÑO PORTEÑO
INVIERNO PORTEÑO
PRIMAVERA PORTEÑA
VERANO PORTEÑO
MILONGA DEL ANGEL
LA MUERTE DEL ANGEL
OBLIVION
ADIOS NONINO
VALSISIMO
CHIQUILIN DE BACHIN
ASTOR PIAZZOLLA
Mar de Plata, 11. März 1921 – Buenos Aires, 4. Juli 1992
Die Bresche zwischen klassischer und Volksmusik ist viel schmaler, als wir gewöhnlich annehmen. Viele Komponisten werden durch die Kultur inspiriert, in der sie aufwachsen. Volksrhythmen und -melodien sind ein integraler Bestandteil der Werke von Schubert, Chopin, Liszt, Dvorak, Debussy, Ravel, Sibelius, Tschaikowsky, Mussorgsky, Smetana, Mahler, Strauss, Wagner und anderer. Die Komponisten des 20. Jahrhunderts folgten diesem Beispiel: Stravinsky, Schostakowitsch, Copland, Bernstein, De Falla, Albeniz, Granados, Villa Lobos, Ginastera und – natürlich – Piazzolla.
Im Jahr 1924 übersiedelte Piazzollas Familie von Buenos Aires nach New York, wo sie bis 1936 blieb. Im Alter von neun Jahren begann Piazzolla Bandoneón zu spielen, machte sich mit amerikanischer zeitgenössischer Musik vertraut, darunter Jazz, und hörte Cab Calloway und Duke Ellington. Auch lernte er Carlos Gardel kennen, der von dem jungen Bandoneón-Spieler bezaubert war und ihn einlud, in seinem letzten Film aufzutreten.
1937, zurück in Buenos Aires, spielte er traditionellen Tango als Bandoneón-Solist im Orchester von Anibal Troilo. 1940 komponierte er ein Werk für den in Buenos Aires gastierenden Arthur Rubinstein. Rubinstein erkannte Piazzollas Talent und riet ihm zu einem Kompositionsstudium mit Alberto Ginastera, bei dem Piazzolla 8 Jahre lang studierte.
Zwischen 1950–53 gewannen Piazzollas Kompositionen Preise und Auszeichnungen, darunter einen 1. Preis in Frankreich, der ihn zum Studium bei Nadia Boulanger am Pariser Konservatorium berechtigte. Die entscheidende Rolle, die sie in seinem Leben spielte, illustriert Piazzolla selbst mit der Schilderung seiner Ankunft in Paris. Mit 50 Kilo seiner Partituren bat er Nadia Boulanger, sie möge seine Musik analysieren. Nachdem sie sich 2 Wochen mit seinen Partituren befasst hatte, sagte sie: „Interessant – das ist etwas Bartok, Stravinsky, Hindemith, aber nicht Piazzolla. Was macht Piazzolla?“ Beschämt sagte er ihr, dass er in einem Nachtlokal Bandoneón spiele. Woraufhin sie ihn bat, ihr vorzuspielen. Schon nach einigen Takten unterbrach sie ihn mit „Mais voilà – das ist es … Piazzolla! Nicht diese 50 Kilo Partituren, die ich analysierte. Das ist die Musik, in die du dich vertiefen solltest.“ Das war der Tag an dem er begann, an sich zu glauben. Er warf sich in die Welt mit der Musik, die Nadia Boulanger als wertvoll erachtete.
Im folgenden Jahr nahm er 14 seiner Kompositionen mit den Streichern des Pariser Opernorchesters, Marital Solal am Klavier und sich selbst am Bandoneón auf. Zurück in Buenos Aires formte er 2 Gruppen: eine für Streicher und Bandoneón, die zweite sein berühmtes Buenos Aires Oktett.
Nach 2 schweren Jahren in New York (1958–60) kehrte er wieder nach Buenos Aires zurück um eine neue Gruppe zu gründen, die fundamental für den Aufstieg seiner Musik wurde: das Quinteto Nuevo Tango (Bandoneón, Klavier, Geige, elektrische Gitarre und Kontrabass). Diese Musik entfachte die Wut der Universitätsstudenten und anderer Zuhörer und führte zu giftigen Kritiken gegen seinen neuartigen Zugang. In den 1960ern verurteilte auch das Argentinische Militär sein Werk als zu avantgardistisch, Kritiker bezeichneten ihn als Clown oder paranoid. Paradoxerweise half gerade dieses Aufsehen ihm, das Interesse des Publikums zu erregen und dadurch Zuhörer zu gewinnen.
1972 verließ er seine Heimat erneut und begann in Italien berühmt zu werden. Während dieser Periode vergrößerte er seine Gruppe von Quintett zu Sextett, indem er ein zweites Bandoneón hinzufügte und die Geige durch Cello ersetzte. Diese Gruppe wurde auch zum Oktett vergrößert und später zum vollen Symphonischen Orchester. Mehr als 300 Tangos, Milongas, Lieder, Instrumental-, Kammer- und Symphonische Musik, Kompositionen für Theater und Ballett und über 50 Filmmusiken bezeugen Piazzollas schöpferische Kraft, Originalität und Genius.
Seine Überzeugung ist die eines innovativen Komponisten, der seine Inspiration in den Wurzeln der Argentinischen Volksmusik hat, aber den traditionellen, konservativen und oft rein populären Zugang zurückweist. Er revolutionierte den Tango und Milonga, erhob sie zu deren äußersten ästhetischen Grenzen und sicherte ihnen einen Platz im Konzertsaal. Wie viele andere erhält auch Piazzolla die ihm gebührende Anerkennung und den Ruhm erst nach seinem Tod durch viele Aufnahmen, zum Teil mit den berühmtesten Künstlern. Nostalgia Urbana
Die akademische Art seiner frühen Kompositionen und gedruckte Versionen einiger Klavierstücke erweisen sich oft als nicht ausführbar, was den Verdacht erweckt, dass sie wohl mehr als Basis für die Improvisation durch den Ausführenden gedacht waren. Piazzolla behauptet, dass er „nie ein Werk zweimal auf die gleiche Weise interpretiert“ und dass wir (Musiker) gelangweilt werden, wenn wir immer das Gleiche zu spielen. Obwohl er sagt, dass seine Musik 10% reiner Tango und 90% zeitgenössische Musik ist, verhinderte der Drang zu improvisieren, umzuändern und anders zu orchestrieren, oft eine endgültige Version seiner Werke.
Beim Transkribieren von ursprünglich für eine Gruppe komponierten Werken für Soloklavier kann man den harmonischen Inhalt getreu wiedergeben. Dagegen werden verschiedene Stimmen im selben Register am Klavier oft undeutlich oder klanglich Piazzollas Musik fremd, obwohl sie, wenn sie von verschiedenen Instrumenten gespielt werden, leicht zu unterscheiden sind. Das zwang mich, diese Stimmen in verschiedene Register zu separieren. Ein anderes Problem ist, durch die Natur des Klaviers bedingt, die melodische Linienführung. Im Gegensatz zur menschlichen Stimme, Streich- oder Blasinstrumenten kann der Klang am Klavier, sobald eine Note angeschlagen ist, weder verstärkt, gehalten, noch verändert werden. Darin liegt die Schwierigkeit, eine Illusion von „legato“ und dadurch eine ununterbrochene melodische Linie zu erzielen. Aber die Kraft der Musik Piazzollas, ihre Originalität und Schönheit, überwindet diese Schwierigkeiten.
Ich hoffe, dass die Transkriptionen und Arrangements, die ich hier als Cd-Einspielung und „spielbare“ Partitur zusammenstellte, es ermöglichen, den Geist der Musik zu genießen, und gleichzeitig die Option zu haben, den Text mit jener Freiheit zu behandeln, die Piazzolla forderte.
Es fiel mir auf, dass, obwohl die Werke auf dieser CD in ihrer Art verschieden sind, ein gemeinsamer Faden sie verbindet, den ich nur mit „Nostalgie“ umschreiben kann. Piazzolla selbst sagte, dass Nostalgie eine motivierende Kraft in seinem Schaffen war. Die Erinnerung an seines Vaters Tränen, wenn dieser Tangomusik hörte oder seine Sehnsucht nach der Heimat, wenn er in Europa arbeitete. Eine „Urban Nostalgia“ nach allem, was mit menschlichen Gefühlen verbunden ist, mehr als mit Natur. Kraftvoll, leidenschaftlich, sinnlich, nachdenklich, bitter oder liebend – Begriffe, die mir in den Sinn kommen, wenn ich seine Musik höre oder studiere. Menschliche und städtische Elemente, eher als Verherrlichung der Natur, ohne dabei von typischen „Geräuschen“ des Stadtlebens Gebrauch zu machen. Das Städtische ist offensichtlich in Titeln wie den „Estaciones Portenas“, die sich auf die 4 Jahreszeiten in Buenos Aires beziehen, aber frei sind von Assoziationen zu den Jahreszeiten in der Natur, oder in „Los Pajaros Perdidos“, wo verlorene Liebe durch blinde, verirrte Vögel beschrieben wird. Letztendlich ist das Städtische vom Menschen geplante „Natur“.
Diese Kompositionen repräsentieren verschiedene Stile, die Piazzolla beherrschte. Vom durch Bachs Kontrapunkt, Rezitative uns Bassführung inspirierten „Coral“ (Fugato) bis zum impressionistischen „Valsisimo“ und den seelenvollen Milongas, Liedern und Tangos. Er bedient sich Jazzelementen, populärer Musik und klassischer Kompositionstechnik, um einen neuen – eben einen vollkommen eigenen – Stil zu erschaffen, der später bewundert und imitiert wurde. Die auffallenden Elemente sind schlichte klassische Struktur, herrliche Melodien, komplexe und reiche Harmonien und die charakteristischen Rhythmen argentinischer Volksmusik.
Fast alle Werke sind für kleine Gruppen komponiert und in unterschiedlichen Versionen und mit verschiedenen Besetzungen vom Komponisten, aber auch von anderen Künstlern, eingespielt worden. Obwohl die Wurzeln vieler seiner Kompositionen in der Tanzmusik liegen ebenso wie Chopins Walzer, Polonaisen und Mazurkas, sagte Piazzolla, dass seine Musik vor allem zum Zuhören bestimmt ist. „Das ist keine Tanzmusik wie traditioneller Tango, keine leichte Musik.“ Die absolute Identifizierung mit und der Glaube an seine Musik geht über sein musikalisches Credo hinaus, wie er selbst über eine seiner letzten Aufnahmen reflektierte: „Das ist die Musik, die ich meinen Enkeln hinterlasse und sage: Das ist was wir aus unserem Leben gemacht haben.“
ILAN ROGOFF, Palma de Mallorca |
ASTOR PIAZZOLLA
NOSTALGIA URBANA / URBAN NOSTALGIA · 12 concert works for piano solo
Transcriptions by Ilan Rogoff
CORAL
LOS PAJAROS PERDIDOS
OTOÑO PORTEÑO
INVIERNO PORTEÑO
PRIMAVERA PORTEÑA
VERANO PORTEÑO
MILONGA DEL ANGEL
LA MUERTE DEL ANGEL
OBLIVION
ADIOS NONINO
VALSISIMO
CHIQUILIN DE BACHIN
ASTOR PIAZZOLLA
Mar de Plata, March 11, 1921 - Buenos Aires, July 4, 1992
The apparent breach between classical and Folk Music is far less than we are accustomed to believe, as many composers draw inspiration from the culture in which they are nourished. Folk rhythms and melodies form an integral part of works by Schubert, Chopin, Liszt, Dvorak, Debussy, Ravel, Sibelius, Tchaikowsky, Mussorgsky, Smetana, Mahler, Strauss and Wagner among others. Twentieth century composers followed the same path; Stravinsky, Shostakovitch, Copland, Bernstein, De Falla, Albeniz, Granados, Villa Lobos, Ginastera, and of course, Astor Piazzolla.
In 1924 Piazzolla’s family moved from Buenos Aires to New York City, where they stayed until 1936. At the age of nine, Astor Piazzolla started playing the bandoneón, became familiar with American Contemporary music, including Jazz, listening to Cab Calloway and Duke Ellington, as well as meeting Carlos Gardel, who was charmed by the young bandoneón player and invited him to appear in his last film.
In 1937, back in Buenos Aires, he played traditional tango as bandoneón soloist in Aníbal Troilo's orchestra. In 1940 he composed a work for Arthur Rubinstein who was in Buenos Aires on a tour. Rubinstein recognized Piazzolla’s talent and advised him to take composition lessons with Alberto Ginastera, with whom Piazzolla studied during eight years.
Between 1950 and 1953 his compositions won prizes and awards, including a first prize in France, entitling him to composition scholarship with Nadia Boulanger at the conservatory in Paris. The importance she had in his life, is best illustrated by Piazzolla recounting his arrival in Paris in1954, with 50 kilos of scores and saying to her: “I’m a composer, I’d like you to analyze my music. After she spent two weeks looking at my scores, her comments were: Interesting … It’s a little Bartok, Stravinsky, Hindemith, but not Piazzolla. What does Piazzolla do? Quite ashamed, I told her that I play the bandoneón in a nightclub,upon which she asked me to play for her. After listening to a few bars she said: Mais voilà, that’s it… Piazzolla! Not these 50 kilos of music I analyzed… This is the music you should be working on! That was the day I began to believe in Astor Piazzolla… I launched myself into the world with that music in hand, the music Nadia Boulanger considered to be good.“
The following year he recorded fourteen of his compositions with the strings of the Paris Opera orchestra, Marital Solal at the piano and himself playing the bandoneón. Upon his return to Buenos Aires he formed two groups, a strings and bandoneon orchestra and his famed Buenos Aires Octet.
After two difficult years in New York (1958–60), he returned to Buenos Aires to create what became a fundamental group in the trajectory of his music: The Quinteto Nuevo Tango (bandoneón, piano, violin, electric guitar and double bass), which caused a fury among university students and other segments of the public, including vitriolic criticism against his innovative approach. In the 1960’s, Argentina’s military government condemned his work for being too avant-garde, with critics calling him a clown or paranoid. Paradoxically, this proved to be beneficial as he gained publicity and new audiences.
In 1972, after leaving his homeland again, he started gaining recognition in Italy. During that period he increased his musical group from a quintet to a sextet by adding a second bandoneón and replacing the violin with a cello. This group was increased to an octet, and later to a full symphony orchestra. More than 300 Tangos, Milongas and songs, instrumental, chamber and symphonic music, compositions for the theatre and ballet, as well as scores for nearly 50 films, give testimony to Piazzolla’s creativity, originality and genius.
His convictions are those of an innovative composer who took his inspiration from the depth of Argentinean folk music, while rejecting the traditional, conservative, and often purely popular approach. He revolutionised the Tango and Milonga and brought them to their extreme esthetical limits, Thereby gaining their acceptance as music for the concert stage.
As happens all too frequently, it is during the decade after his death that great accolades and due recognition is accorded to Piazzolla with many recordings, some with the world’s best-known performers.
Nostalgia Urbana
The academic nature of his early compositions and printed versions of some piano works often result as unplayable, leading one to suspect that they were meant primarily as a base for extemporisation by the performer. Piazzolla claimed that he “never interprets a work in the same manner twice” and “We (the musicians) get bored by always playing the same music”. Although he claimed that “my music is 10% pure Tango and 90% contemporary classical music”, his need to constantly improvise, revise and reorchestrate his works often prevented the existence of a definitive version.
Transcribing to piano solo works composed for a group permitted me to be faithful to harmonic content. However, playing various voices in the same register, while easily distinguishable when played by different instruments, either becomes muddled on a piano, or creates a sound world, which is alien to Piazzola’s music. This obliged me to separate voices into different registers. Melodic lines presented a greater problem in some works, due to the nature of the piano. As opposed to the human voice, stringed and wind instruments, once a long note is struck, maintaining, varying or increasing volume or intensity is not possible, which causes great difficulty in creating the illusion of ‘legato’ and the resulting melodic flow and continuity. Nevertheless, once these difficulties are met, the power of Piazzolla’s music, its originality and beauty, overcomes these instrumental obstacles.
My hope is that the transcriptions and arrangements I have humbly assembled, recorded on CD and as a ‘playable’ score, will facilitate the enjoyment of the essence of his music, while maintaining the option of treating the text with the same freedom Piazzolla has claimed.
It struck me that although the works chosen for the recording are varied, there is a common denominator, which I can only define as ‘nostalgia’. Piazzolla admits to nostalgia being a motivating force in his creativity, whether remembering his father’s tears when listening to Tango music, or for his homeland while working abroad. An urban nostalgia associated with humanity, rather than with nature. Virile, passionate, sensual, pensive, sad, bitter, or loving are all terms which come to mind while listening or studying his music. Human and urban elements, rather than music which celebrates nature, yet without making any use of typical or noisy elements associated with city life. The urban is made obvious even in titles such as the four “Estaciones Porteñas”, referring to the Four Seasons in Buenos Aires, yet devoid of association with the seasons in nature, or in “Los Pajaros Perdidos” using blind and lost birds as a metaphor for a lost love. After all, „urban“ is nature designed by man.
These compositions represent different styles mastered by Piazzolla. From the “Coral” (Fugata) inspired by Bach’s counterpoint and his classical training, through the impressionist “Valsisimo”, soulful Milongas, Songs and Tangos, he draws on jazz elements, popular music and classical composition technique to create a new style, entirely his own, later admired and imitated by others. The most striking elements are simple classicist structures, containing beautiful melodic lines, complex and rich harmonies and typical rhythms derived from Argentinean Folk Music.
Nearly all the works are originally composed for a small ensemble and various versions by the composer as well as other artists, playing them with different combinations of instruments have been recorded. Although many of his compositions are rooted in music, which was traditionally danced to – much like Chopin’s Waltzes, Polonaises or Mazurkas, Piazzolla’s compositions are essentially music to be listened to. In Piazzolla’s own words: “This is no dance music like traditional tango, no easy listening music”. His total identification and belief in his music goes beyond his artistic and musical conviction, as is reflected in a statement made about one his last recordings: “This is the music I can give to my grandchildren and say, This is what we did with our lives.”
ILAN ROGOFF, Palma de Mallorca |