12811.png

Sergej Iwanowitsch Tanejew

(b. Wladimir a.d. Kljasma, 25. 11. 1856 - gest. Djudkow bei Moskau, 19. 6. 1915)

Klavierquintett g-Moll op. 30

(1911)

Vorwort

Sergej Tanejew (1856–1915) ist einer jener Namen, die durch die Musikgeschichtsbücher geistern und denen aufgrund ihrer Vita als Theoretiker, Pädagoge und Komponist zwar universelle musikalische Kompetenz zugeschrieben wird, deren Musik aber regelmäßig im heutigen Allgemeinwissen selbst der Klassikinteressierten nahezu inexistent ist. Der Kontext, in welchem der Name Tanejew dabei regelmäßig fällt, ist derjenige Peter Tschaikowskys. 1869 war er am Moskauer Konservatorium dessen Kompositionsschüler geworden. Nachdem er als Pianist parallel bei Nikolai Langer und Nikolai Rubinstein studiert und ein herausragendes Niveau erreicht hatte, gab er unter der Leitung von Rubinstein am 3. Dezember 1875 die Moskauer Erstaufführung von Tschaikowskys legendärem Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23. Hans von Bülow hatte es kurz zuvor, am 25. Oktober 1875, anlässlich einer USA-Tournee in Boston uraufgeführt. Tanejew war zu diesem Zeitpunkt gerade erst mit den allerhöchsten Auszeichnungen als Komponist und Interpret vom Konservatorium verabschiedet worden. Lehrer und Schüler hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine enge Freundschaft begonnen. Dass diese trotz eines Altersunterschieds von 16 Jahren rasch auf Augenhöhe verlief, zeigt sich etwa an der stets gewährten offenen Kritik an neuen Werken des jeweils anderen.

1878 folgte Tanejew Tschaikowsky nach und übernahm zunächst dessen Harmonie- und Orchestrationsklassen. Schrittweise kamen die Klavier- und die Kompositionsklasse hinzu, bis Tanejew schließlich 1885 Direktor dieser namhaften Institution wurde. Da war er noch keine 30 Jahre alt. Zwischendrin war er mehrfach nach Westeuropa gereist und hatte in Russland Tourneen absolviert, u.a. mit dem Geiger Leopold Auer, der selbst später zu einer Pädagogenkoryphäe werden sollte. Wenig verwunderlich banden Aufgaben dieses Kalibers die Kräfte des jungen Mannes. Da noch stupende Selbstzweifel als Komponist hinzukamen, erstaunt es kaum, dass Tanejews Werkverzeichnis zunächst nur zaghaft zu wachsen begann, trotz all der Brillanz und Kompetenz, welche in der Akzeptanz durch Tschaikowskys oder den Abschlusspreisen zum Ausdruck kommen, war Tanejew doch der erste Student überhaupt, dem in Moskau die Goldmedaille für Komposition verliehen wurde – aus einem Kollegium, dass Künstler vom Range eines Tschaikowsky und Rubinstein sein eigen nannte. 1889 gab er die allseits als sehr erfolgreich wahrgenommene Leitung der Hochschule ab, um sich mehr Freiraum für die Komposition zu verschaffen. Als Kontrapunktlehrer wurde seine Moskauer Klasse, die er auch nach 1889 behielt, zu einer Kaderschmiede wenn nicht gar einem Wallfahrtsort der russischen Komponistenelite der nächsten Generation und dem zentralen Counterpart zu Nikolai Rimsky-Korsakows Pendant am St. Petersburger Konservatorium. Zu Tanejews Schülern zählten u.a. Alexander Scriabin, Sergej Rachmaninow, Nikolai Medtner, Paul Juon, Sergej Lyapunov und Reinhold Glière. Trotz seiner persönlichen, verglichen zum Zeitgeist eher als konservativ wahrgenommenen ästhetischen Vorlieben, scheint sein Unterricht von großer Liberalität geprägt gewesen zu sein. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Gabriel Fauré am Pariser Konservatorium soll er sich besonders durch die Fähigkeit ausgezeichnet haben, auf die künstlerischen Persönlichkeiten seiner Studenten einzugehen und diese produktiv zu fördern, anstatt sie zu Epigonen seiner selbst auszubilden.

Ein 1906 beendetes und 1909 auf Russisch veröffentlichtes Kontrapunktlehrbuch dokumentiert Tanejews lebenslange Leidenschaft für das Thema, welches er lehrte. Es überrascht nicht, dass Fragen des Kontrapunkt auch in seinem einzigen Klavierquintett in g-Moll op. 30 allgengegenwärtig sind. Jenes entstand 1910/11 als eines der letzten vollendeten Opera Tanejews und wurde 1912 öffentlich gemacht. Es ist sein einziger Beitrag zu dieser Gattung, was typisch ist für diese Musikform, in der anders als im Bereich des Streichquartetts kaum ein Komponist eine Mehrzahl von Arbeiten geschweige denn ganze Serien hinterlassen hat. Auch Tanejews auf das Streichquartett fixiertes Kammermusikœuvre macht hier keine Ausnahme. Komponisten wie Luigi Boccherini mit zwölf, Lorenzo Perosi mit fünf oder Charles Henri René de Boisdeffre (plus einem Klaviersextett mit Bass ad libitum), Salomon Jadassohn, Bohuslav Martinů, Julius Röntgen und Johann Baptist Vanhal mit jeweils drei Klavierquintetten fallen in dieser Gattungsgeschichte schon als sehr seltene Vielschreiber auf. Durchaus etwas häufiger haben Komponisten zwei Kompositionen dieses Typs hinterlassen (z.B. Grażyna Bacewicz, Franz Berwald, Ernest Bloch, Mario Castelnuovo-Tedesco, Ernő Dohnányi, Antonín Dvořák, Gabriel Fauré, Louise Farrenc, Friedrich Gernsheim, Karl Goldmark, Paul Juon, Erich Wolfgang Korngold, Franz Lachner, Max Reger, Peter Schickele, Giovanni Sgambati, Kaikhosru Sorabji, Ludwig Thuille, Yitzhak Yedid, Charles-Marie Widor und Charles Wuorinen). Bedenkt man aber die um die 1000 Werke zählende Gesamtsumme der zumindest einigermaßen zugänglichen und wissenschaftlich erfassten Stücke für Streichquartett und Klavier, die seit dem späten 18. Jahrhundert entstanden sind, ist jedoch unverkennbar: Der Solitär ist die Standardsituation in den Werkverzeichnissen. Das gilt namentlich auch für die russische Tradition. Man denke etwa an die Werke von Alexander Borodin (c-Moll, 1862), Anton Rubinstein (g-Moll op. 99, 1876), Anton Arensky (D-Dur op. 51, 1900), Georgy Catoire (op. 28, 1914) – dem im Übrigen Tanejews op. 30 zueignet ist – , Alexander Tcherepnin (op. 44, 1927), Dmitri Schostakowitsch (g-Moll op. 57, 1940), Mieczysław Weinberg (f-Moll op. 18, 1944), Nikolai Medtner (C-Dur op. posth., 1949), Sofia Gubaidulina (1957), Boris Tschaikowsky (1962) oder Alfred Schnittke (1972–76).

Tanejews op. 30 ist einer der schon den Umfang nach monumentalen Vertreter dieses Genres mit bald einer Dreiviertelstunde Aufführungsdauer und nicht nur konditionell virtuosen Anforderungen an die Interpreten, womit es sich neben die ähnlich opulenten Werke von Arnold Bax, Wilhelm Berger, Florent Schmitt und Wilhelm Furtwängler einreiht. Korrespondierend greift die Klanglichkeit von Tanejews Stück immer wieder in eine großformatige orchestrale Manier aus, wie sie in den sich nicht selten an die Grenze zum Klavierkonzert vorschiebenden Gattungsbeiträgen nicht unüblich ist. Doch Monumentalität meint im Zusammenhang mit Tanejews Arbeit vor allem die Extreme: Leises steht hier neben Lautem, Zartes neben Brachialem, Einfaches neben Komplexem, Kammermusikalisches neben Konzertant-Orchestralem, kontrapunktisch differenzierter Satz neben solchem, in dem die fünf Instrument vollständig zu einer Einheit verschmelzen. All dies vollzieht sich dabei nicht selten in unmittelbarem Kontrast zueinander, bisweilen gar unvermittelt. Gerade im dritten Satz, dem Largo, tritt dies Eigenart deutlich hervor: Dieser Werkteil wird mit einem einstimmigen Unisono aller Instrumente im Fortissimo eröffnet, das als Ostinatothema im Bass weite Strecken dieses Variationensatzes prägt und mitunter in seiner Behandlung fast grobe Züge annimmt. Umso stärker wirken jedoch die Gegensätze, welche namentlich die lyrischen Partien des Soloklaviers ausmachen. Am deutlichsten tritt diese Spezifik des Denkens in Extremen aber vielleicht im Finale zwischen Ziffer 223 und 226 hervor, wenn Tanejew auf kurzem Raum eine lang vorbereitete große konzertante Geste samt vollgriffiger Akkordsprünge des Klaviers in wenig Takten über einen fast schon impressionistischen, von Trillern durchzogenen Streichersatz überführt in jene Passage, welche die lyrische Variante desjenigen Themas bereithält, welches in unterschiedlichsten Gestalten quasi als Idée fixe bereits vielfach zuvor angeklungen war, beginnend im Rahmen des Seitenthemas des ersten Satzes Allegro Patetico ab Ziffer 21. Dies ist nur ein Beispiel für viele thematische und motivische Ideen, die immer wieder aufgegriffen und schließlich im Finale zusammengeführt werden, um das Werk in seinen enormen Dimensionen zusammenhalten. Ein anderes ist die Referenz im lyrischen Mittelteil des Scherzos, der u.a. auf eben jenes Seitenthema des ersten Satzes zurückweist. Während dieser unüberhörbar den langjährigen intensiven Austausch mit Tschaikowsky verrät, stehen namentlich die licht gesetzten, bisweilen rasanten Seitenteile des Scherzos ungleich näher zu vergleichbaren Sätzen bei Mendelssohn und Dvořák.

Tanejews op. 30 ist ein zerklüftetes, ungemein abwechslungsreiches Meisterwerk der Gattung weit abseits aller Kuschel-Klassik-Beschaulichkeit und es überrascht daher nicht, dass sich zahlreiche Einspielungen am Markt finden mit so namhaften Künstlern wie Martha Argerich oder Mikhail Pletnev.

Frédéric Döhl, 2013

Sergey Ivanovich Taneyev

(b. Vladimir-na-Klyaz’me, 25 November 1856 – d. Dyud’kovo nr. Moscow, 19 June 1915)

Piano Quintet in G minor, op. 30

(1911)

Preface

Sergey Taneyev is one of those figures who haunt histories of music and are accorded universal musical authority for their prowess in theory, teaching, and composition, but whose music is virtually nonexistent, even to lovers of classical music. He is most often associated with the name of Peter Tchaikovsky, who became his composition teacher at Moscow Conservatory in 1869. Having studied piano simultaneously with Nikolai Langer and Nikolai Rubinstein and attained an outstanding proficiency, he gave the Moscow première of Tchaikovsky’s legendary First Piano Concerto (op. 23) under Rubinstein’s baton on 3 December 1875, shortly after Hans von Bülow had played its world première in Boston on 25 October during a world tour. At that time Taneyev had just graduated from the Conservatory with highest honors in composition and performance and had already formed a close friendship with his teacher Tchaikovsky, despite the sixteen years’ difference in their ages. That this quickly became a friendship among equals can be seen in the invariably frank criticism they gave of each other’s new works.

In 1878 Taneyev followed in his teacher’s footsteps by taking over Tchaikovsky’s harmony and orchestration classes at the Conservatory. He gradually added the piano and composition classes until, in 1885, he became the director of this renowned institution. At this time he was not even thirty years old. In between he made trips to Western Europe and several tours of Russia, including one with the violinist Leopold Auer, who would likewise become a sterling teacher. Unsurprisingly, these strenuous tasks took their toll on the young man’s strength. As he also suffered severe doubts about his abilities as a composer, his catalogue of works grew hesitantly at first, despite all the brilliance and the authority conferred upon him by Tchaikovsky or his final awards at the Conservatory (Taneyev was the first student to receive a gold medal in composition from Moscow Conservatory, whose teaching staff at that time could boast of artists of the stature of Tchaikovsky and Rubinstein). In 1889, despite universal accolades of success, he resigned as head of the Conservatory to devote more time to composition. His counterpoint class, which he retained in Moscow after 1889, became an elite training center or even a pilgrimage site for the leading Russian composers of the next generation, and a major counterpart to Nikolai Rimsky-Korsakov’s class at St. Petersburg Conservatory. Among his pupils were Alexander Skryabin, Sergey Rakhmaninov, Nikolai Medtner, Paul Juon, Sergey Lyapunov, and Reinhold Glière. Despite his aesthetic preferences, which were considered conservative by the standards of his day, Taneyev’s teaching was marked by a highly liberal spirit. Much like his contemporary Gabriel Fauré at the Paris Conservatoire, he was noted for his ability to respond to and promote the artistic personalities of his students rather than turning them into replicas of himself.

Taneyev’s treatise on counterpoint, completed in 1906 and published in Russian in 1909, bears witness to his lifelong passion for the subject he taught. It thus comes as no surprise to discover that counterpoint is omnipresent in his Piano Quintet (op. 30). Written in 1910-11 and published in 1912, it is one of the last works he completed and his only contribution to a genre in which, unlike the string quartet, few composers wrote more than one work, much less entire series. In this respect Taneyev’s chamber music, which centers on the string quartet, is no exception. Composers such as Luigi Boccherini (twelve quintets), Lorenzo Perosi (five), Charles Henri René de Boisdeffre (three plus a Piano Sextet with ad libitum double bass), Salomon Jadassohn, Bohuslav Martinů, Julius Röntgen, and Johann Baptist Vanhal (three each) stand out in the history of the genre as hyper-productive rarities. Far more common are those composers who left behind two piano quintets: Grażyna Bacewicz, Franz Berwald, Ernest Bloch, Mario Castelnuovo-Tedesco, Ernő Dohnányi, Antonín Dvořák, Gabriel Fauré, Louise Farrenc, Friedrich Gernsheim, Karl Goldmark, Paul Juon, Erich Wolfgang Korngold, Franz Lachner, Max Reger, Peter Schickele, Giovanni Sgambati, Kaikhosru Sorabji, Ludwig Thuille, Yitzhak Yedid, Charles-Marie Widor, and Charles Wuorinen. Considering the roughly one-thousand works for string quartet and piano that have become reasonably accessible and officially catalogued since the late eighteenth century, it is undeniable that the solitary work is the standard case, particularly in the Russian tradition: we need only mention those by Alexander Borodin (C minor, 1862), Anton Rubinstein (G minor, op. 99, 1876), Anton Arensky (D major, op. 51, 1900), Georgy Catoire (op. 28, 1914; Catoire is incidentally the dedicatee of Taneyev’s op. 30), Alexander Tcherepnin (op. 44, 1927), Dmitri Shostakovich (G minor, op. 57, 1940), Mieczysław Weinberg (F minor, op. 18, 1944), Nikolai Medtner (C major, op. post., 1949), Sofia Gubaidulina (1957), Boris Tchaikovsky (1962), and Alfred Schnittke (1972–76).

In length alone, Taneyev’s op. 30 is a monumental example of its genre. It lasts a good three-quarters of an hour in performance and requires more than just stamina from the players. In this sense it shares the stage with similarly capacious works by Arnold Bax, Wilhelm Berger, Florent Schmitt, and Wilhelm Furtwängler. Accordingly, it slips time and again into a grandiose orchestral style, as often happens in those quintets that verge on the borders of the piano concerto. In Taneyev’s case the monumentality applies especially to the extremes: soft vs. loud, fragile vs. violent, simple vs. complex, chamber vs. orchestral writing, contrapuntal intricacy vs. passages in which the five instruments blend completely into a unity. All of this frequently takes place in sharp and at time even unexpected contrast. This feature is especially evident in the third movement (Largo). It opens with all five instruments playing a fortissimo unison melody that dominates large stretches of this set of variations as a bass ostinato, at times even taking on almost abrasive traits. This all the more sharply highlights the antitheses provided above all by lyrical passages from the piano. But perhaps the clearest expression of this extremist mentality is found between rehearsal nos. 223 and 226 of the finale. Here a well-prepared grand concertante gesture with massive chordal leaps in the piano is followed by a concise, almost impressionist passage of trilled strings leading to a lyrical variant of the theme. By this time the theme has resounded in a wide variety of forms almost as an idée fixe, beginning with the second theme of the opening movement (Allegro Patetico, rehearsal no. 21 ff.). This is only one example of many thematic and motivic ideas that recur over and over again and are finally combined in the finale, imparting coherence to a work of enormous dimensions. Another example is the reference in the lyrical central section of the Scherzo, which harkens back to that same second theme from the opening movement. If this reference unmistakably betrays Taneyev’s many years of close exchanges with Tchaikovsky, the lightly scored and sometimes madcap outside sections of the Scherzo are much closer to similar movements by Mendelssohn and Dvořák.

Taneyev’s op. 30 is an uncommonly varied and jagged masterpiece of its genre, far removed from the coziness of the light classics. It comes as no surprise to learn that it is available in many commercial recordings by such authoritative artists as Martha Argerich or Mikhail Pletnev.

Translation: Bradford Robinson