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Edvard Grieg

(geb. Bergen, 15. Juni 1843 – gest. Bergen, 4. September 1907)

Symphonische Tänze op. 64 (1896-98)

I Allegro moderato e marcato (p. 3) – Vivace – Più lento (p. 7) – Tempo I (p. 18) – Vivace – Tempo I – Presto (p. 24)

II Allegretto grazioso (p. 26) – Più mosso (p. 31) – Tempo I (p. 41)

III Allegro giocoso (p. 46)

IV Andante – Allegro molto e risoluto (p. 73) – Molto tenuto – Più tranquillo (p. 90)

– Tempo I (p. 101) – Molto tenuto – Presto (p. 117)

Vorwort

Die Musik Edvard Griegs ist seit jeher dem Vergleich mit den deutschen Romantikern unterzogen worden, insbesondere Schumann, aber auch Mendelssohn und Brahms, und aus diesem Vergleich heraus hat man ihm oft vorgeworfen, er sei zwar ein großartiger Miniaturist, sein Schaffen in den größeren Formen jedoch ermangele der Logik und strukturellen Dichte, die die deutschen Meister auszeichne. In der Tat kann man schon in der recht frühen Klaviersonate op. 7 beobachten, wie Grieg nicht nur andere, unbegangene Wege sucht und findet, sondern auch, wie äußerliche Ähnlichkeiten – etwa mit Schumann oder sogar auch Schubert – mehr scheinbarer als substanzieller Natur sind. Bei Grieg geht es eben nicht primär um ein psychologisch verwickeltes Drama, sondern mehr um ein sozusagen „naturgegebenes“, also den Phänomenen der Natur wie etwa den Wetterwechseln abgelauschtes. Die Frische und Reinheit seines Stils, seiner Sprache sind einmalig zu einer Zeit, als die Bedeutung des Individuums und seines Seelendramas immer weiter in den Vordergrund der künstlerischen Aufmerksamkeit gerückt wurde, was dann in Extremen der inneren Zerrissenheit bei Gustav Mahler, Hugo Wolf oder Arnold Schönberg und seinem Kreis gipfelte, in der Apotheose der romantischen Unglückseligkeit. Von all dem blieb Grieg ein Leben lang weit entfernt, und als einer der ersten fand er, parallel etwa zur Entwicklung in Russland und Tschechien, zunehmend zu einer wiedergewonnenen Identität in den volkstümlichen Wurzeln. So sind nicht nur seine Norwegischen Tänze (die Hans Sitt instrumentiert hat), sondern auch die Symphonischen Tänze auf norwegischen Volksweisen aufgebaut und setzen auf die widerholte Verwendung archaischer harmonischer Wendungen.

Dass man Grieg mangelnde Beherrschung der großen symphonischen Form vorwarf, hatte auch damit zu tun, dass er seine frühe einzige Symphonie zurückzog, nachdem er die herrliche Erste Symphonie seines genialen Landsmanns Johan Severin Svendsen gehört hatte (ähnlich erging es später dem Schweden Stenhammar mit seiner Ersten nach dem Hören von Sibelius’ Zweite Symphonie…). Und Grieg blieb der Komplex, im direkten Vergleich mit Svendsen der schwächere Orchestrierer zu sein (was Grieg auf dem Klavier war, war Svendsen für die Streicher, und was Grieg in Lied und Kammermusik war, war Svendsen für das Orchester).

Nun wollte Grieg in seinen reifen Jahren mit den Symphonischen Tänzen sein Ergänzungsstück zu Svendsens höchst erfolgreichen vier Norwegischen Rhapsodien liefern. Die Symphonischen Tänze entstanden zunächst für Klavier zu vier Händen und wurden in dieser ursprünglichen Fassung im September 1896 vollendet. Die anschließende Verfertigung der Orchestration wurde verzögert durch die Volksliedbearbeitungen op. 66 und zog sich daher über das Jahr 1897 hin, womöglich wurde die Arbeit daran sogar erst 1898 beendet.

Grieg komponierte die Symphonischen Tänze als in viersätziges, sich geschlossenes Werk in der Absicht, dass es in der Regel als Ganzes aufgeführt werden sollte. Folglich sprach er sich auch entschieden gegen Einzelausgaben der vier Tänze aus, als 1900 der Zweitdruck des Werkes anstand.

So schrieb Grieg am 6. Januar 1900 an Henri Hinrichsen: „Wenn Sie z. B. das 2. Stück bringen, werden Sie dadurch erreichen, dass das Werk als Ganzes vielleicht NIEMALS gespielt wird! Sollte ich einmal eine Symphonie verbrechen, würden Sie vielleicht das Scherzo allein herausbringen.“

Doch schon zwölf Tage später war er zurück gerudert, und so ließ er Hinrichsen am 18. Januar wissen: „Betrachten Sie also, bitte, meinen vorigen Brief als nicht existierend, und bereiten Sie nur immerzu Einzelausgabe der symph. Tänze vor. (Die Notiz für die Dirigenten werden Sie einliegend finden).“ Es kam dann jedoch nicht zum Druck von Einzelausgaben, auch der Zweitdruck umfasste alle vier Tänze in der gegebenen Reihenfolge in einer Partitur.

Die in den Symphonischen Tänzen verwendeten norwegischen Volksmelodien entstammen sämtlich L. M. Lindemans Sammlung ‚Ældre og nyere norske Fjeldmelodier’ (Ältere und neuere norwegische Gebirgsmelodien) von 1853-67, welche Grieg schon vorher ausgiebig benutzt hatte. In den Rahmenteilen der Tänze sind die Melodien stets weitgehend notengetreu wiedergegeben, in den Mittelteilen in freierer Abwandlung. Im einzelnen handelt es sich um folgende Weisen:

1. Tanz:‚Halling fra Valdres’ (Lindeman Nr. 9)

2. Tanz ‚Hestebyttaren’ (Der Pferdehändler, Lindeman Nr. 548)

3. Tanz ‚Springdans fra Aamot’ (Lindeman Nr. 328)

Im umfangreicheren 4. Tanz finden sich zwei Melodien, die Grieg bereits in seinem Opus 17, Nummern 25 und 24,

ausgesetzt hatte: ‚Saag du nokke Kjæringa mi?’ (Hast du meine Frau gesehen?, Lindeman Nr. 443) und ‚Brulaatten’ (Brautmarsch, Lindeman Nr. 484)

Die Symphonischen Tänze op. 64 waren das erste Werk, in welchem Grieg norwegische Volksmelodien für großes Orchester bearbeitete, und Hella Brock urteilte treffend in ihrer Grieg-Biographie (Reclam, Leipzig 1990): „Eine in der Vergangenheit mitunter getroffene Abwertung des Werkes wegen mangelnder motivisch-thematischer Arbeit und Entwicklung geht an der Spezifik dieser auf Reihung und Kontrastierung orientierten volksmusikalischen Tanzsätze vorbei. Soweit Abwandlung melodischer Phrasen hier sinnvoll ist, wird sie eingesetzt, so etwa mit der rhythmisch-melodischen Umformung des Hallingthemas von Nr. 1 (Teil A) oder der Springtanzmelodie von Nr. 3 (Teil A) im jeweiligen mittleren Abschnitt (B), womit der Gegensatz gewonnen wird.“

Die Erstausgabe der Symphonischen Tänze über norwegische Motive op. 66 erschien 1898 im Verlag Peters und war dem belgischen Klaviervirtuosen und Komponisten „Arthur de Greef zugeeignet“. Zur Uraufführung kamen die Symphonischen Tänze am 4. Februar 1899 in Kopenhagen durch das Orchester des Königlichen Theaters unter Johan Severin Svendsen.

Die anspruchsvollste symphonische Form, die auch den tiefgreifendsten Kontrast beinhaltet, verwirklichte Grieg im 4. Tanz. Die einzige vorgeschriebene Wiederholung, die nach mehrfacher Überprüfung musikalisch überflüssig erscheint, und deren Entfallen hiermit empfohlen sei, ist diejenige des Mittelteils im 1. Tanz. Der 2. Satz ist durch die Vorwegnahme des Hauptmotivs des 3. Tanzes mit diesem verflochten und bildet mit der Form eher langsam – schneller – eher langsam eine Besonderheit. Am geschlossensten und für eine alleinige Wiedergabe im Konzert am geeignetsten ist der sehr dynamische 3. Tanz, den beispielweise Sergiu Celibidache während seiner Zeit als Dirigent des Schwedischen Radio-Symphonieorchester gerne als Zugabestück mit auf Tournee nahm (wovon glücklicherweise eine Aufnahme überliefert ist).

Christoph Schlüren, April 2013

Edvard Grieg

(b. Bergen, 15 June 1843 – d. Bergen, 4 September 1907)

Symphonic Dances, op. 64 (1896-98)

I Allegro moderato e marcato (p. 3) – Vivace – Più lento (p. 7) – Tempo I (p. 18) – Vivace – Tempo I – Presto (p. 24)

II Allegretto grazioso (p. 26) – Più mosso (p. 31) – Tempo I (p. 41)

III Allegro giocoso (p. 46)

IV Andante – Allegro molto e risoluto (p. 73) – Molto tenuto – Più tranquillo (p. 90)

– Tempo I (p. 101) – Molto tenuto – Presto (p. 117)

Preface

Edvard Grieg’s music has always been subjected to comparison with the German Romantics, especially Schumann, but also Mendelssohn and Brahms. This has often led to accusations that he was a magnificent miniaturist whose works in the larger forms lack the logic and structural density that distinguish the German masters. Yet even the quite early Piano Sonata, op. 7, reveals that the paths Grieg sought (and found) were fundamentally different, and the superficial similarities, e.g. with Schumann or even with Schubert, are more deceptive than substantial. Grieg did not primarily create psychologically convoluted dramas so much as dramas that were, so to speak, “natural,” i.e. obtained by eavesdropping on such phenomena as the changing of the weather. The freshness and purity of his style and language were unique in an age when the significance of the individual and his mental turmoil came ever more to the foreground of artistic awareness, leading to extremes of inner disunity that culminated in the music of Gustav Mahler, Hugo Wolf, and Arnold Schoenberg and his circle, the apotheosis of the Romantic inferno. Grieg remained far removed from this his whole life long. He was one of the first composers to increasingly discover, in parallel with composers in Russia and Bohemia, a newfound identity in the roots of folk culture. Thus, not only his Norwegian Dances (orchestrated by Hans Sitt), but also his Symphonic Dances are based on Norwegian folk tunes and thrive on the repeated use of archaic harmonic progressions.

Grieg’s alleged weak grasp of large symphonic form also had to do with the fact that he withdrew his only symphony (a work of his early years) after hearing the magnificent First Symphony by his brilliant countryman Johan Severin Svendsen. (The Swedish composer Stenhammar did the same thing with his own First Symphony after hearing Sibelius’s Second.) It left him with a lifelong inferiority complex to Svendsen in matters of orchestration (what Grieg was to the piano, Svendsen was for the strings; and what Grieg was to song and chamber music, Svendsen was to the orchestra.)

With his Symphonic Dances Grieg, now in his maturity, wanted to provide a pendant to Svendsen’s four supremely successful Norwegian Rhapsodies. He initially wrote them for piano four-hands, completing this original version in September 1896. The subsequent version for orchestra was delayed by his op. 66 folksong arrangements and dragged on into the year 1897, possibly not reaching completion until 1898.

Grieg conceived the Symphonic Dances as a self-contained work in four movements and intended them to be performed intact. In consequence, he adamantly opposed their publication in separate volumes when the second edition of the work arose in 1900. On 6 January 1900 he wrote to his publisher Henri Hinrichsen, “If, for example, you issue the second piece separately, you will ensure that the work will never be performed in its entirety! If I should ever commit the crime of writing a symphony, you would perhaps publish the scherzo separately.” Twelve days later he had second thoughts and told Hinrichsen on 18 January, “Please consider my previous letter as nonexistent and proceed with the separate edition of the Symphonic Dances. (Enclosed you will find a note for the conductors.)” Nonetheless, the separate publications never materialized; the second edition, too, presents all four Dances in full score in their original order.

The folk melodies employed in the Symphonic Dances all stem from L. M. Lindeman’s collection Ældre og nyere norske Fjeldmelodier (Earlier and recent Norwegian mountain airs, 1853-67), of which Grieg had previously made extensive use. They are invariably stated largely note for note in the outside sections of the dances and are freely varied in the middle sections. The melodies are as follows:

Dance I: Halling fra Valdres (Lindeman no. 9)

Dance II: Hestebyttaren (“The horse dealer,” Lindeman no. 548)

Dance III: Springdans fra Aamot (Lindeman no. 328)

Dance IV: This more extensive dance contains two melodies that Grieg had already set in nos. 25 and 24 of his op. 17: Saag du nokke Kjæringa mi? (“Have you seen my wife?” Lindeman no. 443) and Brulaatten (“Bridal march,” Lindeman no. 484).

The Symphonic Dances were the first work in which Grieg arranged Norwegian folk tunes for full orchestra. Hella Brock, in her biography of the composer (Leipzig: Reclam, 1990), offers a judicious assessment: “In the past, op. 64 has sometimes been faulted for its lack of motivic-thematic manipulation and development. This is to overlook the specific qualities of a set of folk dance movements oriented on juxtaposition and contrast. Wherever the transformation of melodic phrases can be meaningfully applied, it is. For example, the halling theme of Dance I (section A) and the springdans melody of Dance III (section A) are both recast rhythmically and melodically in the middle section of each dance (B) to obtain a contrast of opposites.”

The first edition of the Symphonic Dances on Norwegian Motifs, op. 64, was published by Peters in 1898 with a dedication to the Belgian piano virtuoso and composer Arthur de Greef. Its premiere took place in Copenhagen on 4 February 1899, with Johan Severin Svendsen conducting the Royal Theater Orchestra.

The most challenging symphonic form, and thus the sharpest contrast, is found in Dance IV. The only repeat Grieg specifically calls for occurs in the middle section of Dance I; on repeated examination, however, it seems musically superfluous, and we recommend ignoring it. Dance II is linked to Dance III by anticipating the latter’s main motif and stands out from the others by its sequence of tempos (fairly slow, fast, fairly slow). The most unified movement, and thus the one most suitable for separate concert performance, is the highly dynamic Dance III, which Sergiu Celibidache frequently used as an encore number on tour when he headed the Swedish Radio Symphony Orchestra. Fortunately, one of his readings survives in a sound recording.

Translation: Bradford Robinson